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Fremder in einer fremden Welt. Der syrische Arzt Wassim K. floh vor dem Bürgerkrieg nach Berlin. Über das Telefon versucht er von hier aus, seinen Bruder zu finden.

© Doris Spiekermann-Klaas

Flucht aus Syrien: Ein Leben im Stillstand

Der syrische Arzt Wassim K. floh vor dem Bürgerkrieg. Er träumte von einem neuen Start in Deutschland. Doch die Erinnerungen an seine tote Schwester lassen ihn nicht los.

Er wirkt immer noch wie ein Oberschüler aus behütetem Elternhaus. Trägt stets ein Lächeln auf dem Gesicht. Gibt auf Fragen leise und zurückhaltende Auskunft. Bringt Blumen mit, wenn er eingeladen ist. Dabei ist Doktor Wassim K. ein Flüchtling aus Syrien, dessen Welt seit sieben Monaten auf vier Quadratmeter und durchschnittlich 330 Euro pro Monat geschrumpft ist.

Sein erstes Zuhause in Deutschland ist eine Notunterkunft im ehemaligen Heinrich-Kleist-Gymnasium in Berlin-Moabit. Genauer gesagt, die Hälfte einer von drei Kojen, die in jedes ehemalige Klassenzimmer gepresst wurden. Die Sperrholzwand, die seine Koje von den übrigen zwei Kojen trennt, lässt unter der Decke einen Meter frei. Wenn jemand in einer der drei Kojen etwas sagt, hören die Übrigen mit. Inzwischen sagt fast niemand mehr etwas. Im Türrahmen weht ein schwarzer Vorhang, den jeder jederzeit beiseite heben kann. Wer auch nur ein klein bisschen Wertvolles besitzt, trägt es bei sich. Denn was sich im Flüchtlingsheim zu Geld machen lässt, verschwindet schnell.

Oft schallt laute Musik über den Flur. Serben, sagt Wassim. Eine mehrköpfige Roma-Familie. Wassim K. könnte all ihre Lieder mitsingen, denn er hört sie täglich. Zwangsläufig. Er könnte auch alle afghanischen Lieder mitsingen, die aus dem angrenzenden Zimmer dringen. Regelmäßig treten sie mit den Balkanliedern in Konkurrenz.

Wenn Wassim K. gut drauf ist, geht er in die Stadt. Läuft einfach so herum. Wenn er nicht gut drauf ist, zieht er den Pyjama gar nicht erst aus. Dann bleibt er im Bett, verschränkt die Arme unter dem Kopf und stiert an die Decke. Dorthin, wo eine Spinne ihre zarten Netze zieht. In den vergangenen Monaten ist sie ihm zur Freundin geworden. Sie muss glücklich sein, denkt Wassim. Sie kann kreativ und aktiv sein. Sie kann sich entfalten. Niemand beschneidet ihre Arbeit zwischen Sperrholzwand, Zimmerdecke und Fenster. Sie verkörpert, wonach er sich sehnt in der Enge seines Zimmers, der Leere der Tage, dem Stillstand seines Lebens. Und sie lenkt ihn ab, wenn die Erinnerungen ihn in die Depression zu stoßen drohen.

Der Familie ging es gut. Dann brach der Krieg aus.

Eine Dolmetscherin übersetzt für Wassim: Seine Familie lebte in einem Ort in der Umgebung von Aleppo. Vor dem Krieg gab es im Ort viermal so viele Menschen wie jetzt. Geblieben sind meist Alte und Arme, Menschen ohne Ersparnisse, deren Geld nicht ausreicht, um sich im Ausland eine Existenz außerhalb der elenden Flüchtlingslager zu sichern. Wassims Vater war Händler, Teil der syrischen Mittelschicht, die ihren Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen konnte. Wassim wurde Arzt, sein Bruder Ingenieur. Eine Schwester studierte Französisch, eine andere Pharmazie.

Bis zum Ausbruch des Krieges ging es der Familie gut. Doch im Frühjahr 2012 rückten Soldaten der Regierungstruppen ein; zwischen ihnen und Angehörigen der Freien Syrischen Armee brachen offene Kämpfe aus. Wassim spielt im Internet ein Video ab. Nacht, von unsichtbaren Kampfflugzeugen rieseln Bomben wie Teile eines Feuerwerks herunter. Dann ein verzweifelter Mann in Nahaufnahme: Meine Tochter! Meine Tochter! Sie haben meine Tochter umgebracht!

Wassim K. ruft ein anderes Video auf: Die etwas unscharfe Kamera eines Handys gleitet an weißen Häuserfassaden entlang. Auf der Straße Schutt, auf dem Bürgersteig Leichen: mit weit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken liegend, an einer Hauswand herabgeglitten.

Unmittelbar vor Wassims Haus wurde der Freund seines Bruders erschossen. Wassim floh mit den Eltern und der hochschwangeren Schwester in das noch ruhige Aleppo, wo sie eine Wohnung im christlichen Viertel fanden. Als Wassims Schwester im Juni 2012 eine Tochter gebar, wurde auch schon in Aleppo gekämpft. Die Familie beschloss, in ihren Heimatort zurückzukehren. Warnungen wegen Kämpfen zwischen Aufständischen und Regierungstruppen auf der Strecke waren aufgehoben worden.

Das Auto wurde neunmal getroffen

Seine Mutter sah den Schützen noch, bevor die ersten Kugeln einschlugen. Ein Mann mit Helm, es musste ein Regierungssoldat gewesen sein. Runter mit den Köpfen, schrie Wassim und gab Gas. Das Auto wurde neunmal getroffen. Die Mutter auf dem Beifahrersitz blieb unverletzt. Eine Kugel hingegen erwischte die Schwester auf dem Rücksitz. Sie hatte sich nur wenig vorbeugen können, denn auf dem Schoß hielt sie das Baby.

Wassim raste zum nächsten Krankenhaus, den Blick immer wieder in den Rückspiegel gerichtet: Atmete sie noch? Lebte sie noch? Die ärztliche Untersuchung bestätigte seine Befürchtungen. Eine Kugel hatte direkt einen Halswirbel getroffen. Seine Schwester war gelähmt.

Sechs Monate lag sie im Bett. Die ersten zwei Monate in Syrien, dann transportierte die Familie sie in einem Privatauto an die Grenze, wo auf türkischer Seite bereits ein Krankenwagen wartete. Doch der Zustand von Wassims Schwester war hoffnungslos. Sie konnte ihre Arme nicht mehr heben, um ihr Baby zu halten. Sie konnte ihre Hände nicht bewegen, um es zu streicheln. Kugelsplitter in der Lunge verursachten Entzündungen und Fieber. Einmal blieb ihr Herz stehen, sie musste wiederbelebt werden. Sie glitt ins Koma. Wenn Vater, Mutter oder Wassim K. mit ihr redeten, traten ihr anfangs noch Tränen in die Augen. Schließlich erlosch auch diese Verbindung zur Welt.

Unter Beschuss gelangte der Sarg nach Syrien, wurde er der Heimaterde übergeben. Die Eltern kehrten anschließend zurück in die Türkei. Ihr Haus war durch Raketen zerstört, ihr Auto gestohlen worden. Bis heute leben sie von Ersparnissen und dem Geld, das ihnen ihre zweite Tochter schickt, die inzwischen nach Europa emigriert ist.

Drei Wochen nach dem Tod der Schwester wurde Wassims Bruder verhaftet. Wassim weiß nicht, was ihm vorgeworfen wird, er weiß nicht einmal, ob er noch lebt. Weil er Angst hat, ihm zu schaden, sollen sein Familienname und seine Heimatstadt nicht in der Zeitung stehen. Aus Aleppo erfuhr die Familie noch, dass der Bruder bis zur Bewusstlosigkeit gefoltert worden war. Seitdem er nach Damaskus überstellt wurde, fehlt jedes Lebenszeichen.

Lebt sein Bruder? Ist er tot? Die Ungewissheit zermürbt ihn.

Nun kreisen seine Gedanken jede freie Minute um das Schicksal des Bruders. Er solle sich keine Hoffnung machen, sagt eine Stimme in ihm. Er weiß wie alle Syrer, dass Häftlinge des Assad-Regimes systematisch zu Tode gefoltert werden. Ein übergelaufener Militärpolizist hat kürzlich Tausende von Bildern vorgelegt: von ausgemergelten Körpern mit Strangulierungsmerkmalen am Hals, von Köpfen ohne Augen, von Spuren von Folterwerkzeugen und von Brandverletzungen durch Elektroschocks. Wahrscheinlich, sagt diese Stimme in Wassim, ist der Bruder längst tot. Gib die Hoffnung auf!

Aber warum – widerspricht eine andere Stimme – hat die Familie nicht von seinem Tod erfahren? Das Regime wirft die Leichen der Häftlinge oft in Flüsse, in Aleppo tauchten sie in Müllcontainern auf. Anwohner machen Fotos von ihnen und stellen sie ins Internet, damit Familien ihre Toten abholen. Nicht nur Pietät veranlasst sie dazu, sondern auch Pragmatismus. Wer will schon Tote beerdigen, wo Grabplätze wegen des Massenmordens rar sind und heute bis zu zweihundertmal mehr kosten als vor dem Krieg? Verlier die Hoffnung nicht, sagt die Stimme in Wassim. Der Bruder lebt, wenn er nicht tot gefunden wurde!

Vor dem Krieg erhielt Wassims Vater gelegentlich Besuch von einem alawitischen Offizier aus Damaskus, der sich im Geschäft des sunnitischen Händlers einkleidete. Zwischen den beiden Männern entwickelte sich sogar eine Freundschaft. „Onkel“ nannte Wassim den Offizier. Seit der Verhaftung seines ältesten Sohnes hat Wassims Vater den Kontakt jedoch abgebrochen. Er will nicht mehr mit dem alawitischen Offizier reden, obwohl jener, wenn er wollte, fast alles erreichen könnte. Durch Heirat gehört er zum engeren Kreis um Staatspräsident Assad.

Wassim hält die Kontaktsperre nicht aus. Er will nichts unversucht lassen, um den Bruder zu retten. Regelmäßig ruft er in Damaskus an, von Deutschland aus, er hat eine Prepaid-Karte über 18 Euro, die er jeden Monat von seiner Unterstützung für Asylbewerber kauft. Und mit freundlicher Stimme sagt er: Onkel, wir vergessen dich nicht.

Vor einigen Wochen teilte ihm der Onkel mit, dass Wassims Bruder demnächst verhört werden solle. Sicher ist sich Wassim nicht, ob diese Information stimmt oder der Onkel ihn einfach vertrösten wollte. Aber er hofft wieder. Und sehnt den Tag herbei, an dem Anklage gegen den Bruder erhoben wird. Denn wenn ein Verfahren eröffnet würde, könnte die Familie einen Verteidiger beauftragen und Einsicht in die Prozessunterlagen beantragen. Sie könnte endlich etwas tun.

Die Ungewissheit und das Warten sind schrecklich. Für den Vater, der durch nichts mehr abgelenkt wird, seitdem er wegen zwei Herzinfarkten keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen kann. Für Wassim, dessen Tage sich in erzwungener Untätigkeit endlos dehnen und dunklen Gedanken Raum geben.

Er schläft schlecht, schreckt nachts aus dem Schlaf

Im Flüchtlingsheim ist Wassim noch dünnhäutiger geworden, als er bereits zuvor war. Er schläft schlecht. Schreckt hoch, wenn einer seiner Mitbewohner nachts nach Hause zurückkehrt. Schreckt hoch, wenn die Serben im Nebenraum streiten und ihre Versöhnung anschließend lautstark besiegeln. Schreckt hoch, wenn ihn im Traum die Bilder von Folter verfolgen – wegen des Bruders und seiner eigenen Geschichte.

Bei einer Demonstration im Frühjahr 2012 hatte er nur neugierig am Straßenrand gestanden und war doch mit Hunderten von Demonstranten im Gefängnis gelandet. Die ersten zehn Tage saß er in Einzelhaft, die letzten fünf Tage mit 600 Personen in einem Raum, in dem er nicht liegen und nicht sitzen konnte, sondern eingekeilt zwischen den anderen stehen und im Stehen schlafen musste, indem er sich auf die Nachbarn stützte. Über die Folter während der Einzelhaft kann er nicht reden. Reden kann er allein über die weniger schlimmen Tage, als es für mehrere hundert Zelleninsassen nur eine einzige Toilette gab, das Wasser zum Trinken aus der Leitung direkt über der Hocktoilette stammte und die Inhaftierten ihre kargen Essensrationen nacheinander aßen, da der Platz nicht ausreichte, um das Brot vor dem Körper zu halten.

Schlimm sind auch die Bilder, die sich in ihm festsetzten, als er 2012 mehrere Monate als Arzt in einem provisorischen Krankenhaus seines Heimatortes arbeitete. Die meisten Fotos auf der Speicherkarte seines Handys hat Wassim gelöscht. Bei Kontrollen durch Regierungssoldaten hätten sie als Grund für eine Verhaftung herangezogen werden können. Doch einige wenige Fotos hat er gerettet.

Das erste Bild zeigt die Nachbarskinder: Dem Älteren rissen Geschosse die rechte Hirnhälfte weg, dem Jüngeren sprengten sie ein faustgroßes Loch in den Bauch. Auf dem zweiten Bild der Rücken eines Mannes: Blechteile seines Autos gruben sich bei einem Angriff mehrere Zentimeter tief ins Fleisch. Dann die Nahaufnahme eines Mannes mit schreckgeweiteten, fast irren Augen – seine untere Gesichtshälfte hängt wie ein blutiger Klumpen nur an den Kiefergelenken. Weder Wassim noch seine Kollegen haben sich jemals erkundigt, wie die Operationen von Schwerstverwundeten verliefen. Sie wollten es nicht wissen. Man konnte so verdammt wenig tun.

Die Ärzte arbeiteten selbst unter großer Gefahr. Informanten gaben ihre genauen Arbeitsstellen weiter, Krankenhäuser, Krankenwagen, selbst provisorische medizinische Hilfsstationen gerieten unter gezielten Beschuss der Regierungstruppen. Als der naheliegende Basar in Wassims Heimatort von einer Rakete getroffen wurde, die eigentlich dem Krankenhaus galt, flüchtete ein Teil seiner Kollegen in die Türkei. Wassim hielt es nur wenig länger aus. Im Oktober setzte auch er sich ab. Bitter, traumatisiert.

Der Preis der Flucht: 2500 Euro nimmt der Schlepper ihm ab.

Da die Türkei keine Zukunft für ihn bot, suchte er nach einem Ausweg in Deutschland. Doch wie? Sein syrischer Reisepass war abgelaufen. Die legalen Möglichkeiten schienen versperrt. Eines Tages hörte Wassims Vater von dem Bekannten eines Bekannten: Angeblich schmuggelte er Leute per Flugzeug nach Deutschland. Die zweieinhalbtausend Euro, die Wassim besaß, waren leider nur ein Bruchteil der geforderten Summe. Der Deal drohte zu scheitern. Aufgrund von Wassims Einsatz als Arzt gab sich der Schlepper schließlich mit der geringen Summe zufrieden. Außerdem hatte er sich durch ein Foto überzeugt, dass Wassims Haut „hell“ genug war, um als Deutscher durchzugehen.

So gelangte Wassim auf dem Istanbuler Flughafen unter Umgehung aller Kontrollen in ein Flugzeug, das am späten Abend des 8. Juni 2013 in Tegel landete. Einer Polizistin, die vor der Gepäckausgabe die Ausweise der Passagiere kontrollierte, bekannte er stammelnd: No documents, no documents.

Auf dem Flughafen bricht er in Tränen aus

Doch die Polizistin lächelte. Entweder war sie aus der Türkei informiert worden, oder sie hatte ein offenes Herz für einen Syrer, der nicht auf dem ausgehandelten Weg für Kontingentflüchtlinge angereist war. Wassim brach in Tränen aus. Tränen der Erleichterung und der Freude. Er hatte es geschafft. Ausgestattet mit der Adresse der Zentralen Aufnahmeeinrichtung des Landes Berlin leitete er am nächsten Morgen in der Moabiter Turmstraße sein Asylverfahren ein.

Er hatte gedacht, alles würde gut, wenn er endlich als Flüchtling anerkannt wäre. Er war fest überzeugt, der positive Bescheid würde ihm die Tür zur Welt öffnen: zum Sprachkurs, zur eigenen Wohnung, zur Spezialisierung als Arzt. Nach fast acht Monaten wurde er tatsächlich als Flüchtling anerkannt. Doch die Lebensumstände änderten sich nicht so schnell.

Noch immer lebt er auf den vier Quadratmetern seiner Koje in der Notunterkunft von Moabit. Im Unterschied zu vielen anderen Syrern hat er keine Verwandten, die einen Immobilienmakler bezahlen oder ihm eine Wohnung mieten könnten. Der Deutschkurs steht ihm erst zu, wenn ihm in ein paar Wochen sein Pass ausgehändigt wird. Am schmerzlichsten ist aber die Erkenntnis, dass die Hoffnung auf ein neues Leben in Deutschland die Schatten seines alten Lebens in Syrien nicht einfach vertreiben kann.

In wenigen Tagen wird er wieder in Damaskus anrufen. Und wieder wird er mit freundlicher Stimme sagen, als müsste er seinen Gesprächspartner aufmuntern: Onkel, wir vergessen dich nicht.

Eigentlich aber ist er es, der sehnlichst darauf wartet, Aufmunterndes vom Onkel zu hören: Wassim, ich vergesse euch nicht! Wassim, ich werde mich für deinen Bruder einsetzen!

Helga Hirsch ist Publizistin und freie Beraterin von Bundespräsident Joachim Gauck.

Helga Hirsch

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