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Bundespräsident Joachim Gauck beim Treffen mit seinem türkischen Kollegen Abdullah Gül in Ankara.

© Reuters

Joachim Gauck in der Türkei: Der Tonmeister

Auf Einmischung von außen reagiert man in der Türkei allergisch. Bundespräsident Gauck spricht dennoch Klartext. Bei seinem Staatsbesuch redet er über Twitter-Verbot und Pressefreiheit - und verpackt seine Kritik in Selbstkritik.

Bisher kannten viele Türken nicht einmal seinen Namen. Doch seit Montag ist Joachim Gauck für einige in Ankara ein Mann, der Respekt verdient hat. Zum Beispiel für Ahsen Sirin, 19 Jahre, rote Haare, Studentin der Politikwissenschaft an der Technischen Universität des Nahen Ostens (ODTÜ), an der Gauck an diesem Tag eine für einen Staatsgast sehr ungewöhnliche Rede gehalten hat. Sirin lässt sich zwar nicht gerne von Deutschland oder einem anderen Land belehren, aber beim deutschen Bundespräsidenten ist das etwas anderes: „Gauck hat unsere Sorgen zur Sprache gebracht“, sagt sie.

"Gefährdung der Demokratie"

Mit ihren Kommilitonen Irmak Avsar und Baris Can Kazdal sitzt Sirin am Tag der Gauck-Rede in einer Caféteria der ODTÜ. Alle drei sind erklärte Gegner von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, alle drei waren aktiv bei den Protesten im vergangenen Sommer, die vom Istanbuler Gezi-Park schnell auf Ankara und insbesondere die ODTÜ übergriffen. In einer Mainacht um zwei Uhr früh herrschte in den Wohnheimen auf dem Campus das blanke Entsetzen, als die Studenten die TV-Bilder von der Polizeigewalt am Taksim-Platz nicht mehr ertragen konnten und auf die Straße stürmten.

Der Bundespräsident spricht in Ankara die Demonstrationen des vergangenen Jahres an. „Wenn Protest auf der Straße gewaltsam unterdrückt wird und Menschen dabei sogar ihr Leben verlieren“, dann erscheine das vielen „als Gefährdung für die Demokratie“, sagt Gauck.

Die Kritik an Erdogan können die Studenten unterschreiben. Gerechtigkeit gebe es in der Türkei derzeit nicht für alle, glauben sie. „Erdogan spricht immer von den 50 Prozent, die ihn gewählt haben“, sagt Sirin. „Die anderen 50 Prozent fallen bei ihm hinten runter.“

"Ich konnte es kaum fassen"

Und sie gehört zu diesen anderen 50 Prozent. „Total wütend“ war sie, als Twitter gesperrt wurde. Nicht, weil sie das sehr behindert hätte – im Universitätsnetzwerk war die Sperre nicht wirksam –, sondern wegen der Willkür, mit der Erdogan das verfügen konnte. „Ich konnte es kaum fassen!“ Während Gauck an der ODTÜ spricht, wird der Autor Önder Aytac zu einer Bewährungsstrafe von zehn Monaten verurteilt – weil er Erdogan auf Twitter beleidigt haben soll.

Die ODTÜ-Studenten Irmak Avsar, Baris Can Kazdal und Ahsen Sirin (von links)
In Opposition. Die ODTÜ-Studenten Irmak Avsar, Baris Can Kazdal und Ahsen Sirin (von links)

© Güsten

Trotzdem sind es nicht die Blockaden von Twitter und Youtube, die diese Studenten am meisten beschäftigen, wenn sie nach dem Zustand ihrer bürgerlichen Rechte und Freiheiten gefragt werden. „Vergiss Twitter und Youtube“, sagt Irmak Avsar. „Wenn ich morgens aufwache, dann sorge ich mich vor allem, ob heute wieder jemand stirbt.“ Nicht nur das Recht auf Meinungsfreiheit, sogar das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit sei gefährdet. Menschenleben zählten wenig in der Türkei, das habe ihm die Erfahrung der Polizeigewalt plastisch vor Augen geführt, sagt Baris Kazdal.

Gaucks Engagement für die bürgerlichen Rechte und Freiheiten in der Türkei beurteilen die Studenten trotzdem zunächst skeptisch. Schließlich hacke eine Krähe der anderen kein Auge aus, meint Baris Kazdal, und in Deutschland gebe es ja auch genug soziale Ungleichheit. Avsar sieht etwas Paternalistisches und Herablassendes in der Tatsache, dass sich der deutsche Präsident zur mangelnden Freiheit und Rechtsstaatlichkeit der Türkei äußert.

Verblüfftes Schweigen

Die Rede des Bundespräsidenten selbst überrascht die jungen Leute dann doch. Verblüfftes Schweigen herrscht anschließend einen Moment lang, während die Studenten ihre Gedanken neu sortieren. „Schön war das“, sagt Baris Kazdal dann schließlich. „Gar nicht so schlecht.“ Auch die beiden jungen Frauen sind angetan.

Beeindruckt sind alle drei Studenten insbesondere von der entwaffnenden Aufrichtigkeit des Bundespräsidenten. Dass Gauck betont, auch Deutschland müsse bereit sein, sich die Kritik der Türkei etwa in Sachen NSU-Prozess anzuhören, wird ihm hoch angerechnet. „Mit seiner Selbstkritik ist er unseren Bedenken selbst begegnet“, sagt Avsar. „Das ist wirklich gut.“

Persönlich berührt fühlen sich die Studenten von Gauck auch, weil er sich auf seine eigene Biografie in der DDR beruft. Gauck unterstreicht, er äußere sich als jemand, der bis zu seinem 50. Lebensjahr in einem System gelebt habe, in dem eine kommunistische Partei entschied, was Recht und was Unrecht sei und in dem es keine Gewaltenteilung gab. „Wenn das so ein Mensch ist, dann darf der sich diese Kritik erlauben“, sagt Baris Kazdal. Persönlich nehme er Gauck seine Bemerkungen daher gerne ab.

Gauck weiß, wie seine Sätze treffen werden

Als Gauck im Auditorium des Kulturzentrums der ODTÜ ans Rednerpult tritt, erwartet er wohl nicht bei allen seinen Zuhörern so viel Verständnis. „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch“, lautet ein Satz der Rede, hätte aber auch der Titel der ganzen Ansprache sein können. Seine zum Teil sehr direkte Kritik an der Regierung Erdogan verbindet er immer wieder mit dem Hinweis, er wolle sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Türkei einmischen.

Dennoch folgen knallharte Worte jenseits aller diplomatischen Vorsicht. „So frage ich mich heute und hier, ob die Unabhängigkeit der Justiz noch gesichert ist, wenn die Regierung unliebsame Staatsanwälte und Polizisten in großer Zahl versetzt und sie so daran hindert, Missstände ohne Ansehen der Person aufzudecken.“ Genau das hat Erdogans Regierung seit dem Bekanntwerden von Korruptionsvorwürfen gegen den Premier gemacht.

In jüngster Zeit höre er besorgniserregende Nachrichten aus dem wirtschaftlich und politisch aufsteigenden Land Türkei, setzt Gauck nach – und geht Erdogan persönlich an, indem er von einem Führungsstil spricht, „der vielen als Gefährdung für die Demokratie erscheint“. Gauck sorgt sich aber noch über andere Dinge in der Türkei. „Etwa wenn den Bürgern vorgeschrieben wird, wie sie zu leben haben. Wenn eine verstärkte geheimdienstliche Kontrolle über ihr Leben angestrebt wird.“

Noch immer ist der Bundespräsident nicht am Ende seiner Kritik an Erdogan, dem neuen Geheimdienstgesetz der Türkei und dem harten Vorgehen gegen die Gezi-Proteste des vergangenen Jahres. Erschreckend finde er auch die Einschränkungen von Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Zugangsbeschränkungen für das Internet – Stichwort Twitter und Youtube-Verbot.

Da Gauck weiß, wen und wie seine Sätze treffen werden, wählt er für seine Rede wie für seine ganze Reise eine spezielle Dramaturgie: So wie er im ersten Teil seiner Ansprache die demokratischen Errungenschaften der Türkei herausstreicht und durch den Hinweis auf den Schrecken der NSU-Morde Selbstkritik übt, um dann zum Angriff überzugehen, bemühte er sich vor seinen Gesprächen in Ankara, positive Botschaften an seine Gastgeber zu schicken. Dazu machte Gauck einen Umweg. Er flog aus Berlin nicht direkt in die türkische Hauptstadt, sondern reiste ins südtürkische Kahramanmaras, nur 150 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt.

Sie lernen den Gute-Laune-Gauck kennen

Kahramanmaras erlebte den Gute-Laune-Gauck und den selbstkritischen Freund der Türken. Gleich nach der Ankunft im Hotel gab er sich bereitwillig für einen traditionellen Spaß der Region her. Kahramanmaras ist in der Türkei bekannt für sein kaugummiartig-zähes Speiseeis, das mit langen Metallspachteln bearbeitet wird. Die Eisverkäufer vergnügen sich häufig damit, dass sie ihren Kunden die Eisportion mit Waffel an dem Metallspachtel hängend reichen – und es ihnen im letzten Moment wieder aus der Hand reißen. Vor laufenden Kameras in der Hotel-Lobby trieben die türkischen Eismänner auch mit dem deutschen Bundespräsidenten ihr Spiel. Bilder von dem überraschten Gauck, der seinem plötzlich entschwindenden Eis hinterherschaute, wurden von den türkischen Medien dankbar aufgenommen.

Ernster, aber ebenso wirksam für türkische Sympathien, war Gaucks Besuch in einem Lager für syrische Flüchtlinge in Kahramanmaras. In der Zeltstadt schaute sich der deutsche Gast Einrichtungen wie die Krankenstation an, spielte mit Flüchtlingskindern und besuchte eine syrische Familie in deren Zelt. Besonders aber lobte er die Anstrengungen der Türkei bei der Aufnahme von inzwischen fast einer Million Flüchtlingen aus dem Bürgerkriegsland an der türkischen Südgrenze und forderte, Deutschland müsse bei der Syrien-Hilfe mehr tun.

Präsident Gül empfing den Gast mit allem Pomp

Die Inspektion des deutschen Patriot-Kontingentes in Kahramanmaras, das eventuelle syrische Raketenangriffe auf den türkischen Nato-Partner abwehren soll, nutzte Gauck ebenfalls, um die deutsch-türkische Verbundenheit zu beschwören. Der Einsatz sei „ein konkreter und wichtiger Beitrag dazu, das Territorium der Türkei zu sichern und damit einen Bündnispartner zu schützen“, sagte er den Bundeswehrsoldaten. Die Bundesrepublik zeige, dass sie ein verlässlicher Bündnispartner der Türkei sei.

In Berlin war die türkisch-deutsche Welt in Ordnung

Nicht nur Gauck arbeitete vor seiner Ankara-Rede am wohlig-warmen Freundschaftsgefühl. Am Montagmorgen, als sich der mittlerweile in Ankara eingetroffene Bundespräsident auf den heikelsten Tag seines Staatsbesuches vorbereitete, räumte die größte Zeitung der Türkei ihre halbe Titelseite für einen Aufmacher aus Berlin frei: In Kreuzberg hätten tausende Demonstranten einen Aufmarsch der NPD mit einer „Wand der Freundschaft“ blockiert, meldet „Hürriyet“.

Auch ein paar Stunden später war die deutsch-türkische Welt noch in Ordnung. Präsident Abdullah Gül empfing den deutschen Gast vor dem Präsidentenpalast von Ankara mit allem Pomp, den die türkische Republik zu bieten hat. Erst vor kurzem hatte Gül das Protokoll zur Begrüßung von Staatsgästen durch den Einsatz einer Reitergarde aufpeppen lassen – Gauck war nun einer der ersten Besucher, dessen Limousine von der berittenen Ehrengarde in blauen Uniformröcken und gezückten Säbeln zum wartenden Ehepaar Gül geleitet wird.

Doch viel länger als bis zur Begrüßung hält die deutsch-türkische Eintracht nicht. Schon den Eintrag ins Gästebuch des Mausoleums von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk unmittelbar vor seinem Treffen mit Gül verbindet Gauck mit einer kleinen Spitze gegen die türkische Politik der jüngsten Zeit. Deutschland werde „der europäischen Berufung der Türkei und ihrer Bürger“ verbunden bleiben, schreibt Gauck. Hört sich harmlos an, ist es aber nicht. Erst vor ein paar Wochen hatte ein Erdogan-Berater öffentlich die Abkehr von Europa gefordert und vorausgesagt, die EU werde in der künftigen Weltordnung keine Rolle mehr spielen.

Wenig später steht steht Gauck neben Gül im Präsidialamt, um Fragen der Journalisten zu beantworten. Doch er stellt im Beisein Güls und vor den Live-Kameras des türkischen Staatssenders TRT selber Fragen. Muss man denn Twitter und Youtube verbieten? Muss man als Regierung denn unbedingt Tausende von Polizisten und Staatsanwälten versetzen? Antworten darauf kann eigentlich nicht der türkische Präsident geben, sondern Erdogan, mit dem Gauck im Anschluss an sein Treffen mit Gül zusammenkommt.Was hinter verschlossenen Türen zwischen Gauck und Erdogan besprochen wird, dringt zunächst nicht nach draußen.

Gauck hat den Ton getroffen

An der ODTÜ diskutieren die Studenten wenig später über Gaucks Kritik an der Erdogan-Regierung. Der deutsche Präsident hat den richtigen Ton getroffen, das ist ihnen anzumerken. Nur schade, dass es bloß ein guter Rat sei, den Gauck geben könne, bemerkt Baris Kazdal – das habe der Präsident in seiner Rede ja selbst gesagt. Dass dieser Rat von der türkischen Regierung angenommen wird, erwarten die Studenten nicht – und das wollen sie auch gar nicht erwarten. Die Türkei zu demokratisieren, die bürgerlichen Rechte und Freiheiten und Wohlstand für alle Türken zu erkämpfen, das ist schließlich ihre Sache.

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