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Willkommensgruß. Am Hafen von Lampedusa hat die Inselgemeinde eine Statue errichtet. Sie sieht aus wie ein auferstehender Christus, der aus den Resten eines Boots steigt.

© dpa

Flüchtlingsdramen: Lampedusa - Die Ruhe nach dem Sturm

Auf der italienischen Insel Lampedusa atmen sie auf: Seit neun Monaten ist auf dem kleinen Flecken im Mittelmeer kein Flüchtling mehr gestrandet. Das Problem hat sich damit aber keineswegs erledigt. Nur verlagert.

Den Schiffsfriedhof am Hafen von Lampedusa haben sie stillgelegt. Auf dem sandigen Platz gleich am Wasser vermodern noch ein paar Holzschiffe, auf deren Bug arabische Schriftzeichen zu sehen sind. Mit diesen Booten sind Flüchtlinge übers Mittelmeer gefahren. Manche haben dunkle Löcher im Bauch, die meisten Masten sind gebrochen. Jahrelang hat die Küstenwache die Boote auf den Platz am Hafen gebracht. Jetzt, so berichten es die Fischer der Insel, versenken die Küstenwächter die Schiffe im Meer, sobald sie die Flüchtlinge an Bord geholt haben.

Seit 1999 gibt es auf der Insel ein Auffanglager. Seitdem haben mehr als 200 000 Menschen, die nach Europa wollen, die Insel erreicht. In Nordafrika heißt das Schmuggeln von Menschen noch heute „Lampa-Lampa-Business“. In Europa ist die Insel Symbol für den Flüchtlingsstrom, der von Afrika nach Europa zieht – und für die vielen Menschen, die im Mittelmeer sterben. Mehr als 7000 Menschen sind in den vergangenen 15 Jahren ertrunken oder verdurstet.

Kein Flüchtling ist auf der Insel zu sehen

Und heute? Kein Flüchtling ist auf der Insel mehr zu sehen. „Seht ihr? Kein einziger Schwarzer!“, sagt Teresa, Rezeptionistin des einzigen Campingplatzes von Lampedusa. „Gott sei Dank ist dieses Jahr kein Afrikaner mehr da“, erklärt ein Cafébesitzer einem Urlauber. Und er schiebt hinterher: „diese armen Leute“.

Seit vergangenem Oktober werden die Flüchtlinge, die die italienische Marine auf dem Meer aufnimmt, nicht mehr nach Lampedusa, auf diesen Kalkfleck im Mittelmeer, 210 Kilometer südlich von Sizilien, 120 Kilometer östlich von Tunesien, sondern nach Sizilien gebracht.

Dieser Änderung der italienischen Flüchtlingspolitik war ein Drama vorausgegangen. Am 3. Oktober 2013 ertranken mehr als 366 Menschen keinen Kilometer vor der Insel. Danach wurde die Erstaufnahmeeinrichtung auf der Insel geschlossen. Offiziell heißt es, die drei ockerfarbenen Gebäude würden saniert. aber Bauarbeiter sind auf dem Gelände nicht zu sehen, dafür viele Polizisten und Soldaten. Und niemand weiß, wann das Zentrum wieder öffnet, nicht mal die Bürgermeisterin von Lampedusa. Der 3. Oktober war eine Zäsur.

5000 Einwohner hat die Insel, die vom Tourismus lebt

Wer auf der Insel vom Tourismus lebt, und das sind fast alle 5000 Bewohner, freut sich, dass die Flüchtlinge weg sind. Bis vor einigen Jahren kamen jeden Sommer 150 000 Gäste auf die Insel, die so groß wie Amrum ist und die man mit dem Motorroller in weniger als einer Stunde umrundet hat. Wo es im Sommer 50 Grad heiß und staubig ist, wenn der Schirokko-Wind aus Afrika weht, wo kein Baum Schatten spendet und wo es nur zwei kleine Sandstrände gibt. Manche auf der Insel sagen, dass die Popularität auch mit den Schlagzeilen zu tun hatte. Wenn das stimmt, dann waren es den Urlaubern jetzt wohl zu viele Schlagzeilen. In den vergangenen Jahren blieben immer mehr Touristen fern. So wenige wie dieses Jahr waren noch nie da.

„Lampedusa gilt fälschlicherweise als Flüchtlingsinsel“, sagt eine Mitarbeiterin der Bürgermeisterin im Rathaus, einem flachen Bau, der an die Zeit erinnert, als Lampedusa noch eine Fischerinsel war. Taue dienen als Geländer, an den Wänden hängen gerahmte Knoten. „Die Flüchtlinge haben immer im Auffanglager gelebt, nur manchmal sind sie rausgegangen. Und es sind selten Boote am Strand angekommen – sie wurden fast immer im Meer abgefangen.“

Gegensteuern. Die neue Politik nach der Katastrophe vom 3. Oktober

Ganz stimmt das nicht. Bis zum 3. Oktober suchte die Küstenwache nicht nach Flüchtlingsbooten, reagierte manchmal nicht einmal auf Notrufe oder erklärte den Schiffbrüchigen, man sei nicht zuständig. Und jeder, der Flüchtlinge in Seenot rettete und an die italienische Küste brachte, konnte wegen Beihilfe zur illegalen Grenzüberschreitung belangt werden. Auch die Überlebenden des 3. Oktober berichteten, dass sich kurz vor dem Untergang ihres Schiffes zwei Boote genähert hatten und dann wieder abgedreht waren. Einige identifizierten die Boote als Schiffe der Küstenwache.

Die Küstenwache hat jetzt einen neuen Auftrag

Das hat sich nun geändert. Seit dem 3. Oktober ist es offizielle Aufgabe der Küstenwache, Flüchtlinge aus dem Meer zu holen. Das italienische Verteidigungsministerium beschloss am Tag danach zu diesem Zweck die „Operation Mare Nostrum“ und rüstete von da an im Mittelmeer auf. Die EU zog nach. Sie einigte sich zwei Wochen später auf das Überwachungssystem „Eurosur“, das „einen Beitrag zur Rettung des Lebens von Migranten leisten“ soll. Seit Januar bewachen das Mittelmeer: ein Docklandungsschiff, zwei Fregatten, zwei Patrouillenboote, Flugzeuge, Hubschrauber mit Nachtsichtgeräten, Predator-Drohnen, viele kleine Boote, außerdem der italienische Zoll, die Seepolizei, die Luftwaffe, einige Schiffe von Frontex und ein Schiff aus Slowenien.

Ob die Militarisierung des Meers den Bootsflüchtlingen hilft? Die Marine erklärt, seit Januar mehr als 70 000 gerettet zu haben. Gleichzeitig sind nach UN-Angaben mehr als 500 Flüchtlinge bei der Überquerung des Mittelmeers gestorben, erst vor zwei Wochen ertranken wieder 45 Menschen. Im vergangenen Jahr erreichten 43 000 Italien, es starben mindestens 700.

Dass dieses Jahr so viel mehr Flüchtlinge kommen als in den vergangenen Jahren, liegt vor allem daran, dass derzeit so viele Menschen auf der Flucht sind wie zuletzt nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber es scheint sich auch herumgesprochen zu haben, dass der Fluchtweg übers Mittelmeer sicherer geworden ist. Immer mehr Menschen aus Westafrika setzen nach Italien über. Früher steuerten sie die Kanaren und Südspanien an.

400 Menschen auf der Insel leben heute noch vom Fischen

„Ich fahre nicht mehr aufs Meer, ohne den Gedanken, dass da draußen ein Flüchtlingsboot in Seenot sein könnte“, brummt morgens am Hafen der Fischer Piero Billeci, ein bulliger Mittfünfziger mit Schnauzer und stoppeligem Haar. Gerade ist er zurückgekommen vom Meer, jetzt spült er Fischschuppen und Algen vom Deck seines Kutters. Er ist einer von knapp 400 Fischern der Insel, früher lebten fast alle Familien vom Fischfang. Jetzt im Sommer fahren nur wenige aufs Meer, lukrativer ist es, tagsüber Urlauber um die Insel zu schippern. Billeci würde das nicht machen, schließlich ist er Fischer.

Am 3. Oktober hat er geholfen, die Schiffbrüchigen zu retten – und die Leichen zu bergen. Es war nicht das einzige Mal. Gerade wurden er und seine Kollegen von einer italienischen Friedensstiftung in Rom ausgezeichnet, weil die Fischer von Lampedusa in den vergangenen Jahren so viele Flüchtlinge aus dem Meer gerettet haben. Billeci wollte den Preis erst gar nicht annehmen. „Wir sind keine Helden. Ein Fischer wird einen Schiffbrüchigen niemals seinem Schicksal überlassen“, sagt er, dann springt er, angesichts seiner Körperfülle erstaunlich flott, vom Schiff. „Meine Familie wartet.“

Unangenehme Erinnerungen: Das Museum der Immigration

Billeci ist nicht der einzige Lampedusaner, der den Flüchtlingsstrom nicht verdrängen kann, der ja nicht verschwunden, sondern nur umgeleitet und sogar noch größer geworden ist. „Tut mir leid, dass ich euch an etwas Unangenehmes erinnern muss“, sagt am Abend der Musiker Giacomo Sferlazzo, Mitte 30, schwarzer Vollbart, lange Haare, auf der einzigen Bühne der Insel. Dann singt er von den Flüchtlingen, „von denen es nur manche auf unsere Insel geschafft haben“, von den Menschen, „die die gleiche Luft atmen wie wir“. Im März hat Sferlazzo das Museum der Immigration eröffnet, am Hafen, gleich neben dem Schiffsfriedhof. Dort stellt er Dinge aus, die Flüchtlinge auf Lampedusa zurückgelassen haben. Seit neun Jahren sammelt er Fotos, Bücher, Proviant, Kleidung, die auf den Booten am Schiffsfriedhof liegen blieben oder an der Küste angespült werden. Er sagt, „diese Menschen können unser Leben bereichern, wenn wir es zulassen“.

Seit Januar ist sie in Flüchtlingszentren unterwegs

Zu Sferlazzos Konzert ist auch Marzia Trovato gekommen, eine 30-jährige Soziologin aus Sizilien. Eineinhalb Jahre hat sie auf Lampedusa für verschiedene Vereine die Situation der Flüchtlinge untersucht, Interviews geführt, die Unterbringung geprüft. Seit Januar ist sie in den Flüchtlingszentren in Sizilien unterwegs. Nach Lampedusa kommt sie jetzt nur noch, um Freunde zu besuchen. In ein paar Tagen fliegt sie zurück nach Palermo. Sie will unter den Flüchtlingen von Sizilien die Überlebenden des jüngsten Schiffsunglücks suchen, herausfinden, wie es dazu kommen konnte. Zunächst in Pozzallo, im Südosten der Insel.

Das Urlaubsörtchen liegt in einer der schönsten Buchten Siziliens und gilt als „das neue Lampedusa“. Seit Oktober werden die meisten Bootsflüchtlinge hierher gebracht. Im Hafen gibt es ein Auffanglager, ein ehemaliges Zolldepot, ein riesiger Raum voller Stockbetten und ohne Fenster. Fast täglich bringt die Küstenwache Flüchtlinge vorbei. Offiziell ist hier Platz für 180 Menschen. Seit Oktober schlafen dort jede Nacht mehr als 300 Flüchtlinge. Laut Gesetz sollen die Menschen höchstens drei Tage in den Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben. Doch wie auf Lampedusa ist es schwierig, das einzuhalten. Die Gemeinde muss für die Flüchtlinge erst Plätze in einem der Heime finden. Das wird immer schwieriger. Zwar öffnen fast täglich neue, improvisierte Zentren – Pensionen, Turnhallen, Klöster –, doch die Plätze sind schnell weg.

Nur für ein paar Stunden am Tag dürfen die Flüchtlinge aus dem Lager

In Pozzallo dürfen die Flüchtlinge jeden Tag nur ein paar Stunden das Lager verlassen. Die Turnhalle im Zentrum, die kurzfristig als Unterkunft für die Flüchtlinge diente, musste wieder schließen. Die Bewohner klagten, die vielen Schwarzen in der Stadt würden Urlauber verschrecken. Fragt man die Hotelbesitzer, erklärt jedoch keiner, Umsatzeinbußen zu haben. Enrico Caruso, der Besitzer einer Pension, sagt sogar, er habe mehr Gäste als bisher, im Herbst habe zum Beispiel Ärzte ohne Grenzen Mitarbeiter bei ihm untergebracht. Er sagt auch: „Die Polizei und die Marine machen einen sehr guten Job: Es sind so gut wie keine Flüchtlinge in der Stadt zu sehen, sie bleiben am Hafen.“

Als Marzia Trovato Pozzallo besucht, stehen etwa 100 schwarze Männer und ein paar Frauen in Grüppchen vor der Unterkunft, sie sehen erschöpft aus. Mit freundlichem Lächeln stellt sich Trovato vor, erklärt, dass sie für eine NGO nach Überlebenden des Schiffsunglücks vor einer Woche sucht. „Seid ihr vor sieben Tagen angekommen?“ Immer wieder Kopfschütteln. Keiner weiß etwas. Aber alle wollen reden, fragen. Trovato hört ruhig zu, erklärt, als ein junger Mann fragt, wie es jetzt für ihn weitergeht. Schreibt in ihren Notizblock, dass ein Mann aus Mali über das Essen klagt und als ein paar junge Frauen aus dem Senegal erzählen, dass sie schon seit einer Woche da sind, zwei Tage länger als gesetzlich vorgeschrieben. Als sie mit allen gesprochen hat, winkt sie in die Runde, steigt in ihren alten Fiat Panda und rumpelt zurück nach Ragusa, wo sie bei den Eltern wohnt, seit sie das Studium in Rom abgeschlossen hat.

„Ich wusste, dass es schwer wird, die Überlebenden zu finden“, sagt sie und schaltet das Radio ein. Trotzdem klingt sie ein wenig frustriert. Später sagt Marzia Trovato in einem Café in Ragusa, Europa müsse endlich aufhören, Flüchtlinge mit der Asylpolitik dazu zu zwingen, ihr Leben auf dem Mittelmeer zu riskieren. „Aber ich habe das Gefühl, eine echte Lösung für das Flüchtlingsproblem ist gar nicht gewollt.“ In Italien, glaubt sie, sei die Einwanderung mittlerweile ein großes Geschäft. Den Betreibern der Flüchtlingseinrichtungen zahlt der italienische Staat pro Tag und pro Flüchtling immerhin 45 Euro. Und Falco Accame, früher Vorsitzender des Verteidigungsausschusses des italienischen Parlaments, hat gegenüber der italienischen Tageszeitung „Il Fatto Quotidiano“ angedeutet, die Rüstungsindustrie habe bei der Planung von „Mare Nostrum“ Einfluss genommen. „Wozu braucht man Drohnen im Mittelmeer?“, fragt er. „Drohnen setzt man ein, wenn die Piloten gefährdet sind oder wenn das Terrain nicht gut einsehbar ist. Doch nicht im Meer.“

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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