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Kirchenkreuz.

© dpa

Ein Ex-Nazi wird Pastor: Er hat einen Menschen getötet - jetzt ist er Pastor

Im Alter von 17 Jahren hat Johannes Kneifel einen Menschen getötet. Damals war er Neonazi. Im Gefängnis fand er dann zu Gott. Jetzt ist er Pastor im Erzgebirge. Wie geht das?

Er lag vor ihm, er blutete. Doch Johannes Kneifel konnte nicht aufhören. Er trat zu, immer wieder. Gezielt, mit den Stahlkappen seiner Stiefel. Danach war nichts mehr wie zuvor.

Jetzt steht Johannes Kneifel vorne am Altar. Drei Dutzend Frauen und Männer schauen zu ihm. Er hat den milchkaffeebraunen Anzug angezogen und ein schwarzes Hemd, hat die kurzen, rötlichen Haare mit etwas Gel gebändigt und eine modische Brille aufgesetzt. Vielleicht steht er etwas breitbeiniger da als andere und mit mehr Körperspannung. So, als müsse er sich gleich verteidigen. Aber das sehen nur die, die in diesem Moment an seine Vergangenheit denken. Alle anderen warten einfach, dass er predigt. Kneifel rückt das Mikrofon zurecht. Dann spricht er von der großen Herzlichkeit, die er in dieser Gemeinde erlebt. „Hier ist Gott zu Hause, wenn es einem gut geht, aber auch, wenn es schlecht läuft.“ Sogar er dürfe hier schwach sein. Das ist eine neue Erfahrung für ihn.

Er hat ein Menschenleben auf dem Gewissen

Johannes Kneifel ist 31 Jahre alt. Er war Neonazi. Er hat ein Menschenleben auf dem Gewissen. Er saß im Gefängnis. Heute ist er Pastor. Aber ist eine solche Wandlung überhaupt möglich? Kann ein Mensch sein altes Leben abstreifen wie die Schlange ihre Haut?

Johannes Kneifel wächst auf im niedersächsischen Eschede. Sein Vater ist fast blind, die Mutter erkrankt früh an Multiple Sklerose. Beide verlieren ihre Arbeit und können den Alltag mit drei kleinen Kindern nur mit Mühe bewältigen. Für Zuneigung und Zärtlichkeit bleibt keine Energie. Johannes Kneifel kann sich nicht erinnern, dass ihn seine Eltern in den Arm genommen haben. Oder gelobt.

Ewiger Prüfstand. Johannes Kneifel will ein guter Pastor sein. Das ist nicht immer einfach.
Ewiger Prüfstand. Johannes Kneifel will ein guter Pastor sein. Das ist nicht immer einfach.

© Claudia Keller

Er beneidet die anderen Kinder. Er fühlt sich ausgegrenzt und schämt sich bald für alles: für die behinderten Eltern, für ihre Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit, für das billige Essen zu Hause, die billigen Klamotten. Doch niemand soll von seinem Neid und seiner Hilflosigkeit erfahren. „Ich stand unter permanentem Druck. In der Schule war ich schüchtern, zu Hause wurde ich immer ungehaltener“, sagt er über die Zeit. Die Mutter weine, wenn er den Vater als Versager beschimpft. „Wenn ich meine Eltern beleidigte, schaute ich sie dabei an, um zu sehen, wie es sie traf.“ Du Krüppel!, schrie er seine Mutter einmal an. „Ich wütete, trat Türen ein.“

Mit Schnaps fühlt er sich unangreifbar

Über einen Nachbarsjungen kommt er in Kontakt mit Alkohol – und Skinheads. Mit Bier, Wein und Schnaps fühlt er sich leicht und unangreifbar. Schimpfworte wie Kanaken kommen ihm bald genauso leicht über die Lippen wie seinen Freunden. Er zieht sich Springerstiefel an und hört Musik mit menschenverachtenden Texten. Er verletzt lieber andere, als sich den eigenen Verletzungen zu stellen. Endlich hat er das Gefühl dazuzugehören.

Seit einem halben Jahr ist Johannes Kneifel nun Pfarrer im Erzgebirge. Die Elim-Gemeinde in Wilkau-Haßlau in der Nähe von Zwickau ist seine erste eigene Gemeinde. Sie ist freikirchlich und steht den Baptisten nahe. Der Altar, ein modern gearbeiteter Holztisch, ist mit hellblauem Tüll und hellblauen Kerzen verziert. Darüber hängt ein schlichtes Holzkreuz, kein Kruzifix. Hier geht es um Jesu Auferstehung, nicht so sehr um sein Leiden am Kreuz. Der graue Teppichboden und die hellen Möbel erinnern an ein Nebenzimmer in einem Tagungshotel. Vielleicht auch, weil die Gemeindemitglieder an gedeckten Tischen sitzen.

Heute ist „Brunch-Gottesdienst“. Viele haben etwas zu essen mitgebracht. Nichts Extravagantes, aber von allem reichlich: hart gekochte Eier, Wurstsalat, Käse, Obstsalat. Viele Gemeindemitglieder sind über 70 und haben keine großen Renten, einige Jüngere sind arbeitslos.

Kneifel zitiert einen Klassiker: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es Frucht. Es geht um seine Themen: um Tod, Schuld und Sühne. Das Weizenkorn stehe für Jesus, sagt Kneifel. Er sei gestorben, um die Menschen von ihrer Schuld zu befreien. Ohne Jesus, ohne Weizen und Brot würden sie an diesem Sonntag auch nicht so beisammensitzen. Kneifels Sätze greifen noch nicht ineinander wie bei einem erfahrenen Prediger. Er wirkt fast schüchtern, wenn er spricht, frei und ohne Manuskript. Einige ältere Frauen nicken ihm ermutigend zu. Er könnte ihr Sohn sein oder ihr Enkel.

Kneifel hat ein Buch über sein Leben geschrieben

Um seine Vergangenheit wird kein Geheimnis gemacht. Kneifel hat ein Buch über sein Leben geschrieben. Es liegt auf dem Büchertisch neben dem Gemeindebrief. Viele haben es gelesen und wissen, wie sich ihr Pastor als 16-Jähriger fühlt bei den Neonazis. Wie er von türkischen Jugendlichen verprügelt wird und lernt, selbst zuzuschlagen. Wie er sich einen Panzer aus Gefühllosigkeit, Aggression und rechtsradikaler Verbohrtheit umlegt.

Viele wissen auch, dass er einen Mann halb tot geprügelt hat, am 8. August 1999. Kneifel und seine Kumpel hatten den 46-jährigen Peter Deutschmann zum Feind erklärt, weil er versuchte, sie zum Ausstieg aus der Szene zu überreden. Sie nannten ihn „den Hippie“.

Im seinem Buch berichtet Kneifel so über die Tat: „Johannes K. reicht es jetzt. Wut und Aggression sind ins Unerträgliche gewachsen. Ohne ein weiteres Wort verpasst er dem Hippie einen Faustschlag ins Gesicht. Die Wucht des Schlages wirft Peter D. zurück; er prallt gegen ein Regal. Gläser fallen zu Boden und zerbrechen. Sofort folgt ein weiterer Fausthieb. Johannes K., wartet die Wirkung seiner Schläge gar nicht erst ab.“ Es ist die einzige Stelle, in der er über sich wie über einen Fremden schreibt.

Wie Kneifel zum Glauben fand

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Am nächsten Tag stirbt der Mann. Johannes Kneifel wird wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu fünf Jahren Haft verurteilt und ins Jugendgefängnis nach Hameln gebracht. Er ist 17 Jahre alt.

„Alte Stunden, alte Tage, lässt nur zögernd du zurück“, singen die Frauen und Männer jetzt mit ihrem Pastor. „Wird die neue Zeit dir passen, ist sie dir zu groß, zu klein?“ Ein Beamer wirft die Textzeilen an die Wand. Eine Frau spielt dazu Keyboard. Der Ex-Nazi und Gewalttäter als Pastor? Geht das?

„Der aus dem Buch und der heute – das sind zwei verschiedene Personen“, sagt ein Mittvierziger. „Na ja, es gab schon einige, die fanden das am Anfang nicht so toll“, sagt seine Mutter. Viele hatten auch befürchtet, dass Fernsehteams den Gottesdienst stören würden.

Im Gefängnis macht Kneifel weiter wie zuvor. Er schlägt zu, wenn ihm Mithäftlinge zu nahe kommen, misstraut allen. „Wenn du im Gefängnis Schwäche zeigst, giltst du als Opfer“, sagt er. Psychologen kapitulieren, Kneifel gilt als besonders gefährlich, weil er zu allem auch noch intelligent ist. Er macht eine Ausbildung zum Zerspanungsmechaniker – das Anspruchsvollste, was das Gefängnis zu bieten hat.

Mit den Gefängnisseelsorgern kommt er besser klar. Er hat den Eindruck, dass sie in ihm nicht nur den Neonazi und Gewaltverbrecher sehen, sondern einen Menschen, der einsam ist und mit sich kämpft. Ihnen kann er sich öffnen. Es ist das erste Mal in seinem Leben. Doch immer wieder rutscht er in alte Muster zurück, versinkt in Selbstmitleid, fühlt sich ungerecht behandelt. Er hat das Gefühl, mit allem zu scheitern.

Man solle wichtige Entscheidungen nicht aufschieben, sagt der Gefängnispfarrer an einem Sonntag im Gottesdienst. Johannes Kneifel denkt daran, wie viele Menschen er verletzt hat, gedemütigt, beleidigt. Ein Mann ist tot. Sein Leben kommt ihm vor wie eine einzige große Schäbigkeit. „Ich habe versucht, mich an meinem Stolz festzuhalten. So stolz bin ich dabei geworden, dass ich keinerlei Autorität über mir dulden konnte; nie wäre ich vor einem Menschen auf die Knie gegangen.“ Vor Gott kniet er sich jetzt freiwillig hin. Er bittet ihn, sein Leben in die Hand zu nehmen. Ein großer Schritt für einen, der niemandem traut.

Er spürt, wie ihm leichter wird. Als nehme jemand etwas unglaublich Belastendes und Schweres von ihm. Als er wieder aufsteht, fühlt er eine tiefe Freude und Frieden in sich. „Nichts von dem, was ich bisher erlebt habe, hat sich so intensiv und so gut angefühlt“, schreibt er in seinem Buch.

Er kann sein Glück kaum fassen und studiert Theologie

Schon glaubt er sich auf der Siegerseite des Lebens: Er begegnet einem Richter, der ihn früher entlässt. Er beendet seine Lehre als einer der Besten in der Region. In kürzester Zeit holt er das Abitur nach. Und er findet Anschluss in einer Baptistengemeinde. Es bleibt ihm keine Zeit, um sich einsam zu fühlen und kein Grund, in alte Gewohnheiten zurückzufallen. Er kann sein Glück nicht fassen und studiert Theologie.

Im Gottesdienst in Wilkau-Haßlau gratuliert Pastor Kneifel jetzt einer Frau zum 82. Geburtstag. Er versucht einen Scherz: „Da haben wir was gemeinsam“, sagt er. „Ich bin Jahrgang 82.“ So richtig zündet der Witz nicht. Aber einfach dazusitzen und keine Reaktion zu zeigen, wäre nicht nett. Und weil sie hier nett und freundlich zueinander sein wollen, lachen viele trotzdem. Das Leben ist schon unfreundlich genug.

Zum Beispiel zu der 50-Jährigen, die seit dem frühen Sonntagmorgen fürs Buffet geschnippelt und gebacken hat. Fürs Jobcenter ist sie eine von vielen Hartz-IV-Empfängerinnen. Hier in der Gemeinde ist sie wichtig und anerkannt. Manche hier sind einsam, seit ihre Söhne und Töchter in den Westen gegangen sind. Andere erzählen von Grubenunglücken und verstrahlten Landschaften. Früher wurden hier Erz und Uran abgebaut, ein Menschenleben zählte nicht viel. „Hätte ich Gott nicht gehabt, ohje“, sagt eine 77-Jährige.

Am Anfang dachte Johannes Kneifel, er brauche nur zu beten, schon liefe alles wie am Schnürchen. Dass es so einfach nicht ist, merkte er dann auch. Während des Theologiestudiums scheiterte die Beziehung zu seiner damaligen Freundin. Vor ein paar Monaten ging seine Ehe kaputt. „Das ist extrem schwer für mich“, sagt er. „Ich bete um Heilung und für den Bestand der Ehe, aber das trifft nicht ein.“ Es sei nicht einfach, Gott trotzdem immer als liebenden Vater zu sehen.

Die Wut bleibt: Woraus Kneifel heute Kraft schöpft

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Auch das Verhältnis zu seinen Eltern ist schwierig geblieben. Seine Mutter ist mittlerweile zu krank, um zu sprechen. Auch mit dem Vater kann Kneifel bis heute nicht über die Vergangenheit reden. Immer wieder gibt es Stunden, in denen er mit sich ringt. Man kann lernen, mit der Vergangenheit umzugehen, aber sie lässt sich nicht einfach abschütteln.

Das zu akzeptieren, fällt Johannes Kneifel nicht leicht. Denn er will so viel. Er will ein guter Pastor sein. Er will eine Familie gründen. Er will helfen, dass die Gesellschaft versteht, warum Jugendliche auf Abwege geraten und warum die Gefängnisse wenig dazu beitragen, dass sich das ändert. Deshalb hat er das Buch geschrieben, deshalb spricht er in Schulen und auf Podien über seine Geschichte. Und doch kommt auch heute manchmal noch große Wut in ihm hoch. „Anders als früher muss ich aber heute niemanden mehr hassen und will niemanden mehr vernichten“, sagt er. Dass ihm vergeben wurde, helfe ihm, auch anderen Menschen zu vergeben.

Er erzählt von dem Bundeswehrsoldaten

Nach dem Gottesdienst, draußen im Garten der Gemeinde, erzählt er von dem Afghanistan-Heimkehrer. Nach einer Veranstaltung kam ein Bundeswehrsoldat auf ihn zu. Er war mit seiner Gruppe in einen Hinterhalt geraten. Bis auf ihn und einen anderen wurden alle getötet. Er kam damit nicht klar und auch nicht damit, dass er selbst getötet hatte. Er wandte sich an Johannes Kneifel, weil der doch auch Erfahrung mit Gewalt, Schuld und Tod gemacht habe. Kneifel gab ihm seine Handynummer. Ein paar Monate später rief der Soldat an, verzweifelt. Der andere überlebende Kamerad hatte sich umgebracht. „Wenn er mich an dem Tag nicht erreicht hätte, hätte wahrscheinlich auch er Selbstmord begangen“, sagt Johannes Kneifel. Er hat ein Menschenleben gerettet, und als er das erzählt, verhaspelt er sich ein bisschen. Vielleicht, weil er sich so sehr freut. Weil er mehr als andere weiß, was das bedeutet.

Der Text erschien auf der Dritten Seite.

Claudia Keller

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