zum Hauptinhalt
Spreewald, 1941. Die Freunde Michael Gottschalk und George Will, dahinter Schwester Tilda und eine Angestellte.

© privat

Eine Familie wählt unter den Nazis den Freitod: Sein letzter Sommer

Michael Gottschalk war acht Jahre alt, als er starb. Seine Eltern nahmen ihn mit in den Freitod, um vor den Nazis in Berlin zu fliehen. Sein bester Freund schlief gleich nebenan. Er kämpft bis heute gegen das Vergessen.

Wäre damals, als er acht Jahre alt war, nicht von höchster Stelle der Befehl gekommen, über diese Sache unbedingt zu schweigen, so wäre es heute vielleicht nicht entsprechend dringend, darüber zu reden. Über die Sache, die George Will mit jeweils einem kurzen Stocken mittendrin nur „das … Ereignis“ nennt.

So aber lässt sich Hans George Will heute, ziemlich genau 75 Jahre später, mit seinen 83 Jahren in seinem cremefarbenen Wohnzimmer in einen cremefarbenen Sessel in Berlin Grunewald sinken, um sich herum ausgebreitet Fotos und inzwischen cremefarbene Dokumente, die mit seiner besonderen Jungenfreundschaft zu tun haben, die nur drei Jahre gedauert hat. Und die davon handeln, wie sich diese Freundschaft in der Gegenwart einen Platz nimmt. Wie „das ... Ereignis“ eine Form annimmt und am Ende ganz öffentlich sichtbar wird. Die Geschichte hat bislang die Form eines Gedenkgottesdienstes angenommen, einer Novelle, eines Defa-Films, einer Traueranzeige, einer Gedenktafel und nun die einer Zeitungsseite. Und jedes Mal muss George Will ausholen und erzählen.

George Will war fünf Jahre alt, da zog in das Nachbarhaus in der Villenkolonie Grunewald, Seebergsteig 2, eine Familie mit einem Jungen, der nur ein paar Tage jünger war als er selbst. Michael, der Sohn des berühmten Ufa-Schauspielers Joachim Gottschalk, brannte für elektrische Eisenbahnen, genau wie der Nachbarssohn George Will. Und weil die Gottschalks nur in einer Dachwohnung wohnten, die Wills aber den größeren Garten hatten, den Koch, den Gärtner, den Chauffeur, so war Michael schon ganz bald eigentlich immer bei George zu Hause. George holte Michael morgens vor der Schule ab und nach der Schule rannte Michael kurz nach oben zu seiner Mutter, die so bemerkenswert scheu war, dass sie selten das Haus verließ und sich ihre Einkäufe schicken ließ. Der Sohn aß etwas, besprach mit ihr die Hausaufgaben und war meist nach einer halben Stunde wieder unten bei George. „Manchmal kam er sogar nach dem Abendessen noch einmal.“

Goebbels küsst der Jüdin die Hand

Was für ein glücklicher Zuwachs. Was für eine Freundschaft. In den Sommern fuhren sie zusammen in das Jagdhaus der Familie Will nach Alt-Schadow im Spreewald, 100 Kilometer Südost, manchmal auch bloß fürs Wochenende, sie gingen schwimmen, hielten ihre Angel in die Fischteiche und stritten sich nie. Jemand schoss ein Foto, darauf ist vorne Michael zu sehen, dahinter George, dahinter die Schwester Tilda und eine Angestellte. Auf dem Foto wird Michael für immer größer aussehen als George, dabei waren sie zu dem Zeitpunkt genau gleich groß.

Michaels berühmten Vater sehen sie kaum, der Nachbar ist damit beschäftigt, „der deutsche Clark Gable“ zu sein. Joachim Gottschalk, die Karriere steil, ist nach nur sieben Filmen ein Star der Ufa, gilt aber zugleich als unprätentiös und erhofft sich durch seine größere Popularität beim Film einen besseren Schutz für sich und die zwei anderen Mitglieder seiner „Mischehe“. Er dreht und reist in seiner Welt der Kunst, die zugleich eine Kunstwelt ist. In Europa wird bis 1941 schon drei Jahre lang gestorben, aber auch gute Laune gilt bei Goebbels als kriegswichtig.

Zur Filmpremiere von „Die schwedische Nachtigall“ im April 1941 verlässt die scheue Meta Gottschalk ein einziges Mal ihre Dachkammer. Ein Fehler. In der Loge neben ihr sitzt unerwartet Joseph Goebbels, der, begeistert von ihrem Mann, zu ihr herüberkommt. Er habe, ließ Goebbels Adjutant ihn später wissen, soeben die Hand einer Jüdin geküsst.

Ein paar Tage später kommt der Brief. Goebbels fordert, dass Gottschalk sich von seiner Frau scheiden lassen soll. Frau und Sohn sollen nach Theresienstadt deportiert werden. Und als Joachim Gottschalk gar nicht daran denkt zu gehorchen, erhält er einen Einberufungsbefehl. Das sind allerdings die Details, die die Erwachsenen erst hinterher erfahren.

Am Abend des 6. November 1941sind Michael und George zum Spielen mit ihren elektrischen Eisenbahnen verabredet. Doch der Vater sagt ab. George, der am nächsten Morgen den Freund zur Schule abholen will, fällt auf, dass die Rollos unten sind. „Die Rollos waren nie unten.“ Weil Michael nicht herunterkommt, geht George allein zur Schule. Als er nach Hause zurückkehrt, werden gerade drei Särge herausgetragen, zwei große und ein kleiner. Ein Polizist – dessen große Haube steht Will noch heute vor Augen – wartet vor dem Haus und sagt abfällig: „Das waren doch nur Juden.“ So erfährt der Achtjährige, dass sein Freund nun nie mehr wiederkommen wird. Weil die Mutter aus jüdischem Hause kam.

Tot sind sie schon, jetzt sollen sie noch totgeschwiegen werden

Die Familie hatte vor ihrem Freitod versucht, alle Ritzen abzudichten, damit die Kombination aus Schlaftabletten und aufgedrehtem Gashahn in der Küche funktionieren konnte. Alles hatten sie möglichst hermetisch verschlossen. Und nach ihrem Tod schien es auch das Bestreben aller Erwachsenen zu sein: Die Ritzen abzudichten, damit von dieser Geschichte nichts nach außen dringen würde.

George geht am nächsten Tag wie immer in die Schule und meldet, dass der Michael nicht mehr kommen würde. Er sei nämlich tot. „So?“, sagt der Lehrer. So? „Viel mehr war da nicht.“

Nach der Stunde fängt ihn der Lehrer auf dem Flur ab, legt ihm die Hand auf die Schulter – „seltsam, dass man sich an solche Details noch erinnert“, – und sagt: Über das, was da geschehen sei, dürfe er zu niemandem reden. Nie. Die Gestapo hatte auf Befehl von Goebbels die Schule schon unterwiesen. Sie kontrolliert auch, wer trotz des Verbots die Beerdigung in Stahnsdorf besucht. Goebbels ist die Sache nämlich unangenehm, in seinem Tagebuch erwähnt er die „etwas peinliche Nachricht“ vom Tod des Filmstars. Er werde dafür sorgen, dass die Geschichte nicht in Umlauf komme.

Tot waren sie nun schon, jetzt sollten sie noch totgeschwiegen werden.

Auch in Wills Familie spricht keiner über die Gottschalks, erst später erfährt George, dass die Gestapo bei ihm zu Hause war und jedem Angestellten „eingebimst hatte“, dass über die Familie der Mantel des Schweigens zu breiten sei. Und wie seltsam das ist, wo doch, noch gar nicht lange her, die Mutter mit Michaels Mutter telefonisch abgesprochen hatte, welche Badehosen ihre Söhne für die Sommertage im Spreewald brauchten, das dämmert dem Kind erst später. Nur einleuchten will es ihm nie.

George wird neun, er wird zehn, und als er zwölf ist, ist der Krieg, aus dem auch sein Vater nicht mehr zurückkehrt, aus. 1947 erscheint der Nachkriegsfilm „Ehe im Schatten“, der die Geschichte der Familie Gottschalk erzählt und bekannt macht. Mit seiner Mutter geht George Will 1948 nach San Francisco, bekommt den Führerschein, besucht die High School, studiert an der Stanford Universität Betriebswirtschaft, lebt und arbeitet bei der Stanford Feuerwehr, löscht so einige Brände, steigt bei VW ein und organisiert deren Händlernetz westlich des Mississippi. Er wird 1953 US-Bürger, bringt es in der Armee bis zum Oberleutnant, geht für VW nach Puerto Rico und kehrt schließlich nach Berlin zurück, als sein Schwager die Leitung der Chemiefirma Henning aufgeben muss, die zur Hälfte der Familie Will gehört.

Will ist wieder in Grunewald und führt das Chemie-Unternehmen weiter. Es ist die wilde Zeit in Berlin, vier Stadtkommandanten haben das Sagen, und George Will, der als US-Bürger aus den Staaten zurückkommt, ist mittendrin. Spione erkennen sie an den Flügelmuttern, mit denen die Nummernschilder an deren Autos befestigt sind, damit sie schnell ausgetauscht werden können. Klar, dass er hier auch wieder an seinen alten Freund denkt, aber der Friedhof Stahnsdorf liegt auf dem Gebiet der DDR. Als die Mauer fällt, besucht er endlich mit seiner Schwester das Grab der Gottschalks.

Was damals nicht ging, muss jetzt möglich sein. Sie haben das Bedürfnis, öffentlich ihre Trauer zu bekunden. Sie schalten 1991 eine Anzeige für das Kind Michael Gottschalk im Tagesspiegel, 50 Jahre nach der Tragödie. George Will zieht sie in seinem Wohnzimmer aus einer Klarsichthülle: „Es erschütterte unsere Jugend: Unser Freund Michael Gottschalk, geboren 19.2.1933, ging mit seinen Eltern, dem Schauspieler Joachim Gottschalk und Meta Gottschalk, geb. Wolff, unter dem Druck der damaligen Machthaber am 6. November 1941 in Berlin-Grunewald in den Tod. Endlich, nach fünfzig Jahren, können wir das Grab auf dem Südwestfriedhof in Stahnsdorf bei Potsdam besuchen. Seine Jugendfreunde.“ Wer sind diese Jugendfreunde? Will zuckt die Achseln, „meine Schwester und ich“.

George Will schafft Gelegenheiten, um über seinen Freund zu reden

Für George Will ist die Anzeige nur der Auftakt für sein von nun an nicht mehr abreißendes Bemühen, wenigstens die Geschichte lebendig zu halten. Er sorgt mit dafür, dass das Grab in Stahnsdorf für „den deutschen Clark Gable“ von der stadtfernen Selbstmördergrube zu einem Berliner Ehrengrab wird. 1999 werden die Senatsbeiträge für das Grab von 60 auf 650 D-Mark jährlich erhöht. Der umtriebige Will kontaktiert im selben Jahr den Pfarrer der Gemeinde in Grunewald, ob es nicht schön wäre, einen Gedenk-Gottesdienst zu feiern? Die Familie war schließlich auch Mitglied der Gemeinde, Meta Gottschalk hatte sich ja noch vor der Hochzeit evangelisch taufen lassen. Der Pfarrer ist angetan, es gibt Texte, Musik von Geige und Orgel.

Zwei Straßen erinnern inzwischen an den Ufa-Star: die Gottschalkstraße in Wedding und der Joachim-Gottschalk-Weg in Neukölln. Will regt noch eine Gedenktafel vor dessen ehemaligem Wohnhaus an und spendet dafür. Am 6. November 2000 redet der Bezirksbürgermeister zur Enthüllung der Gedenktafel am Seebergsteig 2, der heute Toni-Lessler-Straße heißt.

Hauptsache reden. Gegen das Schweigen. Will, der inzwischen mit einer Stiftung viel Geld für gute Zwecke gibt, der sich für die Beziehungen zwischen der Stanford Universität und Berlin einsetzt, der das Bundesverdienstkreuz erhalten hat, weil er transatlantische Brücken gebaut habe, der zuerst so endgültig hatte schweigen sollen, er schafft nun ständig Gelegenheiten, um über seinen frühen besten Freund zu reden. Vor zwei Jahren erschien im Verbrecher-Verlag das Buch „Es wird schon nicht so schlimm!“ mit der Erzählung von Hans Schweikart, auf der der Film von 1947 basiert hatte.

Der Vater Gottschalk sei ein empfindsamer Typ gewesen, auch naiv, sodass er für seine Familie am Ende keinen anderen Ausweg mehr sah. Ein Ausreiseangebot gab es, vorher, das Gottschalk ausschlug. Eine Zusage für ein Engagement am Zürcher Schauspielhaus sogar, doch Gottschalk dachte, die Schweiz werde irgendwann sowieso annektiert. Zuallererst aber wollte der Schauspieler sich nicht scheiden lassen.

Unter den Nazis durfte nicht geredet werden, sagt George Will. Unter den Alliierten wurde in Berlin aus anderen Gründen nicht über den Krieg gesprochen. Schweigen aus unterschiedlichen Motiven. Das unnatürliche, erzwungene Schweigen hat an ihm ein Leben lang genagt. Will hat viel Energie darauf verwandt, dieses Schweigen zu überwinden. Natürlich war der Tod des Freundes ein Trauma für ihn. Nicht nur die Sache selbst, auch das Redeverbot danach!

Häufig werden im Alter die Erinnerungen der Jugend schärfer, drängender und bedrängender. Am 6. November jährt sich „das...Ereignis“ zum 75. Mal. Aber noch immer fließt nicht alles flüssig von den Lippen. Der verinnerlichte Widerstand ist noch in dem kurzen Stocken zu spüren, wenn Will von „dem...Ereignis“ spricht. Da kann man noch so oft über diese Geschichte reden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false