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Heimarbeit. Der ehemalige Lehrer Lothar Czoßek, 86, hat die Geschichte des KZ-Außenlagers Tröglitz/Rehmsdorf dokumentiert.

© Andreas Staedtler

Die KZ-Vergangenheit von Tröglitz: Das verdrängte Lager

Sie haben ihn beschimpft und bedroht – schon lange vor dem Brandanschlag auf das geplante Flüchtlingsheim in Tröglitz. Denn Lothar Czoßek will daran erinnern, dass hier einst Tausende im KZ starben. Viele andere wollen das vergessen. Oder vergessen machen.

Lothar Czoßeks Leben ist in Aufruhr. Am vergangenen Montag besuchten ihn mehrere KZ-Überlebende, die zum 70. Jahrestag der Befreiung Buchenwalds in Deutschland waren. Für Dienstag hatte sich die „Washington Post“ zum Interview angekündigt. Czoßek, Brille im Gesicht und gesundheitlich angeschlagen, spricht dieser Tage mit der Welt. Er ist 86, gelernter Kupferschmied und pensionierter Lehrer. Aber ehrenamtlich leitet Czoßek einen Gedenkort an den Holocaust. Im letzten Kriegsjahr befand sich in seiner Nachbarschaft ein Konzentrationslager, das sich auf mehrere Dörfer ausdehnte.

Täglich sah er als Jugendlicher die aus Auschwitz deportierten ungarischen Juden. In seinem Heimatdorf Rehmsdorf konnte Czoßek eine Ausstellung im Bürgerhaus einrichten. Im nicht mal drei Kilometer entfernten Nachbardorf erinnert kaum etwas an das KZ und seine tausenden Toten. Dieser Ort heißt, und das ist der Grund, warum bei Czoßek seit Tagen das Telefon nicht mehr stillsteht: Tröglitz.

Jenes Tröglitz, das in die Schlagzeilen geriet, nachdem die Einwohner wochenlang gegen ein Flüchtlingsheim demonstrierten, bis Bürgermeister Markus Nierth im März sein Amt niedergelegte. Jenes Tröglitz, an dem am Osterwochenende ein geplantes Flüchtlingsheim ausbrannte und nur durch Glück niemand verletzt wurde. Seit Donnerstag gibt es mit Thomas Körner zwar einen neuen Bürgermeister, die Brandstifter aber sind noch immer nicht gefasst.

Hier entfaltet sich eine "moralische Katastrophe"

Beim Blick auf die jüngste Vergangenheit entfaltet sich die „moralische Katastrophe“, wie Czoßek sagt, die sich im „südlichen Sachsen-Anhalt dieser Wochen abspielte“. Vielleicht eskalierte der Streit um die Asylbewerber auch deshalb in Tröglitz, weil ein Vergangenheitskonflikt jahrelang vor sich hin gären konnte? Ausgerechnet in Tröglitz wird die Flüchtlingsdebatte von der deutschen Zeitgeschichte eingeholt.

Unweit von Czoßeks Ausstellung, an der „Straße der Opfer“, liegt ein Wohnviertel mit Seltenheitswert. Die SS hatte das Häftlingslager in Rehmsdorf nicht zerstört, sämtliche KZ-Baracken blieben erhalten. Flüchtlingsfamilien bauten sie nach 1945 zu Autogaragen oder einstöckigen Familienhäusern um und legten Rasen und bunte Beete an. So stehen Gartenzwerge dort, wo einstmals Häftlinge ermordet wurden.

Zu DDR-Zeiten wohnte Czoßek selbst in der ehemaligen Baracke des KZ-Kommandanten. Der SS-Mann hatte hier einen Musiker, einen jüdischen Häftling, ermordet. Jetzt lebt ein ostdeutscher Countrysänger in der Kommandantur. Manfred Kriegel, großgewachsen, 68, mit einer tiefen Stimme, die an Joe Cocker erinnert. Kriegel hatte als junger Mann versucht, aus der DDR zu fliehen. Monatelang wurde der Landwirtschaftstechniker in einer Einzelzelle des „Roten Ochsen“ in Halle/Saale eingesperrt. Sein Leben hat er in zwei Büchern aufgeschrieben. „Haftbefehl“ heißt eines davon.

Kriegel ist in Tröglitz zur Schule gegangen, vom KZ in seinem Heimatdorf erfuhr er nichts. Die SED-Diktatur begann erst kurz vor ihrem Zusammenbruch den Holocaust „aufzuarbeiten“. Der bescheidene Gedenkstein in der Nähe des Rehmsdorfer Bahnhofs war noch vor wenigen Jahren zugewachsen. „Wir Ostdeutschen kommen mit unserer Vergangenheit noch nicht klar“, sagt der Ex-Stasi-Häftling in der ehemaligen KZ-Kommandantur. „Wir sind überfordert.“

Ort mit Vergangenheit: Wie Tröglitz entstand

Heimarbeit. Der ehemalige Lehrer Lothar Czoßek, 86, hat die Geschichte des KZ-Außenlagers Tröglitz/Rehmsdorf dokumentiert.
Heimarbeit. Der ehemalige Lehrer Lothar Czoßek, 86, hat die Geschichte des KZ-Außenlagers Tröglitz/Rehmsdorf dokumentiert.

© Andreas Staedtler

Das KZ Tröglitz/Rehmsdorf gehörte zu den brutalsten Tatorten des Holocaust in Sachsen-Anhalt. Die Häftlingszahlen, die Historiker aus SS-Dokumenten bislang zusammenstellten, variieren zwischen 6641 und 8572 Menschen. Mehr als 5000 jüdische KZ-Häftlinge starben in Tröglitz/Rehmsdorf oder wurden als „arbeitsunfähig“ in die Gaskammern von Auschwitz geschickt. Bis heute fehlt eine umfassende wissenschaftliche Erforschung, die das Leben und Sterben der Häftlinge, die Gewaltexzesse der Wehrmachtssoldaten sowie das Verhalten der Dorfbevölkerung in den Blick nimmt. Czoßek spricht von einem „erschreckenden Unwissen“, über das, was im Lager passiert ist. „Und das Fatale daran ist, dass die Rechtsextremen diesem Unwissen ihren Erfolg verdanken“.

Das Land lässt die Kommune und den Landkreis mit dem schweren Erbe weitgehend allein. Noch kein sachsen-anhaltinischer Ministerpräsident ist zu einer der jährlichen Gedenkveranstaltungen im Dorf erschienen. Aus Tröglitz kommen meist nicht mehr als ein Dutzend Besucher. Czoßek erhielt Drohbriefe, in einem stand: „Fünf Millionen Deutsche sind durch den jüdisch-bolschewistischen Terror umgekommen, kümmer dich mal lieber um die als um die Juden.“ Als es mit den Protesten gegen das Flüchtlingsheim losging, ahnte Czoßek Schlimmes. „Wir sind Freiwild für die.“

Die Dorfgemeinschaft ist gespalten: Einige fordern einen Schlussstrich, andere eine KZ-Gedenkstätte. Manfred Kriegel hatte dafür im Lagerviertel eine Unterschriftensammlung initiiert. Er ist überzeugt, dass Tröglitz aufgrund seiner Geschichte eine besondere Verantwortung für Flüchtlinge trägt. „Wir sollten einfach mal in uns gehen.“

Tröglitz wurde am Reißbrett entworfen

Tröglitz war eine Schöpfung der Nationalsozialisten. 1937 wurde es am Reißbrett entworfen, um den Krieg vorzubereiten. Das Dorf entstand als Arbeitersiedlung für den NS-Musterbetrieb Braunkohle-Benzin AG (kurz: Brabag). Hier wurde in einem von der IG-Farben entwickelten Syntheseverfahren Braunkohle in Treibstoff umgewandelt, welcher der Kriegswirtschaft, Kriegsplanung und Kriegsführung zugute kam. Den Erfindern wird auf den Tröglitzer Straßen bis heute öffentliche Anerkennung gezollt: Dr.-Bergius-Straße, Dr.-Fischer-Straße, Dr.-Pier-Straße. Für Werksarbeiter wurde Ende der 30er Jahre auch jenes Wohnhaus gebaut, dessen Dachstuhl am Osterwochenende abbrannte.

„Im Mai 1944 wurde das Hydrierwerk in Tröglitz und auch seine Umgebung von den Alliierten bombardiert“, erzählt Czoßek. Der Unternehmensvorstand forderte schon seit Monaten KZ-Gefangene, die ihm die SS nun für den „Wiederaufbau“ genehmigte. Das KZ wuchs zu einem krakenartigen Lagerkomplex, der sich auf drei Gemeinden erstreckte. In Tröglitz zwängte die SS von Juni bis Ende 1944 tausende KZ-Häftlinge in ein als Zeltlager improvisiertes KZ, bevor in der Silvesternacht 1944/45 die Überlebenden in das Barackenlager aus Stein nach Rehmsdorf gebracht wurden. Die Bevölkerung nannte es das „Judenlager“. Einer der Häftlinge war ein 15-jähriger ungarisch-jüdischer Junge, der die Selektion in Auschwitz überlebte und nach dem Holocaust zu einem der anerkanntesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts avancierte: Imre Kertesz.

Tröglitz hätte Kertesz beinahe umgebracht. Doch er kehrte nach Ungarn zurück. Als Czoßek in Rehmsdorf in der Baracke des Lagerkommandanten lebte, begann Kertesz, ein damals noch unbekannter Schriftsteller, in einer Einzimmerwohnung in Budapest an seinem „Roman eines Schicksalslosen“ zu arbeiten. Seitenlang schrieb er über den Holocaust in Sachsen-Anhalt. So ging Tröglitz in die Weltliteratur ein. 2002 erhielt er den Literaturnobelpreis. Kertesz und Czoßek sind nahezu gleich alt, Ende der 90er Jahre trafen sie sich einmal in Rehmsdorf. Von der Begegnung ließ Czoßek ein Foto in seiner Broschüre „Vernichtung – Auftrag – Vollendung“ abdrucken: Zwei ältere Männer trinken Bier.

Kertesz kam ins „Zeltlager“ nach Tröglitz, weil sein Nachname mit dem Buchstaben K begann. In Buchenwald selektierte die SS nach der „Laune der Namen“. Bis zum Buchstaben L wurden die Namensträger nach Tröglitz deportiert, ab dem Buchstaben M kamen sie in ein anderes „Außenlager“, wie die SS-Verwaltung diese kleineren Konzentrationslager intern nannte. Der Begriff wird bis heute missgedeutet. Denn die Gewaltexzesse, die sich in solchen vor allem von Wehrmachtssoldaten bewachten KZ-„Baukommandos“ abspielten, standen der Brutalität der bekannteren Hauptlager in nichts nach. Bis in die Gegenwart ist die falsche Wahrnehmung verbreitet, dass sich die Stätten des Grauens ausschließlich in abgelegenen Lagern im Reichsgebiet oder in Osteuropa befanden – weit entfernt von den Augen, Ohren und Handlungsmöglichkeiten der Bevölkerung.

Die Gewalt gehörte zum Alltag

Die Gewalt auf den Straßen, im Treibstoffwerk und den Baustellen in den umliegenden Dörfern gehörten zum Alltag der Bevölkerung. In Tröglitz entschieden auch Bürger der Gemeinde – Ingenieure, Werksärzte oder Kantinenmitarbeiter der Brabag – über Leben und Tod der Häftlinge. Die schwere bis tödliche Räum- und Bauarbeit, Mangelernährung, fehlende medizinische Versorgung und schlechte Bekleidung verwandelte die KZ-Haft in Tröglitz in eine schleichende Hinrichtung. Die Todesrate war so hoch, dass der SS-Lagerarzt in Buchenwald das Unternehmen zu besseren Arbeitsbedingungen aufforderte. Die Häftlinge sollten länger ausgebeutet werden können. Wenn Gefangene auf dem Brabag-Betriebsgelände qualvoll starben, wurden sie häufig auch im Tode noch auf menschenverachtende Weise zusammen mit dem Bauschutt weggeschafft. Hunderte ließ die SS in den Krematorien der Umgebung, in Gera, Altenburg und Weißenfels, einäschern. In Tröglitz/Rehmsdorf fanden mehrere Todesselektionen statt. Allein in den letzten Kriegsmonaten wurden hier mehr als tausend Häftlinge ausgesondert, um in Buchenwald umgebracht zu werden oder in Bergen-Belsen zu verhungern. „Es sind untermenschliche Geschichten“, formuliert Kertesz.

Wie das KZ auf den Lehrplan kommen soll

Heimarbeit. Der ehemalige Lehrer Lothar Czoßek, 86, hat die Geschichte des KZ-Außenlagers Tröglitz/Rehmsdorf dokumentiert.
Heimarbeit. Der ehemalige Lehrer Lothar Czoßek, 86, hat die Geschichte des KZ-Außenlagers Tröglitz/Rehmsdorf dokumentiert.

© Andreas Staedtler

Und jetzt? Nimmt die politische Bildungsarbeit in Sachsen-Anhalt die Flüchtlingsdebatte zum Anlass, ihr Engagement zu stärken? Als bei Kai Langer, Direktor der Gedenkstättenstiftung des Landes Sachsen-Anhalt, das Telefon klingelt, ist er zunächst perplex: „Tröglitz/Rehmsdorf? Dazu kann ich gar nichts sagen. Sie sind hier bei der Gedenkstättenstiftung gelandet!“ Die Einrichtung in Magdeburg gehört zu den kleinsten Gedenkstättenstiftungen Deutschlands und sieht sich nur für die sechs landeseigenen Gedenkstätten zuständig. „Wenn wir jeden Unrechtsort mitaufnehmen müssten, wäre das eine Überdehnung.“ Dem Ort fehle das „Alleinstellungsmerkmal“. Nach dem Brandanschlag diskutiert nun die Landeszentrale, Kertesz’ „Roman eines Schicksalslosen“ in ihr Bildungsprogramm aufzunehmen.

Der SPD-Landtagsabgeordnete, Rüdiger Erben, vormals Staatssekretär im Innenministerium, gehört zu den wichtigsten Unterstützern der Gedenkstätte. Er fordert ein „stärkeres Engagement des Landes für Tröglitz/Rehmsdorf“. Erstmals vor sieben Jahren hörte er von dem KZ. „Damals kam zu den ehrenamtlich organisierten Gedenkveranstaltungen nur eine kleine Gruppe Aufrechter rund um Lothar Czoßek.“ Czoßeks Erinnerungsarbeit wird fast ausschließlich vom Landkreis und aus privaten Mitteln finanziert. Die Landeszentrale für politische Bildung sponsort Druckkosten und übernimmt Fahrtkosten für Schülerbesuche. Heute hat die Gemeinde Elsteraue, zu der Rehmsdorf gehört, zwei Baracken angekauft, um sie zu erhalten. „Gedenkstättenbesuche müssen zum Pflichtprogramm jeder Schule gehören“, sagt Erben.

In den Schulen ist der Ort kaum bekannt

In Halle und Leipzig, etwa 45 Autominuten von Tröglitz entfernt, ist in den Schulen der Ort kaum bekannt. Das nächste KZ sei Buchenwald gewesen, wird den Schülern im Unterricht gelehrt. „Mehr landespolitische Unterstützung und Aufklärung ist notwendig“, sagt die Nachwuchshistorikerin Ricarda Milke vom Verein Miteinander. „Nur so kann die große schweigende Mitte erreicht werden.“ Ein Aktionsfond müsse von Land und Bund entwickelt werden, aus welchem Bürgerinitiativen wie jene von Lothar Czoßek sich finanzieren können. „Jene, die sich engagieren, bedürfen des konkreten Schutzes und nachhaltiger Unterstützung von Staat und Zivilgesellschaft.“

Eine nach Imre Kertesz benannte Straße sucht man in Tröglitz bis heute vergeblich. Selbst auf der Webseite der Gemeindeverwaltung fehlt ein Hinweis auf den Holocaust. Dessen ungeachtet bekommt der Ort auch unangekündigt Besuch aus dem Ausland. Überlebende und ihre Angehörigen reisen zum Totengedenken an. Als Manfred Kriegel einmal die Straße fegte, sprach ihn ein hochbetagter Israeli auf Deutsch an. Kriegel lud den Fremden in sein Wohnzimmer ein. „Er saß auf meiner Couch, in der einstigen SS-Baracke. Wir tranken Kaffee. Er weinte und weinte und weinte.“

Lothar Czoßek wartet bis heute darauf, dass Ministerpräsident Haseloff einmal seine Erinnerungsstätte besucht. Der Brand, sagt Czoßek, sei schrecklich, aber auch eine Chance. „Hoffentlich kommen wir zur Besinnung.“

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

Tobias Bütow

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