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Entladung. Viele Kurden werfen der türkischen Regierung vor, nicht genug gegen die IS-Miliz in Syrien zu unternehmen, obwohl Panzerverbände an der Grenze stehen.

© Ozan Kose/AFP

Die Schlacht um Kobane und die Folgen: Ausweitung der Kampfzone

Mehr als 20 Tote gibt es bereits. Täglich kommt es zu Schlachten auf den Straßen der Türkei. Angesichts der Belagerung von Kobane warnen Beobachter vor einem „allumfassenden Krieg“ zwischen Kurden und der Terrormiliz IS. Einem Krieg, der Wunden reißt – auch in Deutschland.

Mahmut Cakan reibt sich die rechte Schulter. Da, wo ihn der Schlagstock des Polizisten traf. Cakan, 43, Kurdenaktivist im Istanbuler Arbeiterviertel Esenyurt, hat zwei Nächte voller Gewalt hinter sich. Er hat gesehen, wie sich Kurden und Türken mit Schusswaffen und Messern bekämpften, wie Autos in Flammen vernichtet wurden – und die Hoffnung auf Frieden in der Türkei gleich mit.

Als Bezirkschef der Kurdenpartei BDP trifft sich Cakan am Morgen nach der zweiten Gewaltnacht mit seinen Mitstreitern im Esenyurter Parteibüro. In einer Ecke des Versammlungssaals hängt ein überlebensgroßes Porträt von Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Chef der PKK-Kurdenrebellen. Im Fernsehen läuft der PKK-nahe Sender Sterk TV. Ein Plakat im Treppenhaus ruft zur Solidarität mit Rojava auf, dem kurdischen Autonomiegebiet in Nordsyrien, zu dem auch die umkämpfte Stadt Kobane gehört.

„Überall ist Kobane, überall im Widerstand“, verkündet ein Laufband bei Sterk TV. Seit Tagen wird die Türkei von Kurdenunruhen erschüttert. Der Friedensschluss zwischen der PKK und dem türkischen Staat, der eben noch greifbar erschien, ist in weite Ferne gerückt.

Vier Kurden wurden von einem Polizeiauto überrollt

Cakan und seine Leute holen sich Tee und ziehen eine Bilanz der vorangegangenen Nacht. Vier Kurden wurden in Esenyurt von einem Polizeifahrzeug überrollt und verletzt, mindestens sechs weitere durch Schuss- und Stichwaffen verwundet. Etliche wurden festgenommen. Auf den Straßen brannten bei den Straßenschlachten Baumaschinen und Autos ab. Fensterscheiben an vielen Geschäften gingen zu Bruch, eine Statue des Staatsgründers Atatürk wurde zerstört.

Die Untätigkeit der türkischen Regierung angesichts der Belagerung von Kobane durch den „Islamischen Staat“ (IS) hat Kurden in der ganzen Türkei auf die Straße getrieben. In Esenyurt sammelte Cakan am Dienstag die Anhänger seiner Partei um sich, um auf einem Platz in der Nähe des Parteibüros eine Presseerklärung zu verlesen. Doch er kam nicht weit: „Nationalisten und die Polizei haben uns gleich attackiert.“ Nach offizieller türkischer Darstellung ging die Gewalt von den Kurden aus. Stundenlang tobte die Schlacht auf den Straßen von Esenyurt.

Und nicht nur von Esenyurt. Auch in Deutschland kam es in den vergangenen Tagen zu Ausschreitungen. In Hamburg liefern sich seit Montagabend Kurden und Salafisten Straßenschlachten. Am Mittwoch wurden im Anschluss an eine Demonstration Waffen sichergestellt und mehrere Personen festgenommen. In Celle prügelten am Dienstag mehrere hundert jesidische Kurden und tschetschenische Muslime auf der Straße aufeinander ein. Andere Demonstrationen blieben friedlich. Am Mittwochabend besetzten rund 70 Kurden ein Gleis auf dem Dortmunder Hauptbahnhof. Doch während in der Türkei die Lage eskalierte, räumten die Demonstranten das Gleis nach einer Stunde freiwillig.

Warum Kobane für die Kurden so wichtig ist

Entladung. Viele Kurden werfen der türkischen Regierung vor, nicht genug gegen die IS-Miliz in Syrien zu unternehmen, obwohl Panzerverbände an der Grenze stehen.
Entladung. Viele Kurden werfen der türkischen Regierung vor, nicht genug gegen die IS-Miliz in Syrien zu unternehmen, obwohl Panzerverbände an der Grenze stehen.

© Ozan Kose/AFP

In Istanbul sagt Mahmut Cakan, er habe neue Tumulte verhindern und Kurden und Türken trennen wollen, doch die Polizei habe zugeschlagen. Die setze in Esenyurt inzwischen scharfe Munition ein, sagt ein Kurde im Parteibüro. Wasserwerfer, Tränengas, gepanzerte Fahrzeuge und Hubschrauber gehören ohnehin zu den Polizeieinsätzen.

Draußen in den Straßen um das BDP-Büro hat nicht jeder Verständnis für den Kurdenaufstand. Wo Cakan Widerstand sieht, sehen seine türkischen Mitbürger nur Zerstörungswut. „Alles haben die in Stücke gehauen, schauen Sie sich doch um“, ruft der Schuhputzer Mehmet entrüstet. Er hat seinen Kasten mit Putzmitteln und die Hocker für seine Kunden vor den eingeschlagenen Scheiben eines Motorradgeschäfts aufgestellt. Bei den Straßenschlachten sollen auch Geschäfte geplündert worden sein. „Was hat denn der Besitzer von einem kleinen Krämerladen mit Kobane zu tun?“, schimpft ein Passant. Auch Präsident Recep Tayyip Erdogan im fernen Ankara erklärt, der Kampf um Kobane werde als Vorwand für Vandalismus benutzt.

Mehr als 20 Menschen sind schon ums Leben gekommen

Insgesamt kamen bei den Kobane-Unruhen in der Türkei diese Woche 22 Menschen ums Leben. Die meisten wurden erschossen, vier sollen gelyncht worden sein, drei verbrannten.

Kobane ist zu einem Symbol geworden. Im BDP-Büro von Esenyurt wird für die Stadt gesammelt, Pakete mit Babywindeln und Keksen, Säcke mit Bulgur stapeln sich in einem Zimmer. „Kobane ist sehr wichtig für uns“, sagt Cakan. Die türkische Regierung sehe beim Angriff des IS auf Kobane untätig zu, weil sie die Rojava-Autonomie zerschlagen wolle. „Wenn Kobane fällt, dann heißt das, dass auch wir Kurden in der Türkei keine Chance mehr haben.“

Cakans Biografie zeigt, warum viele Kurden so denken. Als junger Mann musste er mit seiner Familie das Heimatdorf im ostanatolischen Mus verlassen. Damals, in den frühen 1990er Jahren, ging der türkische Staat unbarmherzig, teils mit illegalen Hinrichtungen und der Zerstörung ganzer Ortschaften, gegen mutmaßliche PKK-Anhänger vor.

Seine Familie fand ein neues Zuhause in Istanbul, doch Cakan geriet bald in den Verdacht der PKK-Mitgliedschaft und verbrachte zwischen 1995 und 2012 insgesamt zwölf Jahre im Gefängnis. „Ich hatte nicht einmal Zeit, eine Familie zu gründen“, sagt er. Tiefe Furchen durchziehen sein Gesicht. Die Jahre im Gefängnis haben ihn vorzeitig altern lassen. „Ich bin mit der Bewegung verheiratet.“

Welche Spuren der Konflikt in Deutschland hinterlässt

Entladung. Viele Kurden werfen der türkischen Regierung vor, nicht genug gegen die IS-Miliz in Syrien zu unternehmen, obwohl Panzerverbände an der Grenze stehen.
Entladung. Viele Kurden werfen der türkischen Regierung vor, nicht genug gegen die IS-Miliz in Syrien zu unternehmen, obwohl Panzerverbände an der Grenze stehen.

© Ozan Kose/AFP

Einer wie Cakan ist nicht sonderlich überrascht, dass nach einer mehr als einjährigen Phase der Ruhe wieder Gewalt zwischen Kurden und Türken ausgebrochen ist. Seit 2012 verhandelt PKK-Chef Öcalan in seiner Zelle auf der Gefängnisinsel Imrali bei Istanbul mit der türkischen Regierung über eine friedliche Beilegung des Kurdenkonflikts, der seit 1984 mehr als 40 000 Menschen das Leben gekostet hat. Erst kürzlich hatte Öcalan gesagt, der Verhandlungsprozess nähere sich seinem glücklichen Ende. Dann kam Kobane.

Jetzt sagt Öcalan, er werde die Friedensgespräche abbrechen, wenn der türkische Staat bis 15. Oktober keine konkreten Schritte unternehmen sollte. Spekuliert wird unter anderem über eine Erlaubnis Ankaras für den Transfer kurdischer Kämpfer aus anderen Teilen Syriens über die Türkei nach Kobane. Doch noch sind keine neuen Kurdenkämpfer in Kobane angekommen, und die türkischen Panzerverbände an der Grenze bei Kobane greifen nach wie vor nicht ein.

In Esenyurt und anderswo spiegelten die Straßenschlachten der vergangenen Tage zeitweise die Lage von Kobane: Kurden gegen militante Islamisten. „Konterguerrilla“ nennen die Kurden die türkische Hisbollah, die in den 1990er Jahren einen blutigen Krieg gegen PKK-Mitglieder führte und deren Mitglieder jetzt erneut zu den Waffen gegriffen haben sollen. Auch Anhänger der islamistischen Hüda-Partei, die aus der Anfang des letzten Jahrzehnts von den Behörden stark verfolgten Hisbollah hervorging, sollen in den vergangenen Tagen auf Kurden geschossen haben. Der PKK-Kenner und Kolumnist Rusen Cakir warnt bereits vor einem „allumfassenden Krieg“ zwischen der PKK und radikalen IS-Anhängern.

Im Deutsch-Kurdischen Kulturverein herrscht eine gespenstische Atmosphäre

Ein Krieg, der auch in Deutschland Wunden reißt. In dem Deutsch-Kurdischen Kulturverein in Dortmund herrscht eine gespenstische Atmosphäre. In Varto in der türkischen Provinz Mus ist bei einer Demonstration ein junger Mann erschossen worden. Der erschossene Hakan Buksur hatte Verwandtschaft in Deutschland: Onkel, Tante, Cousins und eine Schwester. Viele der Männer im Raum kämpfen mit den Tränen. Aus dem Raum der Frauen, ein Stockwerk höher, dringt ein Partisanenlied – ein tiefer, verzweifelter Gesang. Nach der Trauerfeier gehen die kurdischen Aktivisten am Abend wieder auf die Straße, 700 sind gekommen. Es bleibt friedlich.

In der Türkei sehen Regierungsgegner überall Hinweise auf die Nähe der türkischen Behörden zu gewaltbereiten Islamisten. Pressefotos eines Polizeieinsatzes bei den Unruhen dieser Woche zeigen Beamte, die mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Straßenschlacht gegen die Kurden ziehen – das Erkennungszeichen der Islamisten. Emrullah Isler, bis vor kurzem stellvertretender Ministerpräsident in Ankara, macht Schlagzeilen mit der Bemerkung, der wegen der Enthauptung und Kreuzigung von Gefangenen berüchtigte IS bringe zwar Leute um, „aber er foltert sie wenigstens nicht“.

Die türkische Polizei und die Dschihadisten arbeiten eng zusammen, sagen Kurdenpolitiker. Der IS werde von der Türkei mit Waffen ausgestattet, IS-Kämpfer würden in der Türkei trainiert.

„Die wollen uns plattmachen“, sagt Cakan. So richtig an den Frieden geglaubt hat er ohnehin nie, auch nicht, als im Frühjahr des vergangenen Jahres eine Waffenruhe ausgerufen wurde und die Kämpfe im kriegszerstörten Südostanatolien erstmals seit Jahren aufhörten. „Wir hatten ein wenig Hoffnung, weil wir Öcalan vertrauten“, sagt er. Von niemandem sonst hätten sich die Kurden sagen lassen, dass sie sich auf einen Friedensprozess mit Ankara einlassen sollten.

Jetzt ist das Vertrauen in den Verhandlungsprozess so gut wie aufgebraucht, Kobane könnte der letzte Schlag gewesen sein. Wenn Kobane fällt, dann ist Schluss mit den Friedensgesprächen, sagt Cakan. „Wir warten noch bis zum 15. Oktober“, dem von Öcalan gestellten Ultimatum. „Dann fängt der Krieg wieder an.“

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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