zum Hauptinhalt
In einer Athener Solidaritätsklinik helfen Freiwillige den Menschen, die aus dem Gesundheitssystem gefallen sind.

© picture alliance / dpa

Griechisches Gesundheitssystem kollabiert: Schlinge um den Hals

Bis zur Krise in Griechenland hat der Anwalt Nikos M. gut verdient. Jetzt ist er gestürzt, hat Schmerzen im Arm, und es reicht nicht mal für einen Arztbesuch. In seiner Not wendet er sich an eine „Klinik der Solidarität“. Die sind für Tausende die einzige Hoffnung.

Als Nikos M. den Warteraum der Klinik betritt, wirkt er fehl am Platz. Zu gut situiert. Grauer, weich fallender Mantel, Stoffhose, Hemd, Lederschuhe, gute Qualität. Doch geht es dem 54-jährigen Anwalt nicht anders als vielen Griechen derzeit. Er kann sich eine ärztliche Behandlung nicht mehr leisten. Deshalb ist er hierher gekommen, in die K. I. F. A., die Soziale Arztpraxis und Apotheke Athen. Es ist eine sogenannte „Klinik der Solidarität“, sie befindet sich im alternativ geprägten Stadtteil Exarchia im Zentrum der griechischen Hauptstadt und ist für Menschen wie Nikos M. zur einzigen Hoffnung geworden.

M.s Arm ist gebrochen. Er trägt ihn in einer Schlinge.

Er sei auf der Treppe ausgerutscht und hingefallen, sagt M., nun hat er Schmerzen. Eigentlich nichts, was ihn beunruhigen müsste, ein dummer Zufalle eben, doch in diesen Zeiten könnte daraus ein Drama werden. „Weil einfach das Geld dafür fehlt“, sagt er.

Es ist voll, viele schämen sich

Dafür – Nikos M. kann schon seit einiger Zeit seine Krankenversicherungsbeiträge nicht mehr zahlen. Damit ist er ausgeschlossen vom Gesundheitssystem des Landes. Der leicht gedrungene Mann betreibt eine eigene Kanzlei. Doch mit Fortschreiten der Wirtschaftskrise nahmen seine Aufträge immer weiter ab, berichtet er.

Sein Schwerpunkt?

Arbeitsrecht! Nikos M. lacht bitter auf. „Arbeitsrechte gibt es hier schon lange nicht mehr“, sagt er.

Mit seinem Arm hat er den Sturz auf der Treppe aufzufangen versucht. Nun schont er ihn wie etwas, an das er lieber nicht erinnert werden möchte. Die Gewerkschaften im Lande, sagt der Arbeitsrechtler, seien immer schwächer geworden, alles drehe sich um das Kapital, es sei hier nichts mehr los. Er sagt „Ausbeute“ und dass das ja „mittlerweile weltweit“ so sei.

Die Troika?

Er lacht belustigt. Die Sparpakete machten das Land kaputt. „Das sieht man doch deutlich hier, am Gesundheitssystem.“ sagt Nikos.

Ärzte jeder Fachrichtung behandeln hier kostenfrei ihre Patienten. Ungefähr 100 Helferinnen und Helfer unterstützen sie

Griechenlands Gesundheitswesen fällt in sich zusammen. Trotz des starken Bedarfs wurde eine Vielzahl von Ärzten entlassen. Die Schlangen vor den Behandlungszimmern werden immer länger. Ist das Anliegen eines Patienten zu dringend, bleibt ihm oft nur der Gang in eine Privatklinik. Aber das kostet. Zwischen zehn und 20 Euro verlangt ein Privatarzt allein für den Termin.

Die meisten Griechen können sich das nicht mehr leisten und schieben ärztliche Untersuchungen auf. Oft zu lange. Doch was bleibt ihnen übrig? Die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, wächst ständig. Viele von ihnen sind aus dem Versicherungsschutz herausgefallen. Hilfe finden sie allenfalls in „Solidarischen Kliniken“, in denen Ärzte und Helfer unentgeltlich arbeiten, um die größte Not der Menschen zu lindern.

Die K. I. F. A. in Exarchia ist eine solche Anlaufstation. Das Geld der EU, sagt Niko M. und klatscht auf seinem Stuhl in die Hände, gehe ja an die Banken, klapp!, nicht ans Volk. Klapp! „Die sogenannten Hilfspakete helfen uns also nicht.“

Eröffnet wurde die Klinik der Solidarität in Exarchia im Februar 2013. Die Räumlichkeiten befinden sich in zwei Wohnungen im zweiten und dritten Stock eines Hauses aus den 60er Jahren. Ärztinnen und Ärzte jeder Fachrichtung behandeln hier kostenfrei ihre Patienten. Ungefähr 100 Helferinnen und Helfer unterstützen sie darin, die meisten von ihnen sind kein Fachpersonal. Da ist eine arbeitslose Übersetzerin, die sich nützlich machen möchte, bis wieder ein bezahlter Job in Aussicht ist. Oder ein ehemaliger Diplomat, jetzt pensioniert, der sich für die einsetzen will, die nicht wie er abgesichert sind.

300 Ärzte verloren ihre Jobs

Medikamente, Geräte für Untersuchungen, Möbel und auch die Miete der Räume kommen durch Sach- und Geldspenden zusammen. Die Idee für eine solche Klinik der Solidarität kam erstmals in Thessaloniki auf. Sie war ursprünglich für einige der über eine Million Migranten im Land gedacht, die ohne Papiere unterwegs sind und somit keinen Zugang zum griechischen Gesundheitssystem haben. Aber bereits mit Eröffnung der Solidaritätsklinik in Thessaloniki im November 2011 zeigte sich, dass die Nachfrage der griechischen Bevölkerung mindestens ebenso groß war. Es kamen immer mehr Griechen, die ärztliche Hilfe suchten. Ihr Anteil wird derzeit auf 50 bis 70 Prozent geschätzt. Das staatliche Gesundheitssystem kann die Hilfsbedürftigen nicht auffangen. Durch die Sparauflagen wurde dieser Sektor bereits um 50 Prozent gekürzt. 3000 Ärzte verloren erst vor kurzem ihre Anstellung. Sie werden dringend gebraucht.

M. wartet. Es ist voll geworden vor den Behandlungszimmern. Die Menschen meiden es, einander anzusehen. Eine junge Frau blickt kurz auf, wendet sich wieder ab. Ihr Gesicht wirkt fahl. Viele schämen sich, hier sitzen zu müssen.

Eine unversicherte Schwangere muss 1200 Euro für einen Kaiserschnitt aufbringen. Das können die meisten nicht mehr

Offiziell sind über ein Drittel der zehn Millionen Menschen im Land nicht mehr versichert. Inoffiziell liegt die Zahl aber deutlich höher. Denn Freiberufler wie Nikos M. werden von der Statistik gar nicht erfasst, da sie sich selbständig versichern müssen. Auch waren bei vielen, die ihre Versicherung nicht mehr bezahlen können, die Familien mitversichert. Diese Personen fallen bei Zahlungsunfähigkeit nun ebenfalls aus der Versicherung.

Die Klinik der Solidarität in Exarchia hat sich mittlerweile gut etabliert und ist so gut eingerichtet, dass etwa aufwendige Zahnbehandlungen vor Ort durchgeführt werden können. Darüber hinaus ist die Klinik mit anderen Medizinzentren vernetzt. So arbeitet sie mit einem privaten Diagnostikzentrum zusammen, das im Monat ungefähr 15 Untersuchungen kostenlos übernimmt. Auch eine Apotheke ist in die Klinik integriert. In einem Zimmer stapeln sich die Arzneien in Regalen bis unter die Decke. Auch stehen mehrere Kisten mit Medikamenten auf einem Tisch. Die Medikamentenspenden bringen Leute meist persönlich vorbei. Oder die Helferinnen und Helfer machen ihre „Apothekerrunden“ zu nahe gelegenen Apotheken. Wobei sie Produkte, deren Haltbarkeitsdatum überschritten ist, ablehnen. Das sei viel zu riskant, auch wenn man die größtenteils auch nach Ablaufdatum noch benutzen könne. Der Staat betrachtet die Kliniken der Solidarität eh schon argwöhnisch. Es gab bereits eine anonyme Anzeige wegen angeblichen Drogenmissbrauchs in der K. I. F. A.

Er sagt leise: Wie schnell ein Abstieg gehen kann

Medikamente sind sehr gefragt. Viele Menschen können sich vor allem ihre Medizin nicht mehr leisten. Besonders die Nichtversicherten. Aber mittlerweile betrifft das auch immer stärker Versicherte. Denn die sind gezwungen, einen steigenden Eigenanteil der Kosten zu tragen, da die Krankenkasse immer weniger übernimmt.

Nikos M. blättert in einer der Broschüren, die auf einem kleinen Tisch im Wartezimmer ausliegen. Wie schnell ein Abstieg gehen kann, sagt er leise. Er lächelt, weil er weiß, dass es wie ihm Tausenden im Land ergeht.

Äußerlich stammen diese Tausenden aus der gehobenen Mittelschicht. Doch lebt mittlerweile knapp ein Viertel der Bevölkerung Griechenlands nach aktuellen Ergebnissen der griechischen Statistikbehörde Elstat mit etwa 500 Euro pro Monat an der Armutsgrenze, viele haben aber auch schon deutlich weniger zur Verfügung. Hilfe vom Staat ist nicht zu erwarten. Ein Jahr lang wird Arbeitslosengeld in Höhe von 400 Euro ausgezahlt. Danach ist Schluss.

Natürlich ist es auch in Griechenland illegal, nicht krankenversichert zu sein, sagt Nikos. Aber wenn es nicht mehr anders geht?

Viele Freischaffende warten monatelang auf Honorare, die oft einfach ausbleiben, weil der Kunde pleiteging. Angestellte werden monatelang nicht bezahlt und weiter hingehalten. Kündigen? Das macht hier keiner mehr – jeder ist froh, überhaupt einen Job zu haben, und hofft, doch noch bezahlt zu werden. Einen Arbeitsplatz zu finden ist schwer. Die Arbeitslosenrate liegt bei knapp 28 Prozent. Und trotzdem muss eine unversicherte Schwangere 650 Euro für pränatale Untersuchungen, 650 Euro für eine natürliche Geburt und 1200 Euro für einen Kaiserschnitt aufbringen. Das können die meisten in der Bevölkerung nicht mehr.

Die Familien halten so gut es geht zusammen, aber irgendwo sei halt Schluss

Nikos M. sagt, es sei gleichgültig, ob man Klempner, Grafiker oder eben Anwalt sei. Die Krise reißt die komplette Mittelschicht in den Abgrund. Noch vor sechs Jahren führte er als Jurist ein gutes Leben, berichtet er. Doch dann. Er hält inne. Schon 2008 war etwas zu spüren, die Aufträge nahmen etwas ab. Aber ab 2010 wurde es immer schlimmer. Er musste jeden Cent dieses teuflischen Euro umdrehen, der ihnen angeblich so viel Wohlstand beschert hatte. Es war nicht so, dass er, Nikos M., einen üppigen Lebensstil gepflegt hätte. Er lebt in einer Dreizimmerwohnung, die er von seinen Eltern geerbt hatte, ging ab und an aus, Essen in die Taverne. Das ist hier fast Tradition, das eigene Dach über dem Kopf.

Wovon er jetzt lebe?

Nur ein paar Münzen bleiben für diesen Monat

Nikos M. greift in seine linke Manteltasche und holt ein paar Münzen heraus, lächelt mit bitterem Stolz. Das sei alles, was er für diesen Monat noch übrig habe. Woher genau er das Geld hat, verrät er nicht. Nur so viel: Freunde helfen ihm, so gut es gehe. Aber darauf kann er nicht mehr lange bauen, weil im Freundeskreis auch immer mehr Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren. Das traditionelle System der gegenseitigen finanziellen Unterstützung, wie es früher funktionierte, da es vom Staat nie ausreichende soziale Versorgung gab, kann in Krisenzeiten zu wenige tragen. Eltern, die früher ihren Kinder bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit finanziell unter die Arme zu greifen pflegten, können heute kaum selbst von ihren gekürzten Renten leben. Die Familien halten so gut es geht zusammen, aber irgendwo sei halt Schluss, sagt M.

Wenn er operiert werden muss, hat er ein Problem. Das Geld dafür hält er für eine utopische Summe. Nicht aufzutreiben. Entweder hilft dann eine der Privatkliniken, die mit der K. I. F. A. kooperiert. Oder er müsste versuchen, als unversicherter Patient an der Verwaltung vorbei in ein Krankenhaus zu kommen. Hineingeschleust werden. Unter falschem Namen, unterstützt von Leuten, die zum solidarischen Netzwerk zählen und in einem staatlichen Krankenhaus arbeiten.

Heute praktiziert der Arzt Makis Mantas in der K. I. F. A., er ruft Niko M. zu sich ins Behandlungszimmer. Die Situation des Gesundheitswesens sei dramatisch, sagt er. Nicht deshalb arbeite er hier ehrenamtlich, sondern weil es eine Notwendigkeit sei zu helfen. M. setzt sich auf das Krankenbett, der Doktor begutachtet den Arm. M. ins Krankenhaus zu schmuggeln, würde bedeuten, „einen illegalen Bereich“ zu betreten, sagt Mantas. „Aber es ist auch illegal, einem kranken Menschen nicht zu helfen, nur weil er das nicht bezahlen kann. Und dass wir den Menschen helfen, das haben wir Ärzte doch geschworen.“

Am Ende hat Nikos M. Glück gehabt, sein Arm muss nicht operiert werden. Wohl nur eine Verstauchung. Er hängt ihn in seine Schlinge. Wenn es ihm nicht bald besser gehe, werde er geröntgt werden müssen. Die Prozedur kostet ihn zwischen acht und 15 Euro. Eigentlich nicht viel Geld. Doch gerade jetzt ist es zu viel.

Theodora Mavropoulos

Zur Startseite