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Paul Rosen

© Mike Wolff

Es geht nicht ums Geld: Warum Lehrer in Berlin streiken

Wie tausende andere Kollegen wird er Mittwoch nicht in die Schule gehen, sondern auf die Straße. Paul Rosen, angestellter Lehrer in Neukölln, wird streiken. Dabei geht es ihm nicht nur ums Geld. Denn: "4700 Euro sind nicht wenig".

Auf den ersten Blick wirkt der junge Mann fremd hier. Das Gebäude ist heruntergekommen. Der letzte Anstrich ist lange her, die Treppenstufen sind ausgetreten, aus Neonröhren fällt billiges Licht. Der Mann legt Wert auf sein Äußeres. Er hat die blonden Haare zurückgegelt, trägt ein feines grün-weiß gestreiftes Hemd unter dunkelgrünem Markenpullover. Er tritt klar und entschieden auf. Könnte ein junger Unternehmer sein. Was will der hier?

Paul Rosen, 36, steht im Flur der Fritz-Karsen-Schule in Berlin. Er ist Lehrer. Geschichte, Politik, Sport. Am Mittwoch wird er wie tausende andere Lehrer in Deutschland nicht in den Unterricht gehen, sondern auf die Straße. Berlin verbeamtet seine jungen Pädagogen nicht mehr. Paul Rosen arbeitet seit einem Jahr als angestellter Lehrer und darf streiken. Die Gewerkschaften verlangen 5,5 Prozent mehr Lohn für die Angestellten des öffentlichen Dienstes. Rosen bekommt 4700 Euro brutto im Monat. Reicht das nicht?

Auch Polizisten, Feuerwehrleute und Verwaltungsangestellte legen am Mittwoch die Arbeit nieder. Doch die streikenden Lehrer werden die Nachrichten dominieren. Lehrer gelten als faul, überfordert und jetzt auch noch als maßlos.

"4700 Euro sind nicht wenig"

Paul Rosen geht es nicht so sehr ums Geld. „4700 Euro sind nicht wenig“, sagt er. Es geht ihm ums Grundsätzliche, um die Entscheidung zwischen zwei Systemen. Lehrer sind immer noch Staatsdiener wie die Beamten im Obrigkeitsstaat vor hundert Jahren. Sie erfüllen Vorgaben von oben, Mitspracherecht ist nicht vorgesehen. Doch die Wirklichkeit ist anders. Paul Rosen ist Teil des Unternehmens Schule, in dem zunehmend Wettbewerb, Leistung und Eigeninitiative zählen. Ein Vormittag mit einem Pädagogen, der erklärt, warum hier vieles nicht mehr zusammenpasst.

Die Fritz-Karsen-Schule liegt im Süden von Neukölln. Sie ist umgeben von schmucken Einfamilienhäuschen und Gärten. Der Frühling liegt in der Luft, Vögel zwitschern. 1250 Schüler gehen auf die Schule. Sie werden von gut hundert Lehrern unterrichtet. Erstklässler, Mittelstufler und Abiturienten lernen auf einem Campus. Die Karsen-Schule ist die erste deutsche Gemeinschaftsschule, gegründet 1948.

Paul Rosen lässt den verlebten Altbau hinter sich und geht hinüber zum Neubau. Hier sind die Wände in zartem Hellgrau gestrichen, die Räume wirken freundlich und sind mit Overheadprojektoren, Computern und Beamern ausgestattet. Hier ist die Oberstufe untergebracht. Im zweiten Stock warten Abiturienten. Grundkurs Geschichte. Es geht um den Ost-West-Konflikt, die Teilung Berlins. Ein Mädchen hält ein Referat über das Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen. Sie wirft mit einem Beamer Fotos von Häftlingszellen an die Wand. „Das müsst ihr euch mal vorstellen!“, sagt sie zu ihren zwölf Mitschülern. Nicht allen geht das Thema so nah wie ihr. Bald werden die Abiturklausuren geschrieben, der Grundkurs Geschichte ist nicht relevant. Paul Rosen bringt trotzdem ein Gespräch in Gang über die Stasi damals und Geheimdienste heute, CIA, Irak, Waterboarding. Die Diskussion ist konstruktiv. Die Jugendlichen schätzen ihren Lehrer. Er macht Exkursionen mit ihnen und lässt sich was einfallen. Nach der Stunde umlagern sie ihn. Rosen hält Abstand. Er ist keiner, der mit Schülern kumpelt.

Er streikt, weil er streiken darf

Als es um den Mauerfall ging, hat Rosen seine Schüler daran erinnert, wie viele Generationen vor ihnen für demokratische Grundrechte gekämpft haben, wie viele ihr Leben gelassen haben, damit Menschen heute wählen und streiken dürfen. Ausgerechnet die Lehrer sollen von diesem Recht ausgenommen sein? Der Beamtenstatus für Lehrer sei überholt, sagt er. Er möchte seinen Schülern vorleben, was er ihnen predigt. Er wählt, weil er wählen darf. Er streikt, weil er streiken darf. Die meisten seiner Schüler finden das gut. Einige fragen: „Wozu streiken? Sie haben doch genug.“

Ein Drittel der Lehrer an der Karsen-Schule ist angestellt. In der Grundschule sind es fast alle. Rosen hätte nach dem Referendariat nach Hamburg gehen können. „Super Angebot, Millionärsviertel, Beamtenstatus.“ Doch er kommt aus Kreuzberg. Hier wollte er bleiben.

Für Berlin geht es jetzt ums Ganze

Paul Rosen
Paul Rosen kommt aus Berlin. Und hier wollte er bleiben.

© Mike Wolff

Aber er will kein Angestellter dritter Klasse sein. „Wenn angestellt, dann richtig“, sagt er. Mit Rahmentarifvertrag, und so, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Arbeitsbedingungen aushandeln. Der Senat schreibt den verbeamteten Lehrern vor, wie viele Stunden sie zu geben haben und wie viel Geld sie bekommen. Dafür haben sie einen Job auf Lebenszeit, müssen weniger Abgaben zahlen, bekommen Zuschüsse zur privaten Krankenkasse. Im Tarifvertrag der Länder steht, dass die Arbeitszeiten der Beamten auch für die angestellten Kollegen gelten. Doch die haben weniger Sicherheit, müssen mehr Abgaben zahlen, die Renten sind schmaler. Die Lehrergewerkschaft GEW nennt das „Gutsherrenart“. Paul Rosen zitiert den Begriff mit spöttischem Gesichtsausdruck. Er spitzt nicht gerne zu. Aber auch er wehrt sich dagegen, dass die Länder für die Angestellten einseitig die Bedingungen festlegen. Das sei ungerecht und nicht korrekt. Die angestellten Lehrer bräuchten ein eigenständiges Tarifrecht. Eins, das vom Beamtenrecht abgekoppelt ist.

Deutschlandweit ist ein Viertel der 800 000 Lehrer angestellt. Aber nur in Berlin und Sachsen werden die Pädagogen grundsätzlich nicht mehr verbeamtet. In Berlin sind schon 11 000 der

28 000 Lehrer angestellt. Jedes Jahr kommen 2000 dazu. Für Berlin geht es jetzt ums Ganze.

"Diese Kröte haben wir geschluckt"

Doch die Entkopplung von Angestellten- und Beamtenrecht ist schon vom Tisch. Die Arbeitgeber, die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL), hatten die Koppelung zur Bedingung für die Aufnahme von Verhandlungen gemacht. Es brauche eine feste Bezugsgröße, sagt die TdL, auch damit die Ausgaben nicht ins Uferlose stiegen. „Diese Kröte haben wir geschluckt“, heißt es im Bundesvorstand der Lehrergewerkschaft GEW. Das war nicht im Sinn der Berliner GEW.

Vom schönen Neubau läuft Paul Rosen über den Schulhof zurück ins alte Gebäude. Hier sind die Räume für die Mittelstufe. Er ist Klassenlehrer einer achten Klasse. Das Parkett ist abgetreten, die Fensterrahmen abgeschrabbelt. Rosen stört das nicht. „Ich mag Parkett“, sagt er. Es erinnert ihn an seine Schulzeit. Er fand es toll, zur Schule zu gehen, jeden Tag seine Freunde zu treffen, auch mit den Lehrern kam er gut klar. Nach dem Abitur überlegte er, Betriebswirtschaft zu studieren. Aber wegen der guten Erfahrungen an der Schule entschied er sich, Lehrer zu werden.

Die dritte Stunde beginnt. Erdkunde. Wassermangel im Nahen Osten. Gruppenarbeit. 24 Mädchen und Jungen beugen sich über einen Text. Sie sollen Fragen zur Wasserverschwendung in der Türkei, in Dubai, in Israel beantworten. Einige sind schnell fertig. Sie haben den Text verstanden und erklären den anderen, worum es geht. Doch etliche haben nach einer halben Stunde noch keinen vollständigen Satz auf ihrem Arbeitspapier stehen. Sie lassen sich von den Mitschülern Stichworte diktieren, ohne sie zu begreifen. Als Hausaufgabe sollen alle ein Fazit schreiben. „Fazit?“, fragt ein Mädchen, „was ist das?“

Die großen Unterschiede im Lernniveau machen Rosen und seinen Kollegen sehr zu schaffen. Er versucht den Guten Zusatzaufgaben zu geben, damit sie sich nicht langweilen. Aber viele empfinden das als Strafe: Weil sie besser sind, müssen sie mehr machen.

Manchmal hat er das Gefühl, nichts geht voran

Die Jugendlichen heißen Abdul, Burak, Yusuf. Die meisten kommen aus Einwandererfamilien, die Hälfte der Familien lebt von staatlichen Zuschüssen. Wenn Rosen seine Schüler fragt, was sie werden wollen, sagen etliche „Hartz IV“. Manchmal habe er das Gefühl, nichts gehe voran. Immer wieder die gleichen Gespräche mit Eltern, die gleichen Appelle. Und dann ändere sich doch nichts.

Eine Wand im Klassenzimmer hängt voll mit Selbstermahnungen: „Jeder Schüler hat das Recht, ungestört zu lernen“, „Wir wünschen uns mehr Zusammenhalt“, „Wir helfen uns gegenseitig“. Rosen geht von Tisch zu Tisch, erklärt, ermahnt, lobt. Neulich habe er eine ganze Woche lang soziale Regeln mit ihnen eingeübt. Zum Unterrichtsstoff sei er nicht gekommen. Aber lieber einmal die Dinge klären als ständig Chaos.

Am Ende des Gangs haben die Klassenlehrer der achten Klassen ihr eigenes kleines Lehrerzimmer. Alle haben denselben Stress, denselben Ärger mit Eltern. Doch bei der Bezahlung geht es auseinander. Fünf der zwölf Lehrer in Rosens Team sind Beamte. Rosens Einstiegsgehalt von 4700 Euro ist zugleich die höchste Stufe. Viel mehr ist nicht drin. Florian Bublys von der Berliner Junglehrer-Initiative „Bildet Berlin“ hat ausgerechnet, dass die Beamten über einen Zeitraum von 30 Dienstjahren 100 000 Euro mehr bekommen als die Angestellten. Das ist fast eine kleine Eigentumswohnung.

Er will, dass die Verhältnisse geklärt werden, auch wenn er selbst Einbußen hätte

Paul Rosen
Paul Rosen kommt aus Berlin. Und hier wollte er bleiben.

© Mike Wolff

Als die wirtschaftliche Lage schlecht war, hatte der Senat zwei Pflichtstunden mehr angeordnet. Es wurde gespart und gespart. Jetzt brummt die Wirtschaft. „Jetzt wollen wir unseren Teil vom Kuchen“, sagt Paul Rosen.

1200 der 4700 Euro sind eine Zulage, die der Senat seit 2009 auf das Gehalt der angestellten Lehrer drauflegt, damit Berlin nicht so schlecht dasteht im Wettbewerb mit den Ländern, die verbeamten. Angestellte Lehrer in Sachsen, Nordrhein-Westfalen oder Thüringen bekommen weniger. In den Verhandlungen mit den Ländern fordert die Lehrergewerkschaft GEW eine bundeseinheitliche Tarifordnung für die angestellten Pädagogen. Doch was für Sachsen ein Plus in den Verhandlungen bedeutet, könnte für die Berliner ein Minus sein. Deshalb kämpft die Berliner GEW mittlerweile vor allem dafür, dass die Berliner am Ende nicht schlechter dastehen als bisher.

Die Länder haben eingesehen, dass die angestellten Lehrer einen Tarifvertrag brauchen – doch nicht zu den Bedingungen der GEW. „Würden wir auf alle Forderungen der Lehrer eingehen, würde das die Länder im Jahr 340 Millionen Euro zusätzlich kosten“, sagt der Sprecher der TdL. Das sei nicht drin. Was die Berliner GEW angeht, sagt er unverblümt: „Die Forderungen von Landesverbänden nehmen wir gar nicht wahr.“

Zur Demokratie gehört Solidarität

„Worum es jetzt geht, ist nicht mehr hundert Prozent das, was wir hier möchten“, sagt Paul Rosen. Trotzdem wird er streiken. Er bringt seinen Schülern bei, dass zur Demokratie auch Solidarität gehört. Er will, dass die Verhältnisse geklärt werden, auch wenn er selbst Einbußen hätte.

Im Erdgeschoss sitzt der stellvertretende Schulleiter Ulrich Meuel an einem Schreibtisch voller Anträge, Listen, Verordnungen. Lehrer sind krank, es gibt zu wenig Vertretungen, jeden Tag muss er mit Möglichkeiten und Wirklichkeiten jonglieren. Jetzt noch der Streik. Eltern schicken ihm wütende Mails und empören sich am Telefon. Vor einer Woche haben 25 der 35 angestellten Lehrer gestreikt. Diesmal wollen auch alle Erzieher die Arbeit niederlegen. Er bastelt gerade an einem Notdienst für Mittwoch, damit zumindest von 8 bis 12 Uhr Unterricht stattfindet.

Meuel, Jeans, Karohemd, grauer Bart, ist seit 40 Jahren Lehrer und steht vor der Pensionierung. Auch er hält das Beamtentum für Lehrer für „vordemokratisch“, obwohl er selbst Beamter ist. Kindern etwas beibringen, sei keine hoheitliche Aufgabe. Außerdem sei es unsolidarisch, künftigen Generationen die hohen Pensionslasten aufzubürden. „Wir Beamten werden dafür bezahlt, dass wir da sind“, sagt Meuel. „Wie wir unsere Arbeit machen, ist zweitrangig.“ Die Beförderung sei eine Belohnung für die langen Dienstjahre und nicht, weil einer besonders tüchtig sei. Er wünscht sich mehr Wettbewerb und dass die jungen Kollegen ordentlich bezahlt und die Besten befördert werden.

Das mit dem Wettbewerb gefällt der TdL. Es müsse Anreize für den Aufstieg geben, deshalb dürfe man die Lehrer nicht gleich in die höchste Stufe eingruppieren, wie es in Berlin gehandhabt wird.

Wie misst man pädagogische Arbeit?

Doch lässt sich pädagogische Arbeit messen wie die Leistung eines Architekten oder Managers? Paul Rosen unterrichtet 26 Stunden in der Woche, zehn weitere Stunden sitzt er in Gremien. Er kommt um 17 Uhr nach Hause und setzt sich eineinhalb Stunden hin, um Unterricht vorzubereiten. Dazu kommen Korrekturen. Er hat 60 Schüler, eine Stunde braucht er pro Arbeit, zwei Stunden pro Arbeit im Leistungskurs. Das alles sei gut zu schaffen, sagt er. Doch woran soll die Leistung eines Lehrers gemessen werden? Wie viele Einser-Schüler einer produziert? Wie kreativ der Unterricht ist? Rosen schüttelt den Kopf. Er ist skeptisch.

Schulleiter Meuel könnte die Beamten verpflichten, am Mittwoch mehr zu arbeiten. „Das wäre keine gute Idee“, sagt eine verbeamtete Kollegin von Rosen. Es würde dem Schulklima arg schaden. Sie hat am Mittwoch vier Stunden Unterricht. Danach wird sie gehen. Das sei ihre Solidarität mit den Streikenden.

„Was gehört zur Bildung?“, hat der Leistungskurs Geschichte auf ein Plakat geschrieben und dieses auf die Tür zum Klassenzimmer geklebt. „Was gehört zur Bildung? Widerspruchsgeist!“

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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