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Grünes Bündnis. „Prachttomaten“-Gärtner und, mit Sonnenbrille und offenem Hemd, ihr Dauerzaungast Achim. Der schätzt „die bekloppten Bauwerke“ hier.

© Doris Spiekermann-Klaas

Gemeinschaftsgarten in Neukölln: Auf Gedeih und Verderb

Die Leute vom Gemeinschaftsgarten „Prachttomate“ haben aus einer Neuköllner Müllecke ein grünes Paradies gemacht – und damit dessen Bedrohung befördert.

Als einer der Gärtner 2015 bei „Immobilienscout“ entdeckte, dass eine Dachgeschosswohnung im Nachbarhaus mit ihrem Garten beworben wurde, wussten sie, da lief etwas schief.

Da ackerten sie seit Jahren gegen Verdrängung, gegen Gentrifizierung, für gemeinschaftlich genutzte städtische Flächen. Sie hatten das Kunststück vollbracht, eine beinahe komplett versiegelte Brache in einen blühenden Gemeinschaftsgarten zu verwandeln, aber ehe sie sich versehen, sind sie die Möhre in der Berliner Immobilien-Eselei. Anlockfutter für Investoren. Benutzt durch die Makler der Stadt. Ausgerechnet sie trieben nun die Preise in die Höhe. Dabei wollten sie die Alternative sein, nicht Teil des Problems. Und auch nicht dessen Opfer.

Zehn bis fünfzehn Leute betreiben die „Prachttomate“, den Gemeinschaftsgarten in der Bornsdorfer Straße in Neukölln. Jeder darf mitmachen. Die Ernte wird geteilt unter denen, die da sind. Gärtnern ist dienstags und freitags, Kochen am Donnerstag, Filme sehen sporadisch. Jäten ist immer. Die Vielfalt der Menschen, die kommen, ist so groß wie die der Pflanzen: Franzosen und andere Zugezogene, Berliner. Endemische Arten sind ja auch unter den Bewohnern der Stadt selten.

Pflanzen sind politisch

Und magischerweise funktioniert hier ein internationales Miteinander, eine Stadt im Kleinen, mit Absprachen, Abstimmungen und Plenumssitzungen. Sicher ist das hier ein Biotop. Aber vielleicht sogar ein Sapiotop, Schutzraum für den Homo sapiens. Gärtner in den Städten haben in den letzten 15 Jahren einen beispiellosen Aufstieg erfahren. Vom einfachsten Dienstleister mit tumbem Image ist er zu einem politischen Akteur geworden. Gärten sind Lebensqualität, und Lebensqualität ist ein Standortfaktor. Pflanzen sind also politisch.

Nun aber haben die Eigentümer einer der drei Teilflächen, auf denen die „Prachttomate“ wurzelt, den Gärtnern gekündigt. Termingerecht zum 30. September, mit einer geduldeten Weiternutzung der Fläche bis Mitte November. Dass die Eigentümer verkaufen wollten, wusste man schon länger. Ganz unerwartet kam die Kündigung also nicht. Was nun?

Filmvorführungen werde es „in der gewohnten Form“ wohl nicht mehr geben, sagt Thomas, einer der Gärtner. Den monatlich stattfindenden „Floh-Tausch-Schenke-Markt“ wohl auch nicht. Das - genauso wie alles andere hier öffentliche - Sommerfest am ersten Septembersamstag aber sehr wohl.

Bei 32 Grad in der tropischen Schwüle des Sommers 2017 wissen die Pflanzen nichts von ihrem politischen Auftrag. Sie folgen einfach ihrem eingeschriebenen Code gemäß ihrer DNS. Es rankt, blüht und fruchtet. Unter ihrem transparenten Dach erröten die Tomaten. Wahrscheinlich, weil es nur aus Plastik ist.

Der Dahliengarten wurzelt seelenruhig in vier Badewannen. Nebenan eine kleine Flotte an Einkaufswagen, fünf in einer Reihe, bepflanzt mit jeweils einer anderen Sorte Kartoffeln. Die Wagen, „wir klauen die nicht selbst“, sagt Vanessa. Sie nehmen nur das, was auf der Straße steht. Es gibt ja große Vorkommen wilder Einkaufswagen in Neukölln, das ist hier quasi deren natürliche Umwelt.

Vanessa, Doktorandin der urbanen Ökophysiologie, hat den Garten mit begründet. Als sie 2011 anfingen, war sie noch Studentin. Thomas, der drahtige, grauhaarige Lockenkopf, war auch mit dabei. Er holt gerade Gläser und Getränke aus dem Bauwagen. Weil sie sonst auch immer alles zusammen im Plenum entscheiden, wollen Vanessa, Thomas, Johannes, Paulina, Anja und Kerstin von ihrem Garten in einer großen Runde erzählen. Und da sie alle ein unterschiedliches Verhältnis zu ihrer Privatsphäre haben, ist es einfacher, wenn man mit allen beim Vornamen bleibt.

Alles begann damit, sagt Vanessa, dass die Wohnungsbaugenossenschaft „Stadt und Land“ für die Gründer einen Schuttcontainer spendierte. Schon bei diesem ersten Aufräumen auf der vermüllten Brache halfen Nachbarn spontan. Die ersten Pflanzen wässerten sie aus der öffentlichen Wasserpumpe auf dem Gehsteig.

Sind die wilden Gärtner die Hausbesetzer der Gegenwart?

Grünes Bündnis. „Prachttomaten“-Gärtner und, mit Sonnenbrille und offenem Hemd, ihr Dauerzaungast Achim. Der schätzt „die bekloppten Bauwerke“ hier.
Grünes Bündnis. „Prachttomaten“-Gärtner und, mit Sonnenbrille und offenem Hemd, ihr Dauerzaungast Achim. Der schätzt „die bekloppten Bauwerke“ hier.

© Doris Spiekermann-Klaas

Anja bringt seit vier Jahren ihr Gespür für Kompost ein. Drei Mieten für geregelte Verrottung. Sie wollte an die frische Luft „ohne das gleich Sport nennen zu müssen“. Sie wuchs als Stadtpflanze in Treptow auf, mit Blick auf den öden Mauerstreifen, der erst im Nachhinein zum Biotop erklärt wurde. Nun kennt ihre Tochter diesen Garten von klein auf.

Vielleicht sind die Berliner Gartengründer die Hausbesetzer der Gegenwart? Nicht mehr wild, aber wild entschlossen. Es stehen ja keine Häuser mehr leer, die man besetzen könnte, aber Lücken sind noch da. „Wobei wir legal sind“, betont Thomas. Von Anfang an hatte die „Prachttomate“ für ihre ungefähr 1700 Quadratmeter einen Nutzungsvertrag. Ein Teil der Fläche gehört der „Stadt und Land“, zwei weitere Teile Privateigentümern.

Paulina öffnet eine blaue Ikea-Tüte: „Falls ihr Interesse habt!“ Sie kommt gerade vom Food-Sharing und verteilt Kuchen, der sonst am Abend weggeworfen worden wäre. Sie kennt Studien, nach denen schon innerhalb der nächsten zwei Generationen die Umweltbelastung in den Städten gewaltig sein wird. Umso wichtiger werde das Mikroklima. Wenn schon Autokonzerne nichts tun, dann halten sie hier einen natürlichen Abgasfilter bereit.

Paulina kommt aus Pankow, war Schneiderin, dann hat sie in Flensburg Textillehre und Kunst studiert. Aus dem Garten ihrer Eltern in Thüringen bringt sie immer mal wieder eine diffuse Begeisterung für Breitwegerich-Salate mit. Dabei musste sie das Gartenwissen erst sammeln: „Ich wusste nicht, dass Tomaten nachreifen.“ Sie wusste auch nicht, dass Erdbeerpflanzen im nächsten Jahr noch einmal tragen. Ihre Tochter sitzt gern im Buddelkasten und wird alle diese Kenntnisse später einmal für selbstverständlich halten.

Das Paradies wird ja immer als Garten beschrieben. Im christlichen Abendland gilt die freie Nutzung als Belohnung für Wohlverhalten. Und hier wollen sie alle Sachen richtig machen: Sie wollten nicht einfach Geld verdienen und das dann investieren, alles sollte von unten aus der Nachbarschaft erwachsen.

Ihre Samen beziehen sie vom Verein zur Erhaltung und Rekultivierung von Nutzpflanzen, um nebenbei gefährdete Arten zu retten. Gefährdete Jugendliche haben den Geräteschuppen gebaut. Feuerholz spenden Nachbarn. Das Café „Hofperle“ lässt ihre Gäste aufs Klo. Die Hortgruppe der Kita „Großstadtgören“ bekam eigene Beete. Sie guckten Filme zur Verdrängungsproblematik. Im letzten Jahr hielten zwei Leute einen Workshop ab über die Gewinnung von Salben, speziell mit dem Wirkstoff der Ringelblume. Kontakte haben sie auch zu Reitern, von denen sie Pferdeäpfel als Dünger bekommen. Therapiepferde haben sie geschissen.

Es gibt eigentlich kein Budget. „Es passiert hier das, was die Leute machen“, sagt Johannes. Jeder bringt ein, was er kann. Er selbst hat in Hamburg Sonderpädagogik studiert. Als er im Herbst letzten Jahres zum ersten Mal vorbeikam, drückte man ihm gleich einen Kürbis in die Hand. Da war es um ihn geschehen.

Unterm Pflaster liegt der Strand. Mutterboden wäre besser

So wie Samen vorbeiwehen und bei fruchtbarem Boden aufgehen, kommen hier die Leute mit ihren Ideen. Ein Argentinier wusste, wie man einen Lehmofen baut. Nach zwei Jahren fuhr er zurück nach Südamerika, in seinem Ofen wird noch immer regelmäßig Pizza heiß. Vor ein paar Monaten hatte Johannes die Idee, eine Küche aufzuziehen. Seitdem kommen an Donnerstagen bis zu 60 Leute. Er kocht dann kein Menü, sondern viele verschiedene Dinge. Aufstriche, Angebratenes, zwei Salate, einen Topf Reis.

Anja, die Deutsch als Fremdsprache für Wilkommensklassen unterrichtet, brachte zum Kochabend in der letzten Woche eine in Charlottenburg lebende Ägypterin mit - und die das Kochbuch ihrer Mutter. Kerstin, eine Mutter aus der „Großstadtgören“-Kita sagt, sie will für den Sandkasten einen Deckel bauen. Die Katzen benutzen ihn zu gerne als Klo.

Im ersten Jahr, erzählen sie, hat jemand in der Nacht vor dem Sommerfest ihre Sitzgelegenheiten abgefackelt, das blieb in all den Jahren aber auch die einzige Abstoßungsreaktion. Thomas knipst ein paar Blätter von den Tomaten, damit die Sonne besser an die Früchte kommt.

Von Bäumen heißt es, ihr Wurzelraum sei genauso groß wie ihre Krone. Daraus beziehen sie ihre Nahrung. Die „Prachttomate“ entwickelte ein kraftvolles Rhizom in die Nachbarschaft. Darüber kommen Ideen, Samen, Baustoffe. Per Stromkabel verband sie sich mit einem Nachbarn, per Wasserschlauch mit einem anderen.

2015 wurde sie ein gemeinnütziger Verein und damit zum guten Zweck, für den man spenden kann. Die Mitgliedschaft kostet 20 Euro im Jahr. Das Geld für die Erde und die Samen erwirtschaften die Leute vom Gemeinschaftsgarten selbst. Am Anfang hat jemand 50 Euro in Essen investiert, dann haben sie 80 Euro an Spenden eingenommen. Da hatten sie schon einmal 30 Euro. Und so weiter.

Unterm Pflaster liegt der Strand. Aber Mutterboden wäre den land-verrückten Städtern inzwischen lieber. Nachdem die Kreuzberger „Prinzessinnengärten“ Flaggschiff eines gefeierten, neuen Genres geworden waren, ist der widerborstige „Guerilla-Gärtner“ schon fast aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Heute spricht man respektvoll von Gemeinschaftsgärten. Seitdem die Stadt Andernach in der Nähe von Koblenz sich 2013 zur „Essbaren Stadt“ erklärte, sorgt sie international für Furore. Alle Grünflächen mit Obst und Gemüse zu bepflanzen, wurde von der Stadt beschlossen und auch umgesetzt. Spätestens, seit die Immobilienpreise längs der legendären New Yorker „High Line“ in die Höhe schossen, jener spektakulär begrünten alten Eisenbahnstrecke in Manhattan, weiß die Welt, dass Gärten auch im großen Stil zur Aufwertung taugen. Schließlich sind auch Schlösser umgeben von Gärten.

Schnecken werden nicht ermordet. Sondern in Eimern weggetragen

Grünes Bündnis. „Prachttomaten“-Gärtner und, mit Sonnenbrille und offenem Hemd, ihr Dauerzaungast Achim. Der schätzt „die bekloppten Bauwerke“ hier.
Grünes Bündnis. „Prachttomaten“-Gärtner und, mit Sonnenbrille und offenem Hemd, ihr Dauerzaungast Achim. Der schätzt „die bekloppten Bauwerke“ hier.

© Doris Spiekermann-Klaas

In der Mitte des lauschigen Grundstücks wuchert Eschenahorn. „Das ist eine invasive Baumart“, sagt Vanessa, die Gartenbauwissenschaftlerin, „die ist hier nicht heimisch und breitet sich aus wie Pestilenz.“ Das klingt jetzt nach Pflanzen-AfD. Es kommt halt immer auf die Perspektive an. „Der Eschenahorn könnte unser Symbol sein“, sagt Thomas. „Er bevorzugt Brachflächen.“ „Nicht totzukriegen“, wirft Anja ein. Thomas sagt: „Eine Eigenschaft, an die wir uns anlehnen sollten.“

Wie erbittert der Kampf um den verdichteten Raum, die öffentliche Nutzung durch Grün inzwischen geführt wird, kann man am Volksentscheid zum Tempelhofer Feld erkennen. Aber keine Fläche ist inzwischen zu klein. Die Leute ringen mit der Stadt um die Bepflanzung verkackter Baumscheiben, ein Bruchteil des Platzes, den jedes Auto durch seinen Parkplatz ständig beanspruchen darf.

Erfolg hat viele Formen. Zum langen Wochenende der Stadtnatur kam ein Bus mit 40 Leuten. Die Zahl der Anfragen von Studenten, die ihre Abschlussarbeiten über das Gartenprojekt schreiben wollen, übersteigt die Zahl der Gärtner. Ein Kameramann drehte hier seinen Abschlussfilm.

Sie schätzen alle sehr, dass sie hier mit so viel Wohlwollen, in großem Einvernehmen gärtnern können. Doch zum ersten Mal schaute sich vor zwei Jahren der Bezirk den Garten an. „Irgendwas mit Sport“ könne doch an diese Stelle. Nach vielen Gesprächen haben sie mühsam herausgefunden, dass es einen behördeninternen Aufruf an die Fachabteilungen gab, zu überlegen, ob und was gebaut werden soll im „Block 152“, zu dem auch die Gartenfläche gehört. Eine Sporthalle war eine Idee. Thomas sieht überhaupt nicht ein, warum „irgendwas mit Sport“ mehr wert sein soll als ihr städtisches Naherholungsgebiet.

Schade, sagt Thomas, dass urbane Gärten generell als Zwischennutzung angesehen werden. Der Senat müsste die Flächen als Bildungsstandort deklarieren, Gärten müssten vergleichbar sein mit anderen sozialen Projekten, mit Turnhallen und Sportplätzen. Sie sind ja nutzbar für alle, auch Randgruppen, Alte und Leute, die die deutsche Sprache nicht verstehen.

Dann erzählen sie von Achim. Achim ist auch so etwas wie eine alte Sorte, sein Vorkommen immer seltener. Es ist der Berliner, der auf freundlich-maulige Art laufend Hinweise gibt, die manchmal sogar nützlich sind. Vom Fenster seines 70er-Jahre-Hochhauses gegenüber könne er den Garten sehen. Er erscheine, wenn was los ist.

Detroit blutete aus - Berlin wird immer voller

Und da kommt er schon, mit fast offenem Hemd über dem nackten Bauch, die Füße schubbern in Plastiklatschen. Er habe sich schon gewundert, was sie da schon wieder alle zusammensitzen, wo doch die dringendsten Dinge noch nicht erledigt sind. Die Lüftungsklappe im Gewächshausdach zum Beispiel. Jedes Gewächshaus habe eine. Aber hier? Bloß Querlüftung.

Warum er diesen Garten mag? In Berlin dürfe man ja sowieso rumlaufen, wie man wolle. „Aber hier noch ein bisschen wilder“, sagt Achim. Er schätzt „die bekloppten Bauwerke“ wie die Treppe aus Paletten. „Ein Paradebeispiel der vollendeten Idiotie.“ Achim darf das alles sagen. „Wieso, hält doch“, sagt Vanessa. Achim kennt sich mit Elektrik aus und hat recht behalten in Hinblick auf die Durchmesser der Gartenschläuche. Aber in den meisten Dingen bestehen die Gärtner doch auf ihre eigenen Methoden.

„Wir sind ein pazifistischer Garten“, sagt Thomas. Nacktschnecken werden nicht ermordet, sondern in Eimern hinüber ins öffentliche Grün getragen. Andere Gärtner haben ja nur Blattläuse und Nacktschnecken als natürliche Feinde. Sie dagegen haben noch die Haie: Seit 2013 sei der Bodenrichtwert in dieser Gegend von 700 auf über 1400 Euro pro Quadratmeter gestiegen, sagt Vanessa. „Jetzt kann man abschöpfen“.

Berlin ist nicht Detroit, wo die gefeierte Stadtlandwirtschaft begann, als die Leute nach dem Niedergang der Autoindustrie die verlassenen Häuser und Gärten bepflanzten. Detroit blutete aus, Berlin wird immer voller. Im Garten führt hohe Dichte zu Wurzelkonkurrenz.

Es ist unklar, was nach der Kündigung mit dem Teilgrundstück geschehen soll. Schon Ende Juli schnitten sich die Gärtner Tomatenmasken aus Pappe und gingen zur Versammlung der Neuköllner Bezirksverordneten. Sie haben Angst, eine Verkleinerung des Gartens könnte der Anfang vom Ende sein.

Den Berliner Hausbesetzern der 80er Jahre hat man trotz aller Gegenwehr zu der Zeit im Nachhinein bescheinigt, den Altbaubestand der Stadt gerettet zu haben. Vielleicht wird man den Gärtnern auch irgendwann dankbar sein.

Mitarbeit: Madlen Haarbach

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