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Tafelberge. Bruno Ganz spielt in Matti Geschonnecks Film „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ den Kommunisten Wilhelm Powileit.

© Hannes Hubach/X-Verleih/dpa

Begegnung mit Matti Geschonneck: Die vertrauten Fremden

Die Leute kannte er ja alle! Wie konnte das sein? Mit der Verfilmung von Eugen Ruges Bestseller "In Zeiten des abnehmenden Lichts" bringt Regisseur Matti Geschonneck auch seine Familiengeschichte ins Kino.

Es gab zwei Schauspieler in der DDR, die die Leute auf der Straße mit Vornamen ansprachen. „Der eine war Manfred Krug, der andere war mein Vater“, sagt Matti Geschonneck. Erwin also, Erwin Geschonneck.

Es wäre seine Rolle gewesen, wessen denn sonst? Wilhelm Powileit, der alte Klassenkämpfer, feiert seinen 90. Geburtstag, im Oktober 1989, ausgerechnet in diesem Herbst: ein lebendes, bereits stark zur Demenz neigendes Fossil, aber voller revolutionärer Arroganz. Ich, der Sieger der Geschichte! Vater und Sohn noch einmal zusammen, in einer Versuchsanordnung, die beiden direkt in Herz und Hirn zielte.

„Ich habe Ruges Roman gelesen und sofort gewusst: Das würde ich gern erzählen“, erklärt der Regisseur. „In Zeiten abnehmenden Lichts“, mit Euphemismen wie „der große DDR-Buddenbrooks-Roman“ bedacht oder kurz „ein Wunder“ genannt, wurde weit über eine halbe Million Mal verkauft.

Aber nicht dieser beispiellose Erfolg war es, der Matti Geschonnecks Interesse weckte, im Gegenteil. Es war zuerst und zuletzt die merkwürdige Vertrautheit der Figuren. Die kannte er ja alle! Wie konnte das sein?

Ein Regisseur verfilmt die Familiengeschichte eines fremden Autors, und seine eigene ähnelt ihr auf fast gespenstische Weise, das passiert nicht oft. Doch Matti Geschonneck wäre der Letzte, darauf aufmerksam zu machen. Dieser Fernseh-Erfolgsregisseur strahlt etwas aus, das zu selten geworden ist, als dass man sofort seinen Namen wüsste. Doch dann ist es klar: Es ist Zurückgenommenheit, Bescheidenheit. Insofern wirkt Matti Geschonneck, als ob er die DDR erst gestern verlassen hätte, aber das machte er schon 1978. Ein Weggeher aus einer erzkommunistischen Familie.

Er trägt den Klassenkampf schon im Vornamen

Allein der Name: Matti. Es ist gewiss eine Hypothek für ein Kind, nach einem Brecht-Stück benannt zu sein. In „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ lernen wir, dass Herr und Knecht, Ausbeuter und Ausgebeutete, nie zusammenkommen. In der DDR nannte man das den „antagonistischen Klassengegensatz“. Und antagonistische Widersprüche sind grundsätzlich unversöhnlich. So gesehen trägt Matti Geschonneck den Klassenkampf schon im Vornamen.

Auf der Berlinale hatte „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ seine Uraufführung, und da Erwin Geschonnecks Sohn ein vielbeschäftigter und sehr disziplinierter Mann ist, führte er die Interviews zum Filmstart – am morgigen Donnerstag ist es so weit – schon im Februar. Danach habe er keine Zeit mehr, danach habe er zu arbeiten.

Geschonneck trägt Existenzialisten-Schwarz, er ist sehr groß, sodass er sich im Verhältnis zu seiner eher kleinwüchsigen Umgebung beständig in einem Modus unfreiwilliger Herablassung befindet.

Vier Generationen Kommunisten mit makelloser Verfolgungsgeschichte

Mag sein, er war enttäuscht, dass sein Film nicht in den Wettbewerb der Berlinale eingeladen wurde, aber er zeigte es nicht. Zugleich wirkte er sehr erleichtert. Der Autor Eugen Ruge hatte sein auf die Leinwand emigriertes Werk, das dort ein bedenkliches Eigenleben entfaltete, soeben besichtigt und es doch wiedererkannt. Gott sei Dank!

Matti Geschonneck ist so alt wie Eugen Ruge, dessen Alter Ego im Roman heißt Alexander. Beide, oder sollte man sagen alle drei, sind Anfang der 50er geboren und repräsentierten die dritte, gar die vierte Generation einer Kommunistenfamilie. Es gab nicht viele in der DDR, die auf drei, vier Generationen Kommunisten mit makelloser Verfolgungsgeschichte verweisen konnten. Oder halt, auf die letzte Generation trifft der Befund schließlich nicht mehr zu, die geht in den Westen. Welche Schmach, welche innerfamiliäre Bitterkeit!

Im Buch ist Alexander der Erzähler, im Film aber ist er der große Abwesende. Denn der Enkel verlässt die DDR genau am 90. Geburtstag seines Großvaters. Aber die wirkliche Hauptfigur, „die geheime Mitte des Films“, sagt Matti Geschonneck, „ist die Generation dazwischen. Die erste Figur, die mir vor Augen stand war die des Kurt Umnitzer.“

In den Augen des Kindes war das Weggehen Verrat

Dessen Vorbild, Ruges Vater, kam als 16-Jähriger nach Moskau, die Familie hatte Schutz gesucht vor den Faschisten. Wolfgang Ruge hatte Stalins Gulag knapp überlebt. Aber auch als der Krieg längst vorüber war, kam Wolfgang Ruge nicht frei. „Lebenslängliche Verbannung“ lautete das neue Urteil, erst 1956 betrat er dann doch wieder deutschen Boden: den der DDR.

Der Historiker Wolfgang Ruge hatte sich an diesem Land den Kopf eingerannt und doch immer zu ihm gehalten. Nach der Wende nannte man solche wie ihn nur noch „systemkonform“, sie verschwanden hinter diesem erfahrungslosen und doch scheinbar alles erklärenden Wort. Und Matti Geschonneck macht so einen zum Helden: „Ich wusste sofort, wer den spielen musste: Sylvester Groth.“

Und in der Tat, dieser Schauspieler gibt diesem Mann eine wunderbare Wärme und Zugewandtheit, er ist das Humanum in diesem Film. Solche wie er hätten nie einen Platz in der neuen Bundesrepublik gefunden, er wisse, wovon er spreche, sagt der Regisseur, denn er spreche von seinem Vater.

Vater? - Ja, bestätigt er in seiner leisen Art der Bestimmtheit, und das sei keineswegs Geschonneck gewesen. Der verließ ihn und seine Mutter, da war Matti vier oder fünf. In der Stimme des Sohnes klingt Distanz, eine Distanz, wie sie zwischen Kindern und Eltern nicht sein sollte. In den Augen des Kindes war dieses Weggehen Verrat.

So viel Leben, Liebe, so Arbeit warteten auf ihn

Dabei war Erwin Geschonneck schon über 50 Jahre alt, als er seiner Familie den Rücken kehrte. Andere neigen in diesem Alter vermehrt zur Sesshaftigkeit, aber der Berliner Sohn eines Flickschusters und Nachtwächters hatte viel nachzuholen. Er hatte das Exil in der Sowjetunion überlebt, danach drei deutsche Konzentrationslager und zum Schluss, am 3. Mai 1945, auch noch den Untergang der „Cap Arcona“, des KZ-Schiffes, das die Briten in der Lübecker Bucht versenkten. So viel Leben, so viel Liebe, so viel Arbeit warteten noch auf ihn, nicht nur ein kleiner Junge.

„Mein Vater, Gerhard Scheumann, war mir der Nächste in meiner zerrissenen Familie“, präzisiert Geschonneck. Vater sagt er, nicht Stiefvater, und es klingt eine große Wärme und Dankbarkeit aus diesem Satz. Jeder, der die DDR in einem noch oder schon bewusstseinsfähigen Alter erlebte, wusste auch, wer Gerhard Scheumann war.

Heynowski und Scheumann, die beiden Ausnahme-Dokumentarfilmer, deren internationaler Ruhm 1966 mit „Der lachende Mann“ begann. Es war das Porträt des als „Kongo-Müller“ bekannten Söldners und früheren Fähnleinführers Siegfried Müller, der Anfang der 60er Jahre an der Niederschlagung des Aufstands der Simba im Kongo beteiligt war.

Hinter jedem ihrer Filme ein Ausrufezeichen

In der Bundesrepublik durfte der Film nicht gezeigt werden, das vierteilige Porträt abgeschossener amerikanischer Bomberpiloten in Vietnam 1968 missfiel ihr ebenso, und da befanden sich Scheumann und Heynowski erst am Anfang ihrer internationalen Laufbahn. Leider stand hinter jedem ihrer Filme sichtbar oder unsichtbar, hörbar oder unhörbar ein Ausrufezeichen: In der DDR wäre das nicht passiert. Zu ihrer Entschuldigung ist zu sagen: Das haben sie geglaubt. Es war die tiefste Überzeugung des einstigen Napola-Schülers Gerhard Scheumann.

Zwielichtzeichner. Der Regisseur Matti Geschonneck.
Zwielichtzeichner. Der Regisseur Matti Geschonneck.

© Jörg Carstensen/dpa

Es ginge ihm nicht um Abrechnung, nicht ums Rechthaben, war Matti Geschonnecks erster Satz gewesen, noch fast im Eintreten gesprochen, gleichsam präventiv, geradezu beschwörend. Jetzt hört man das anders, viel genauer.

Zwei DDR-Stoffe hat er bis jetzt verfilmt, 2005 „Die Nachrichten“ nach dem Roman von Alexander Osang und 2010 „Boxhagener Platz“ nach dem Buch von Torsten Schulz, es sind die einzigen Kinofilme dieses so erfolgreichen Regisseurs. Die Wahl ist bezeichnend.

„Mich interessiert das Zwielicht“

Menschen mit einem nur zeitgenössisch formatierten Bewusstsein sind auf die Zwischenräume, das Zwielicht schlecht vorbereitet, in denen diese Geschichten spielen. „Mich interessiert das Zwielicht“, sagt Geschonneck. Bisher hat er dieser Neigung vorzugsweise im Thriller nachgegeben, in „Tatorten“ und „Polizeirufen“. Da ist das Zwielicht als Grundbeleuchtung allgemein anerkannt, man nennt das auch suspense. Und er muss nicht die ganze deutsche Geschichte, sondern im Normalfall nur einen Mord erklären. Für „Das Ende einer Nacht“ von 2012 bekam er gleich vier große Preise.

Seine eigene Geschichte, die des Matti Geschonneck, hat er noch nie erzählt, er hält sie für nicht recht mitteilbar. Wer denn begriffe, worunter er litt, er, der Sohn zweier der größten und charaktervollsten Kommunisten, die die DDR hatte? Höchstens Eugen Ruge.

Sein Leben lag offen wie eine Rollbahn vor ihm, rekapituliert er die einstige Perspektive: „Mit 18 kam ich zur Armee, mit 20 wurde ich Genosse und mit 22 war ich in Moskau.“ Noch als Soldat der NVA bestand der Kandidat der SED die Regie-Eignungsprüfung an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg.

Zwei Väter? Das Kino war der dritte

Ob ihm sein Name beim Genommenwerden assistierte? Die Mutter Schauspielerin und zwei Väter vom Film: Mag sein, man hielt sein Erscheinen für mehr oder minder zwangsläufig. Aber keine Vermutung könnte Matti Geschonnecks Weg zum Kino mehr verkennen.

Es war nicht gut für einen kleinen Jungen, immerzu gefragt zu werden: Bist du der Sohn von Erwin Geschonneck? Und dann mit Ja und Nein zugleich antworten zu müssen. Aus diesem Raum früher dialektischer Überforderung zog sich das Kind ins Urdunkel, in den Schutz der Kinos zurück.

Am liebsten ging er in das Kino der Treptower Archenholdsternwarte. Sobald drei Zuschauer da waren, musste gespielt werden. Bei dem chinesischen Spionagefilm „Agent P491“ jedoch war außer ihm nur noch eine alte Frau gekommen; unter Tränen verließ der Junge den Saal, da rief die Kartenabreißerin ihren treuesten Zuschauer zurück, und sie zeigten „Agent P491“ nur für ihn und die Frau.

Zwei Väter? Das Kino war der dritte. Das spürte wohl auch die Babelsberger Prüfungskommission, als sie dem jungen Mann 1973 mitteilte, sie habe da eine besondere Auszeichnung zu vergeben: einen Studienplatz in der Sowjetunion! Er dürfe sich am Moskauer Eisenstein-Institut für Kinematographie immatrikulieren, aber erst im Jahr darauf.

Alle ihre Instinkte waren geweckt

Was hieß das? Die Maschine stand startbereit auf dem Rollfeld, der Abflug verzögerte sich nur noch ein wenig. Und dann geschah es: Die Startbahn verschwamm vor seinen Augen, die Linie geradeaus zum Horizont bog sich plötzlich in alle Richtungen. Schuld war eine Frau, die vielleicht unumgehbarste Frau, die die DDR besaß.

Am 22. September 1974 steckte ein Zettel Wolf Biermanns hinter Eva-Maria Hagens Scheibenwischer: „ei! ei! wer ist der Glückliche? wer hat den Platz an Evas Seite inne? Wange an Wange, cheek to cheek, Auge in Auge, Herz an Herz “ Bei den Dreharbeiten für den Fernsehfilm „Richter am Jukon“ sichtete Eva-Maria Hagen einen blutjungen, etwas desorientierten Regieassistenten, der gerade von der Armee kam und bald nach Moskau gehen sollte. Alle ihre Instinkte waren geweckt, und sie war frei, denn Wolf Biermann und sie hatten ihre unmittelbaren erotischen Verschlingungen unlängst gelockert.

Und dann fand sich der Assistent in Moskau wieder, ausgesetzt am Eisenstein-Institut, erotisch und weltanschaulich tief verunsichert. Er war in Kreise geraten, von deren Existenz er nichts geahnt hatte. Und deren Schwingungen erreichten ihn auch hier in Moskau.

Was bitte wusste denn Eva-Maria Hagen von Reifeprüfungen?

Eva-Maria Hagen an Wolf Biermann, unmittelbar nach dessen Kölner Konzert im November 1976: „Alle roten Lampen brennen, sagte Scheumann, der bemüht ist, sich neutral zu verhalten, was in seiner Position schon was bedeutet. Wie lange wird er der Belastung standhalten können?“

Und am Ende steht da: „Wolf! Du hättst Dich gefreut über Matti Grünauge Rotblind. Ich bin auch voller Vertrauen, was ihn betrifft: Das ist jetzt eine Reifeprüfung für den Sonnenkringel. Ohne Wankelmut, Zögern und Zaudern hat er sich auf meine Seite gestellt.“

Der Sonnenkringel Matti Geschonneck, von der Arbeiterklasse nach Moskau delegiert, hatte erfahren, dass er jetzt Haltung zeigen und die Ausbürgerung Wolf Biermanns mit seiner Unterschrift bekräftigen müsse, geradeso wie sein namensgebender Vater.

„Das war für mich völlig ausgeschlossen“, erklärt das einstige Grünauge-Rotblind. Aber was bitte wusste denn Eva-Maria Hagen von Reifeprüfungen? Mit Anfang 20 einem dreiwöchigen Parteiausschlussverfahren an der DDR-Botschaft in Moskau ausgesetzt zu sein, kommt wohl mehr einer Promotionsverteidigung gleich. Bloß dass der Kandidat nicht die geringste Ahnung hatte, zu was er hier promoviert werden sollte. Zum Staatsfeind etwa? „In meiner Orientierungslosigkeit habe ich einen Ausreiseantrag gestellt und ihn wieder zurückgezogen. Undenkbar für mich, in den Westen zu gehen. Ich konnte mir das absolut nicht vorstellen.“

Dieselbe Verbohrtheit, dieselbe revolutionäre Arroganz

Scheumann, der Vater, der nicht sein Vater war, kam nach Moskau, um seinen Sohn, der nicht sein Sohn war, zu retten, aber der erwies sich als tendenziell unrettbar. Er musste sein Studium abbrechen und verließ die DDR zwei Jahre später.

Nein, dem Hohn, der sich nach 1989 auf Menschen wie Gerhard Scheumann ausgoss, hat Matti Geschonneck nie etwas abgewinnen können und dem soziologisch dominanten Nachwende-Typus der anklagenden Opfer auch nicht. Je länger man diesem Regisseur gegenübersitzt, desto mehr meint man die Züge seines Ursprungsvaters zu erkennen. Es sei unfassbar, was sich alles vererbe, hat Matti Geschonneck längst bemerkt, Hände, Blicke, Gesten, sogar Pausen.

Er ist nun schon Mitte 60, aber das Alter scheint ihn übersehen zu haben, kein Wunder. Erwin Geschonneck wurde fast 102 Jahre alt, wohl auch um zu zeigen, dass der Kommunismus und er selbst tendenziell unsterblich sind. Erst nach der Wende sind sich Vater und Sohn wirklich nahegekommen, 1995 haben sie zusammen einen Film gemacht, „Matulla und Busch“. Bis zu Wilhelm Powileit hat Erwin Geschonneck es nicht mehr geschafft.

Aber wer sonst könnte das spielen? Die Frage war bis zuletzt offen. Und dann, als der Drehbeginn näher rückte, ein Verdacht: Bruno Ganz? Der Schweizer Nicht-Sohn der Arbeiterklasse ohne KZ-, Exil- und sonstige akute Untergangserfahrungen reagierte sofort. Sie sprachen viel, auch über den Vater, darüber, wie sehr dieser Wilhelm Powileit ihm glich: dieselbe Verbohrtheit, dieselbe revolutionäre Arroganz.

Und dann, am ersten Drehtag, glaubte Matti Geschonneck, es wirft ihn um: Da vorn war er! Wilhelm Powileit, dieser alte Kommunist, saß direkt vor seiner Kamera, als ob es nichts Selbstverständlicheres gäbe. Erwin Geschonneck hätte ihm brüderlich die Arbeiterfaust gereicht: Genosse Ganz, willkommen im Club!

Der Text erschien am 31. Mai in einer gekürzten Version und im Online-Kiosk Blendle.

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