zum Hauptinhalt
Blick auf Gaza-Stadt von israelischem Territorium aus. Dazwischen die trennende Mauer.

© AFP

Israel und Gaza: Eine Freundschaft im Krieg

Sie leben in verschiedenen Welten. Die eine in Gaza-Stadt, die andere in Israel, direkt an der Grenze. Täglich schreiben sie sich nun im Krieg SMS-Nachrichten: „Ich spüre, dass der Tod nah ist. Wir werden nicht überleben.“ „Nein, bitte gib nicht auf!“ Die Geschichte einer Freundschaft über Grenzen hinweg.

In Gaza-Stadt sitzt eine Frau mit ihrer Familie zu Hause und hat Angst. Die Bomben schlagen mehrmals stündlich in ihrer Nachbarschaft ein, sie kommen immer näher, die Wände beben, die Fenster wackeln. Die Frau hat keinen Schutzraum, keine Sirenen, die sie warnen.

In Netiv Ha’Asara in Israel sitzt eine Frau mit ihrer Familie zu Hause und hat Angst. Die Raketen der Hamas fliegen vier, fünf, manchmal acht, neun Mal am Tag auf ihr Dorf direkt an der Grenze zum Gazastreifen – zu nah, als dass das Raketenabfangsystem Iron Dome helfen könnte.

Maha Mehanna, 43, in Gaza und Roni Keidar, 70, in Netiv Ha’Asrara, wohnen nur knapp 15 Kilometer voneinander entfernt. Beide Frauen kennen sich seit mehr als drei Jahren, sie sind Freundinnen geworden, sehr gute sogar. Ihre Freundschaft ist außergewöhnlich, sie hat sich nicht aufhalten lassen. Nicht von hohen Mauern, nicht von einem Checkpoint, nicht von Raketen und Bomben. Und selbst in Zeiten, in denen jeder Leid und Opfer zu beklagen hat, in denen die Wut auf den Feind auf der anderen Seite wächst, schreiben sich die beiden Frauen täglich. Sie wissen, dass sie ihre Lage nicht vergleichen können, doch das versuchen sie auch gar nicht. Sie wollen sich gegenseitig Mut machen, füreinander da sein und der anderen zeigen: Ich weiß, dass auch du leidest.

Einer ihrer Arbeiter starb beim Angriff

Roni sitzt an diesem Nachmittag im Wohnzimmer ihres Hauses, ihr Mann hat sich gerade zur Mittagsruhe hingelegt. Die beiden haben einen landwirtschaftlichen Betrieb, sie bauen Gemüse für die Produktion von Saatgut an. Doch in Zeiten wie diesen ist die Arbeit auf den Feldern fast zum Stillstand gekommen. Ronis Mann geht nur kurz in die Gewächshäuser, um das Nötigste zu erledigen. Vor einer Woche noch war er gemeinsam mit den thailändischen Arbeitern auf den Feldern. Dann schlugen Mörsergranaten ein. Einer der Arbeiter kam dabei ums Leben. Für die Keidars war das kaum zu ertragen. Für zwei Tage gingen sie zusammen mit ihren anderen Arbeitern in das Haus von Bekannten nach Caesarea, einer Stadt zwischen Haifa und Tel Aviv, um Abstand zu bekommen. Doch lange wollten sie dort nicht bleiben. Netiv Ha’Asara ist doch ihre Heimat.

Roni Keidar in ihrem Wohnzimmer in Israel. 15 Kilometer entfernt wohnt ihre Freundin.
Roni Keidar in ihrem Wohnzimmer in Israel. 15 Kilometer entfernt wohnt ihre Freundin.

© Lissy Kaufmann

Das Dorf wurde 1982 gegründet. Zuvor lebten die Keidars und 66 andere Familien im Sinai. Als das Gebiet im Zuge des Friedensvertrages an Ägypten zurückgegeben wurde, mussten die Familien wegziehen. Die Region an der Grenze zum Gazastreifen war ideal für die Landwirtschaft. Damals dachte niemand daran, dass einmal eine Mauer gebaut werden würde. Damals dachte auch niemand, dass irgendwann einmal Tunnelausgänge in der Nähe ihrer Häuser gefunden werden, von unterirdischen Gängen, die die Hamas vom Gazastreifen bis nach Israel gegraben hat. Die Armee hat nun wegen der Sicherheitslage die Straße nach Netiv Ha’Asara gesperrt, nur noch die Anwohner und Besucher mit Genehmigung kommen so nah an die Grenze zum Gazastreifen.

"Wir sollten Seite an Seite leben"

Immer wieder muss Roni erklären, warum sie ausgerechnet hier wohnt. „Ich habe ein Recht, hier zu leben“, antwortet sie dann. „Das Land ist klein. Wie weit kann man hier denn von einer der Grenzen entfernt leben?“ Zu lange gebe es diesen Konflikt schon: „Wir müssen uns mit dem Kernproblem beschäftigen. Zwei Völker haben lange genug Beweise geliefert, dass ihnen das Land gehört. Wir sollten das akzeptieren und nun versuchen, gemeinsam Seite an Seite zu leben.“

Die Stille im Haus der Keidars an diesem Mittag wird immer wieder von einem Knall unterbrochen, wenn die Artillerie nach Gaza schießt oder wenn die Hamas Raketen auf Israel abfeuert. Roni wirkt gelassen, sie sitzt ruhig auf dem Ledersofa in ihrem Wohnzimmer. „Doch ich erschrecke mich bei jedem Geräusch, natürlich fürchte ich mich“, sagt sie. Vor allem der Gedanke, dass Tunnelausgänge in ihrem Dorf gefunden wurden und dass Hamas-Kämpfer bis hierher gelangen könnten, macht ihre große Angst.

Nachts kommt sie kaum zur Ruhe. Sie denkt an ihre eigenen Kinder und deren Familien, drei von fünf leben ebenfalls in Netiv Ha’Asara. Und sie denkt an Maha, für die es noch viel schlimmer sein muss, ohne Schutzraum und ohne Sirenen.

Aus einer Zweckbekanntschaft entwickelte sich eine Freundschaft

Wenn auf der anderen Seite der Mauer eine Bombe fällt, bringt die Druckwelle auch das Haus von Roni zum Beben, die Fenster wackeln. „Ich sollte mich bei Maha melden“, sagt sie, als ein Donnern durch das Haus geht. „Ihre Nachricht gestern Abend klang sehr beunruhigend. Aber ich habe Angst nachzufragen.“

Roni blickt auf ihr Handy, sucht die SMS, die sie am Abend zuvor gegen halb elf erhalten hat: „Es wird schlimmer, Roni, ich spüre, der Tod ist nah. Ich glaube nicht, dass ich und meine Familie überleben werden. Wir werden bald getötet. Bitte pass auf dich auf. Love you – umarme dich.“ Die Antwort, die Roni darauf abgeschickt hat, lautet: „Nein, das wird nicht passieren. Du wirst überleben! Bitte gib nicht auf. Ich werde der Hamas niemals vergeben, wenn dir etwas zustößt. Love you, too – umarme dich.“

Die beiden Frauen haben sich vor mehr als drei Jahren kennengelernt. Roni hat als Freiwillige für „Road to Recovery“ gearbeitet, eine Organisation, die kranke palästinensische Kinder vom Checkpoint in israelische Krankenhäuser bringt. Maha war damals mit ihrem Neffen auf dem Weg in das Tel Hashomer Krankenhaus in der Nähe von Tel Aviv. Der heute 19-Jährige leidet an einer genetischen Störung und musste für eine Knochenmarktransplantation nach Israel. Roni fuhr sie immer wieder, zu den Behandlungen und Nachuntersuchungen. Die beiden kamen ins Gespräch, über ihre Familien, über ihr Leben, ihre Sorgen.

"Lasst uns alle die Hände reichen"

Aus einer Zweckbekanntschaft entwickelte sich eine Freundschaft. Obwohl Roni kaum noch Fahrdienste macht, trafen sich die beiden vor dem Krieg zumindest auf einen Kaffee in der Nähe des Checkpoints beim Kibbuz Yad Morderchai. Sie telefonieren wöchentlich. Wenn Maha die Erlaubnis bekommt, mit ihrem Neffen in das Krankenhaus zu fahren, lädt Roni sie auf dem Rückweg manchmal zu sich nach Hause ein. Maha kennt Ronis Familie. Nach Gaza konnte Roni jedoch nie, die Einreise ist für Israelis verboten.

Nun, in Kriegszeiten, hat Roni einem Journalisten der „Washington Post“ einen Umschlag für Maha mit auf den Weg gegeben, ein wenig Geld war darin, damit sie für Eid al Fitr, das Zuckerfest am Ende des Ramadan, einkaufen konnte. „Ich bete für dich und deine Familie und dafür, dass es der Beginn einer neuen Ära sein wird“, schrieb sie. „Lasst uns alle die Hände reichen und es der Gewalt nicht erlauben, die Oberhand zu gewinnen. In Liebe, Roni.“

Maha antwortete: „Ich habe gerade den Umschlag geöffnet und deine wundervolle Karte gelesen. Ich habe während des Lesens geweint und gefühlt, dass du bei mir bist. Love you. Habe einen sicheren und schönen Tag. Ich umarme dich!“

Manche in Israel nennen sie Verräterin

Das letzte Mal trafen sich die beiden im Juni, als Maha und ihr Neffe bei einer Friedenskonferenz nahe Sderot eine Rede gehalten haben. Die Mitglieder der Organisation „The Other Voice“ wohnen in Dörfern entlang des Gazastreifens. Sie setzen sich für eine zivile Konfliktlösung ein und für ein Ende der Blockade. Roni engagiert sich seit langem in der Organisation und hat dadurch viele Bekannte in Gaza, zu denen sie gerade jetzt Kontakt hält. Manche in Israel nennen sie dafür eine Verräterin.

„The Other Voice“ war in den vergangenen Wochen auch bei den Friedensdemonstrationen in Tel Aviv, Mitglieder haben dort gesprochen. „Ich glaube aber, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür ist“, sagt Roni. Vieles hätte schon früher anders gemacht werden sollen. „Aber es hat keinen Sinn jetzt zu sagen: Das haben wir euch doch gesagt.“ Sie kritisiert die Operation: „Wir sprechen davon, die Armee mit den höchsten moralischen Standards zu haben. Wir sagen den Leuten sogar, wann sie ihre Häuser verlassen müssen. Das ist ja sehr nett. Aber wohin sollen sie denn gehen?“, fragt Roni. Dennoch kann sie die Operation nicht völlig ablehnen, nicht, nachdem die Tunnel entdeckt wurden.

Drei Minuten bleiben einer Familie, um das Haus zu verlassen

Roni muss mit diesem Zwiespalt leben. Eine ihrer Enkeltöchter leistet derzeit ihren Militärdienst als Frontsoldatin bei der Marine. Roni hat selbst Angst vor den Tunneln und den Raketen. Doch Maha bleibt eine ihrer engsten Freundinnen, um die sie sich große Sorgen macht. „Roni ist mehr als eine Freundin für mich, sie gehört zu meiner Familie“, sagt auch Maha. „Wir kennen die Namen ihrer ganzen Familie. Sie sagen immer, ich soll ihnen Grüße ausrichten.“ Ihre Stimme am Telefon klingt müde. Sie hat in der Nacht zuvor kaum ein Auge zugemacht. „Es ist ein Albtraum hier“, sagt sie. Ihr Haus ist voll von Menschen, die aus ihren eigenen Wohnungen geflohen sind.

„Wir warten nur darauf, bombardiert zu werden“, sagt Maha. Drei Minuten blieben einer Familie, um nach dem sogenannten „Klopfen auf dem Dach“, einer warnenden kleinen Bombe der israelischen Armee, das Haus zu verlassen. „Was, wenn du die Kinder aufwecken musst? Was, wenn du in einem oberen Stockwerk wohnst und der Strom nicht geht für den Aufzug?“, fragt Maha. „Wir legen uns nur noch in Klamotten schlafen.“ Es ist unfair, sagt sie, dass Menschen wie sie wegen der Hamas kollektiv bestraft werden. „Die Hamas hat mich doch nicht vorher gefragt, bevor sie die Raketen abgeschossen hat“, sagt sie.

Die andere Seite der Mauer

Die Kinder seien kaum zu beruhigen, immer wieder sind die Einschläge zu hören. „Das Haus ist nicht groß genug. Ich habe nicht genug Geld, alle diese Menschen satt zu bekommen, wir haben kein fließendes Wasser, keinen Strom.“ Eigentlich arbeitet Maha als Friedensaktivistin und Übersetzerin, ist oft mit Journalisten unterwegs. Doch in Zeiten wie diesen findet Maha keine Aufträge.

Sie kennt die Menschen auf der anderen Seite der Mauer. Einer Seite, die für viele Menschen in Gaza nur noch der Feind ist, der die Bomben wirft und die Menschen tötet. „Ich mache einen Unterschied“, sagt Maha. „Ich stehe auf der Seite meines Volkes. Aber ich kann Roni nicht für etwas verantwortlich machen, was sie nicht getan hat. Es sind die Führer auf beiden Seiten, die mit unseren Leben spielen.“

Maha sagt, dass die Bedingungen nicht dieselben sind. Bei Roni gebe es Alarmsirenen, Schutzräume. „Aber ich mache mir dennoch Sorgen um sie, wenn ich höre, dass Raketen auf Netiv Ha’Asara oder Yad Morderchai in der Nähe ihres Wohnortes abgefeuert werden. Was, wenn sie gerade mit dem Auto unterwegs war und nicht schnell genug Schutz finden konnte?“

"Der Frieden fängt bei den Menschen an."

Maha muss mit solchen Äußerungen vorsichtig sein. Sie kann nicht jedem erzählen, dass sie Freunde in Israel hat und dass sie sich um sie sorgt. „Man weiß nie, wer zur Hamas gehört. Und wenn sie das herausfinden, ist man der Verräter und derjenige, der mit dem Feind zu tun hat“, sagt Maha. Wenn die israelischen Medien über sie berichten, dürfen sie nur ihren Vornamen nennen, das Fernsehen darf ihr Gesicht nicht zeigen. Denn die Hamas beobachte auch israelische Medien. Doch Maha lässt sich nicht einschüchtern. Sie sagt offen, dass sie die Hamas nicht gewählt hat, sondern die Fatah.

Maha und Roni sprechen auch über Politik. Sie sind nicht immer einer Meinung. Roni stimmt Maha nicht zu, wenn sie von einem Genozid in Gaza spricht. Doch sie kann ihre Stimmung und ihre Verzweiflung verstehen. Die beiden sind sich in einem wichtigen Punkt einig: Sie glauben daran, dass sie koexistieren könnten, wenn beide Seiten endlich die gleichen Rechte haben. Wenn keine Raketen mehr fliegen und keine Bomben mehr fallen. Sie sind zwei Frauen, die nur knapp 15 Kilometer voneinander entfernt leben, aber in zwei verschiedenen Welten. Sie haben es trotzdem nicht zugelassen, dass die Politik bestimmt, zu wem sie Kontakt haben sollen. Sie haben sich dagegen gewehrt, die Menschen auf der anderen Seite als Feind zu stigmatisieren. Oder wie Maha sagt: „Der Frieden fängt bei den Menschen an.“

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false