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Kang Chun-hyok, das Waisenkind aus dem Norden, lebt heute als Maler in Südkorea.

© Fabian Kretschmer

Flucht aus Nordkorea: Zur Freiheit verdammt

„Kkotjebi“, blühende Schwalben, werden die Straßenkinder in Nordkorea genannt. Weil sie immer in Bewegung bleiben müssen. Nur manchen von ihnen gelingt die Flucht.

Kim Hyuk sitzt auf einer Steinbank in Insadong, einst die geschäftigste Marktstraße von Seoul, heute Flaniermeile für die frisch Verliebten und Rucksacktouristen. Zwischen zeitgenössischen Galerien, Souvenirläden und Kaffeehäusern erzählt ein unbeschwert wirkender junger Mann von seinem früheren Leben. Einem Leben, das keine 14 Jahre zurückliegt, nur 500 Kilometer Luftlinie entfernt, doch gedanklich weiter nicht weg sein könnte: Kim Hyuk lebte, nein, er überlebte jahrelang als Straßenkind in Nordkorea.

Was das schlimmste an seiner Jugend war? Kim Hyuk, 31 Jahre alt, blaues Polohemd, runder Topfschnitt, Smartphone, muss nicht lange überlegen: Der Hunger sei schrecklich gewesen, sagt er, doch ohne Essen könne man zumindest drei Tage lang überleben. Aber die Kälte im Winter, wenn das Thermometer auf unter Minus 20 Grad sank, vor der habe er sich am meisten gefürchtet. Denn Erfrieren, das gehe schneller, als man denkt.

In den Statistiken tauchen sie nicht auf

Jede Woche seien die Sicherheitskräfte zum Bahnhof angerückt, mit sperrigen Karren, und hätten die Leichen der Obdachlosen aufgesammelt. Zu Dutzenden wurden sie in anonymen Massengräbern am Stadtrand verschüttet. „Mein Vater soll auch so gestorben sein“, sagt Kim, als beschreibe er ein gewöhnliches Kindheitsschicksal.

In den Statistiken tauchen die Kinder nicht auf. Offiziell heißt es, der Führer kümmere sich höchstpersönlich um das Wohl seiner Kinder, die in Nordkorea besser leben würden als anderswo auf der Welt. An den Geburtstagen der drei Kims – Staatsgründer Il-Sung, Sohn Jong-Il und der jetzige Herrscher Jong-Un – werden Süßigkeiten an alle Kinder verteilt. An die Zukunft des Landes.

Tatsächlich verloren in den 90er Jahren Tausende ihre Eltern. Die Misswirtschaft des Regimes, das Ausbleiben der sowjetischen Hilfslieferungen und eine Serie an Überschwemmungen kulminierten zur großen Hungersnot, während der, laut Schätzung der Vereinten Nationen, zwischen 450 000 und zwei Millionen Nordkoreaner verhungerten. Zur gleichen Zeit verbaute das Regime umgerechnet 590 Millionen Euro für Denkmäler und das Mausoleum des 1994 verstorbenen Kim Il-Sung. Bis zum Jahr 2012 sollen die Ausgaben für importierte Luxusgüter für die Parteielite auf 470 Millionen Euro angestiegen sein.

Betteln auf Märkten und in Bahnhöfen

Zum Überleben blieb unzähligen Kindern nur die Straße, wo sie auf Märkten und in Bahnhöfen bettelten. „Kkotjebi“ nennt man die Straßenkinder auf koreanisch, übersetzt heißt das so viel wie „blühende Schwalben“ – weil sie ständig in Bewegung bleiben müssen: bis zur nächsten Mahlzeit, zum nächsten Schlafplatz.

Die Kindheit von Kim Hyuk endete, als er sieben war: Seine Mutter starb, der Vater hatte die Familie früh verlassen. Die Folgen des Hungers hatten zuerst die Alten und Kinder getroffen. Wer konnte, floh. Der Heimatort der Brüder verwandelte sich in eine Geisterstadt. Während der Regenzeit legten Erdrutsche die Skelette verwester Kinder frei, herrenlose Hunde streunten mit Knochen im Maul durch die verlassenen Straßen. Plünderer hatten Fenster und Türen in den Häusern herausgerissen, um sie gegen Nahrung einzutauschen.

Wie viele Kinder in Nordkorea auf der Straße leben, lässt sich nur schwer überprüfen

Als Kim Hyuk mit seinem Bruder ins Waisenheim kam, bestand ihre einzige Mahlzeit am Tag aus Körnern und Wurzeln. Von den 75 Kindern verhungerten 24. Die Brüder ergriffen die Flucht. Der einzige Ort, wo sie noch hinkonnten, war die Straße. Nachts versteckten sich die Jungen im Bahnhofsgebäude, wo sie sich in die Zwischenräume von Heizkörper und Wand zwängten. Der Spalt bot nicht nur Wärme, sondern auch Schutz vor der gefürchteten Polizei.

Tagsüber bettelten sie und begannen wie die meisten Kkotjebis zu stehlen. Zu dritt oder viert taten sie sich zusammen, erzählt Kim Hyuk: Einer riss auf dem Markt einen Stand um, die anderen nutzten die Aufregung, um die Lebensmittel vom Boden aufzusammeln und damit zu flüchten. Auch unter den Kkotjebis habe sich ein hierarchisches Klassensystem entwickelt: Die Geschicktesten schlossen sich zu Banden zusammen und stahlen irgendwann so effizient, dass sie sich sogar eine eigene Wohnung leisten konnten. Dort kümmerten sich die Frauen um den Haushalt, während die Burschen tagsüber auf ihre Raubzüge gingen.

Außerhalb der Staatsgrenzen ist das Schicksal der nordkoreanischen Straßenkinder selten mehr als eine Kurzmeldung wert, zuletzt im Mai 2013, als die Regierung von Laos eine neunköpfige Gruppe nordkoreanischer Jugendlicher aufgriff und zurück in den Norden abschob. Dort wurden sie wenig später im Staatsfernsehen präsentiert, als reumütige Sünder.

Verschärfte Sicherheitsbedingungen für Straßenkinder

Laut der Onlinezeitung Daily NK, die über chinesische Handys ein ausgeprägtes Informantennetzwerk in Nordkorea unterhält, haben sich seitdem die Sicherheitsbedingungen für Straßenkinder verschärft. Auf der Straße aufgegriffene Jugendliche werden nun umgehend in Umerziehungslager gesteckt, wo ihnen Zwangsarbeit und Folter drohen. In China werden Nordkoreaner weiterhin als illegale Wirtschaftsflüchtlinge betrachtet und in ihre Heimat abgeschoben – nicht zuletzt, weil man sich vor den Millionen potenziellen Flüchtlingen fürchtet, die in Nordkorea hungern. Um nach Südkorea zu gelangen, müssen Nordkoreaner über Drittländer die Ausreise wagen, entweder durch die Wüste Gobi in die Mongolei oder über den Mekong nach Thailand. Beide Routen sind gefährlich und enden nicht selten im nordkoreanischen Arbeitslager oder chinesischen Bordell.

Wie viele Kinder in Nordkorea auf der Straße leben, lässt sich nur schwer überprüfen. Die Behörden sind auf die Berichte Betroffener angewiesen, denen die Flucht gelungen ist: Laut Kim Hyuks Schilderungen lebten während der 90er Jahre in Chongjin, der mit 325 000 Einwohnern siebtgrößten Stadt Nordkoreas, mehrere hundert Minderjährige auf der Straße, bis zu 50 von ihnen rund ums Bahnhofsgelände.

Heute lebt der 31-Jährige in einer Wohnung, studiert an einer renommierten Uni in Seoul und auf seinem Reisepass prangt das Wappen Südkoreas, der zwölftgrößten Volkswirtschaft der Welt. Während seine Gedanken früher immer nur um die nächste warme Mahlzeit und einen sicheren Schlafplatz kreisten, denkt Kim nun über das Thema seiner geplanten Doktorarbeit nach. In Nordkorea hätten die Menschen so viel damit zu tun, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, dass für andere Ambitionen keine Kraft mehr bliebe. Das mache die Menschen auf gewisse Weise faul und träge. „In Südkorea hat man Freiheit, doch man muss viel fleißiger sein, um seine Ziele zu erreichen“, sagt Kim.

Manchmal vermisst er die Freiheit

Manchmal vermisse er das Gefühl seiner Kindheit, die Freiheit als Kkotjebi. In dem Staat der totalen Überwachung lebe wohl niemand so unbeobachtet wie sie. Die anderen Kinder müssen sich schon in der Grundschule durch die täglichen Ideologiesitzungen quälen, als Erwachsener benötigt man selbst für den Besuch der Nachbarstadt Einreisedokumente der Behörden. Doch wer ohne Eltern lebt, nicht zur Schule geht, der fällt auch durch die Raster der staatlichen Kontrolle. Man könne jeden Tag selber entscheiden, wie man den Tag verbringt, sagt Kim. Die blühenden Schwalben sind zwar vogelfrei, aber auch frei wie Vögel.

Wenn Kkotjebis aus dem Land flüchten, tun sie dies weniger aus politischen Gründen, sondern weil sie der Hunger treibt. Meist gehen sie über die chinesische Grenze, an der auch Kim Hyuk mit 16 Jahren stand. Sein erster Fluchtversuch endete mit einem Jahr und acht Monaten Umerziehungslager. Damals brachte Kim gerade mal 35 Kilogramm auf die Waage.

Wenige Monate nach seiner Freilassung bereitete er sich sorgfältiger vor. Für den Tag seiner Flucht wählte er den 24. Dezember 2000, den Geburtstag von Kim Il-Sungs Frau, da die Grenzkontrollen an diesem Tag meist lascher seien. Ob es wirklich daran lag, ist ungewiss. Die Flucht aber glückte .

Seine Bilder aus der Grundschule zeigen Panzer und amerikanische Soldaten

Jedes Jahr erreichen die südkoreanische Grenze rund 50 minderjährige Nordkoreaner ohne Familienangehörige. Damit machen sie knapp zwei Prozent aller Flüchtlinge aus. Insgesamt leben mehr als 25 000 Nordkoreaner im Süden.

Auch Kang Chun-hyok konnte als Jugendlicher aus seinem Heimatland fliehen. Sein Vater hatte die Familie Jahre zuvor verlassen, und als die Mutter an Typhus erkrankte, musste der Elfjährige auf der Straße betteln, um die Geschwister durchzubringen. Heute zählt Kang zur ersten Generation der Flüchtlinge, die in Südkorea die Oberschule abgeschlossen haben und nun die Universitäten des Landes besuchen: Junge Erwachsene, die ihre Stimme erheben – auch weil das Kim-Regime keinen Druck mehr auf sie ausüben kann. Denn im Gegensatz zu den anderen Flüchtlingen müssen die Kkotjebis nicht um ihre zurückgelassenen Familien bangen, die für den Landesverrat ihrer Angehörigen in Umerziehungslagern büßen müssen. „Hier erfährt man nur die politischen Nachrichten über Nordkorea, aber das wird der Realität nicht gerecht. Ich will den wirklichen Alltag zeigen“, sagt Kang. Reden ist eigentlich nicht so seine Sache, der 27-Jährige wirkt verschlossen und unsicher, das Trauma der Vergangenheit lastet auf ihm. Aber Kang Chun-hyok hat einen anderen Weg gefunden, seine Geschichte zu erzählen.

An die Leidensgeschichte erinnern

An diesem Sonntag steht er in einer Fußgängerzone in Seouls Zentrum, ehrfürchtig betrachtet er die weiße Leinwand vor ihm. Mit einem kurzen Handgriff richtet er sich das Basecap, das T-Shirt flattert zwei Nummern zu groß über die locker sitzende Khakihose. Noch einmal holt er tief Luft, dann geht es los: „Live-Drawing“ nennt Kang seine Performance, mit der er seinen Landsleuten in Südkorea die Leidensgeschichten in Erinnerung ruft, die sich tagtäglich nur eine Autostunde entfernt abspielen.

In Windeseile skizziert er mit seiner Zeichenkohle, viele Passanten filmen die Performance mit ihrem Smartphone. Langsam zeichnen sich auf der Leinwand die Konturen eines spindeldürren Kindes ab, ängstlich schaut es ins Publikum, es trägt schwere Stahlfesseln um Hals und Hände. „Es tut mir leid, dass ich nichts für dich tun kann“, unterschreibt Kang das fertige Bild. Als er sich umdreht, sind die meisten Zuschauer schon wieder weitergezogen.

Die hedonistische Jugend Südkoreas ist gut darin, die harten Wahrheiten aus dem Nachbarland zu verdrängen. Jedes Jahr sinkt in Umfragen die Bereitschaft für eine Wiedervereinigung. Der Norden wird mittlerweile weniger als sehnsüchtig vermisster Teil des eigenen Landes angesehen, denn vielmehr als Gefahr für den so hart erarbeiteten Wohlstand.

Gleichgültigkeit und Desinteresse

Manchmal spürt auch Kang, dass er mit seinen Aktionen auf Gleichgültigkeit und Desinteresse stößt. Dann schmiedet er radikalere Pläne, würde am liebsten mit seinen Freunden nach Peking fliegen und dort die Fassade der nordkoreanischen Botschaft besprühen. Oder den innerkoreanischen Grenzwall mit bunten Bildern verzieren, wie es früher die Sprayer auf der Westseite der Berliner Mauer machten.

Früher habe er es mal mit abstrakter Malerei versucht, sagt Kang, aber schnell gemerkt, dass der realistische Stil besser zu seinem Charakter passe. Seine Bilder versteht er vor allem als Zeitdokumente für die Nachwelt. Eins zeigt einen Jungen im Vorschulalter, der auf ein riesiges Wandplakat starrt – es ist die Verlautbarung der nächsten öffentlichen Hinrichtung. „Ungefähr in demselben Alter habe auch ich meine erste Erschießung gesehen“, sagt Kang. Eigentlich sei er nur deshalb dort hingegangen, um leere Patronenhülsen aufzusammeln, die, wie ihm ein Junge erzählt hatte, schöne Geräusche machten, so wie Nussschalen, wenn man in sie hineinpustet. Doch dann sah er die Kugeln einschlagen, das Blut spritzen. Sein Leben lang werde er diese Szenen nicht vergessen.

Schon damals habe er leidenschaftlich und düster gemalt. Seine Bilder aus der Grundschule zeigen Panzer und amerikanische Soldaten, mit großen, spitzen Nasen zu Fratzen verzerrt. In Seoul, wo Kang seit mehr als zehn Jahren lebt, wurde er nun an der renommiertesten Kunsthochschule des Landes angenommen. Dass es Künstler in Südkorea schwer haben, in dieser neoliberalen, konformistischen Gesellschaft, in der vor allem Ärzte, Anwälte und Samsung-Angestellte respektiert werden, schreckt Kang nicht. „In dieser Gesellschaft werde ich nicht verhungern.“

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

Fabian Kretschmer

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