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Letzte Ruhe. Sergej Selesnjow starb mit 22 Jahren, als ihn ein ukrainischer Granatsplitter traf. Er hinterließ eine schwangere Freundin.

© Moritz Gathmann

Junge Russen in der Ukraine: "Ich bin nicht nur in den Krieg gezogen, um zu töten"

Mine nach Mine feuert Maxim Korjagitschew ab. Dann explodiert der Wald um ihn herum. Sein Kommandeur liegt tot am Boden, dem 24-Jährigen bluten die Ohren. Wie Zehntausende hatte sich der Russe freiwillig für den Einsatz in der Ostukraine gemeldet. Nun ist er wieder zu Hause – aber nicht so ganz.

Wie Maxim Korjagitschew in seiner braunen Stoffjacke und der schwarzen Mütze an diesem kalten und windigen Apriltag durch seine Stadt Wladimir spaziert, sieht er aus wie jeder andere hier. Vielleicht etwas sehr schmal für einen jungen Russen, vielleicht etwas zu lieb sein Gesicht. Jedenfalls würde niemand darauf kommen, dass Maxim gerade erst im Krieg war.
Korjagitschew führt zum „Goldenen Tor“, einem Trutzbau im Zentrum der über tausend Jahre alten Stadt. Von hier sei schon 1169 die Landwehr unter dem Befehl von Fürst Bogoljubskij nach Kiew gezogen, erzählt der 24-Jährige begeistert. „Sie haben damals Kiew geplündert und sind dann sehr reich zurückgekehrt.“ Damit schlägt Korjagitschew die Brücke zwischen jenen, die damals auszogen, und den heutigen Kämpfern im Donbass. Damit will er seiner eigenen Geschichte etwas mehr Sinn geben.

Maxim Korjagitschew gehört zu den zehntausenden Russen, die sich auf den Weg in den Donbass machten, um dort gegen die ukrainische Armee zu kämpfen. Für Geld, für Neurussland, gegen die Ödnis des Alltags. Mitgebracht von dort hat er zwei Hörgeräte, die er nun braucht, um sein Gegenüber zu verstehen. Glück gehabt. Tausende andere haben Beine oder Arme verloren oder sind in Zinksärgen aus diesem unerklärten Krieg zurückgekommen. „Meine Generation ist mit ,Fight Club‘ aufgewachsen“, sagt Korjagitschew, als er wieder in seiner Wohnung im 12. Stock eines Neubaus am Ostrand der Stadt sitzt. „Wir sind alle in der Erwartung aufgewachsen, dass diese gemütliche Schäbigkeit des Mittelschicht-Daseins nur etwas Vorübergehendes ist, dass eines Tages das wahre Leben an die Tür klopft, und diese ganze Wirklichkeit der Einkaufszentren und der Bürokomplexe wie eine billige Dekoration abfällt“, sagt er. Währenddessen klickt er sich an seinem Laptop durch die jüngsten Kriegsmeldungen aus „Neurussland“. Oben im Bücherregal steht ein Bild aus jener Zeit: Er mit zwei anderen Kämpfern in Camouflage, hinter seinem Rücken lugt der Lauf einer Kalaschnikow hervor. Es soll irgendwie verwegen wirken, aber selbst hier sieht Korjagitschew eher lieb aus.

"Wollen die Russen Krieg?" Eine rethorische Frage

„Wollen die Russen Krieg?“, heißt ein in Russland berühmtes Lied. Es ist natürlich eine rhetorische Frage, die jeder ordentliche Russe mit Nein beantwortet. Das Lied aus den 1960er Jahren besingt das friedfertige russische Volk, das immer nur zu den Waffen griff, wenn es attackiert wurde. Keine Frage: Russland wurde von Napoleon bis Hitler immer wieder angegriffen, aber die Russen führten auch selbst imperiale Kriege, den letzten großen in den 1980er Jahren in Afghanistan. Es folgten zwei brutale Kriege in Tschetschenien, in denen Russland aus offizieller Sicht die territoriale Integrität des Landes bewahrte, und 2008 der Krieg in Südossetien, in dem die russische Armee die Georgier zurückschlug, die sich den abtrünnigen Landesteil mit Gewalt zurückholen wollten. Seit jenem August 2008 wartete Korjagitschew auf die nächste Gelegenheit.

Über Sankt Petersburg an die Front

Letzte Ruhe. Sergej Selesnjow starb mit 22 Jahren, als ihn ein ukrainischer Granatsplitter traf. Er hinterließ eine schwangere Freundin.
Letzte Ruhe. Sergej Selesnjow starb mit 22 Jahren, als ihn ein ukrainischer Granatsplitter traf. Er hinterließ eine schwangere Freundin.

© Moritz Gathmann

Korjagitschew studierte Geschichte und vergrub sich in der Historie seiner Stadt. Warum ist er nicht Touristenführer geworden? „Zu schüchtern“, sagt er. Warum nicht Geschichtslehrer? „Zu wenig Geld.“ Stattdessen ging er ins TEZ, das riesige Heizkraftwerk, dessen Schlote am Rande der Stadt rauchen. Sein Vater verschaffte ihm einen Job im Einkauf. „Preise vergleichen: Elektronik, Rohre, Kugelschreiber, alles Mögliche“, sagt er. Gut bezahlt, aber todlangweilig. Und meilenweit entfernt vom Heldentum des Vaters. Der hatte am Ende in Afghanistan gegen die Mudschaheddin gekämpft. Rückblickend war dieser Krieg sinnlos, aber geblieben sind die Orden in der Schublade. Maxim Korjagitschew hat keine Orden. Ihn haben sie nicht einmal in der russischen Armee genommen, wegen seiner Spreizfüße. Nach der Krim-Annexion verfolgt Korjagitschew gebannt den eskalierenden Konflikt im Donbass. Im März 2014 war zudem seine Stelle gekürzt worden. Korjagitschew war 23, jung und frei. Über einen Koordinator aus Sankt Petersburg erfährt er, wie er in den Donbass gelangt: Anfang August fährt er mit dem Zug nach Rostow am Don und meldet sich dort bei einer Rettungsstation des russischen Katastrophenschutzministeriums, wo sich zu diesem Zeitpunkt schon hunderte Freiwillige tummeln. Von dort geht es per Bus nach Donezk. Eine russische Grenzerin sagt nur trocken: „Oh, neues Kanonenfutter.“ Korjagitschew läuft es kalt den Rücken hinab.

Es rummst, dann bluten seine Ohren

In Donezk schließlich lernt er auf der Straße den Kommandeur einer rein russischen Einheit kennen und lässt sich anwerben. Es geht in Richtung Osten. Mit einem Minenwerfer ausgestattet, werden sie in der Nähe der Stadt Ambrosijewka abgesetzt. Korjagitschew steckt eine Mine nach der anderen in das Rohr, die pfeifend in Richtung Ukrainer abfliegen. Aber niemand hat den Jungs erklärt, dass man nach spätestens dreißig Schüssen die Position wechseln muss. Die Ukrainer schießen zurück, es rummst gewaltig, dann liegt sein Kommandeur tot hinter einem Busch und ihm selbst läuft das Blut aus den Ohren. Maxims Krieg ist vorbei.
Orden hat Korjagitschew mitgebracht. Nur besagte Stöpsel für die Ohren. 60 Prozent Gehörverlust. Beidseitig. Irreversibel, sagen die Ärzte.
Was hat dir der Krieg gegeben, Maxim? Da lacht er etwas unbeholfen. „Eine kaputte Gesundheit. Und das Gefühl, dass ich dafür gekämpft habe, woran ich glaube.“ Woran? „An ein imperiales Russland. Daran, dass wir Gebiete zurückholen, die zu Russland gehören.“

Glaubt er, dass er gegen ukrainische Faschisten gekämpft hat? Er lächelt. Nein, das sei nur die offizielle Version. Noch im Sommer 2013 war er ja selbst in Kiew bei der Hochzeit einer Cousine. Der Krieg im Donbass hat in Russland eine Art Burgfrieden bewirkt, ähnlich wie der Beginn des Ersten Weltkriegs in Deutschland. „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“, hatte Kaiser Wilhelm damals gesagt. Ähnliches könnte auch Putin behaupten. Vor drei Jahren ist Korjagitschew noch durch die Straßen von Wladimir gezogen und hat Aufkleber mit dem Slogan „Einiges Russland – Partei der Gauner und Diebe“ an die Wände geklebt. Jetzt sagt er: „Damals schimpften wir: Putin ist schuld an der Korruption. Jetzt denke ich: Die Korruption gehört eben zu Russland. Sie ölt den Staatsapparat.“

Warum der Krieg die Russen eint

Letzte Ruhe. Sergej Selesnjow starb mit 22 Jahren, als ihn ein ukrainischer Granatsplitter traf. Er hinterließ eine schwangere Freundin.
Letzte Ruhe. Sergej Selesnjow starb mit 22 Jahren, als ihn ein ukrainischer Granatsplitter traf. Er hinterließ eine schwangere Freundin.

© Moritz Gathmann

Auch Alexander Witner hatte vor zwei Jahren noch wenig übrig für Putin: Er schimpfte über die schlechten Gesetze, die Zügellosigkeit der Polizisten und die Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien. Aber am 24. Juli letzten Jahres, da reiste er für diesen Staat in den Krieg. „In Friedenszeiten verstehen die Russen einander nicht. Aber wenn es Krieg gibt, dann ziehen wir an einem Strang“, sagt er in seinem hübsch hergerichteten Häuschen in einer Siedlung am Rande der Altstadt. Er trägt einen olivgrünen Armeepullover, an den Ärmeln das Abzeichen von „Neurussland.“
Als der Krieg beginnt, leitet Witner den Sicherheitsdienst einer Firma, bekommt jeden Monat das stolze Gehalt von 70.000 Rubel (damals um die 1600 Euro)

. Im Fernsehen verfolgt er die Ereignisse auf dem Maidan in Kiew, die das russische Fernsehen als Machtübernahme ukrainischer Faschisten zeigt. „Das gibt Krieg“, ahnt er.

Als das russische Fernsehen meldet, dass die ukrainische Armee über Donezk Phosphorbomben einsetzt, geht Witner zu seinem Chef und kündigt. „Du bist ein Idiot“, sagt der. „Gleichgültigkeit ist schlimmer als Faschismus“, giftet Witner zurück. Witner sammelt Pistolenhalfter, hat Uniformen der Nazis, der DDR und der Sowjetunion im Schrank. In ihnen nimmt er an sogenannten „historischen Rekonstruktionen“ teil, bei denen Ereignisse aus dem Zweiten Weltkrieg nachgestellt werden. Geschichtsverrückt, kriegsverrückt ist er, und voller Paradoxe. Mit deutschen Wurzeln, aber ebenso stolz darauf, ein Russe zu sein. Er sagt Dinge wie: „Ich bin nicht nur in den Krieg gezogen, um zu töten, sondern um Leben zu retten“. Er sei trotz der Schrecken im Krieg kein Monster geworden: „Ich konnte Ehre und Anstand bewahren.“ Doch was genau er im Donbass getan hat, das will er nicht erzählen. Einer Art Sondereinsatzgruppe will er angehört haben, die zu Einsätzen hinter den ukrainischen Linien eingesetzt wurde. Schwer zu verifizieren. Orden hat auch er keine, nur eine ukrainische Flagge von einem verlassenen feindlichen Checkpoint.

270 Tote Freiwillige zählt lostivan.com

270 getötete Freiwillige aus Russland listet die Seite „Lostivan.com“, auf der die Ukrainer Daten über russische Kämpfer im Donbass sammeln, aber die wahre Zahl dürfte weitaus höher liegen. Dabei sind Leute wie Witner oder Korjagitschew in diesem Krieg nicht entscheidend. Das sind die sogenannten „Urlauber“, also reguläre russische Soldaten, die im „Urlaub“ zum Kämpfen in den Donbass fuhren, als auch reguläre russische Truppen, die von der russischen Seite der Grenze die Ukrainer beschossen, in wichtigen Momenten mit ihren Panzern über die Grenze kamen. Während Witner die Einmischung regulärer russischer Truppe abstreitet, hat Korjagitschew alles mit eigenen Augen gesehen: Als er mit seinem Minenwerfer zwischen Ukrainern und russischer Grenze stand, da flogen über seinem Kopf von russischer Seite die Uragan-Raketen in Richtung der ukrainischen Einheiten. Und dann hat er noch dieses Video gemacht, als er nach seiner Verletzung gerade die russische Grenze überschritten hatte: Im gelblichen Schein der Straßenlaternen rauschen da russische Panzer mit übermalten Hoheitszeichen vorbei. „Natürlich sind sie in Richtung Ukraine gefahren“, sagt er heute.

Wie viele Russen freiwillig im Donbass gekämpft haben, kann nur geschätzt werden. „Lostivan“ listet 3500 Namen auf. Aber das sind nur die, die anhand ihrer Profilseiten im Internet identifiziert werden konnten. Der russische Schriftsteller Sachar Prilepin sprach im November von 35.000. Allein für Wladimir listet Lostivan acht Kämpfer, davon zwei getötete Mitglieder der russischen Armee. Einer von ihnen liegt in knapp zwei Metern Tiefe auf dem Ulybischewo-Friedhof, einem riesigen Areal im Kiefernwald außerhalb der Stadt. „Ach, ihr sucht den, den sie aus der Ukraine gebracht haben?“, sagen die Friedhofsarbeiter, die in einem Bus auf den nächsten Auftrag warten. Dann führen sie zum Grab von Roman Selesjnow. Knapp zwei Meter tief im nassen Boden seiner Heimat liegt er nun, gefallen am 25. August, mit 22 Jahren. Die offizielle Version seines Todes lautet im Schreiben des Verteidigungsministeriums so: gestorben beim Manöver im Gebiet Rostow. Aber das hat schon damals niemand geglaubt. Die letzte Nachricht, die sein Freund Alexander Kutjin bekam, lautete: „Heute Nacht haben wir einen Marsch vor uns. 70 Kilometer.“ Da war er schon im Gebiet Rostow.

Im Herbst kamen Selesjnows Kameraden nach Wladimir, tranken an seinem Grab und erzählten Alexander Kutjin, was wirklich passiert war. Kurz nach der ukrainischen Grenze empfing sie ukrainische Artillerie. Der Kommandeur brüllte: Alle bleiben in ihren Fahrzeugen. „Aber Roman ist rausgesprungen, um den anderen zu helfen. Dann hat ihn ein Granatsplitter im Kopf getroffen“, sagt Kutjin. Selesjnow war sofort tot. Er hinterließ eine schwangere Freundin. Am 2. August, zum Tag der Luftlandetruppen, hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. „Zwei, drei Wochen Übungen, und dann feiern wir Hochzeit, hat er gesagt“, erinnert sich Kutjin. Geblieben ist nur ein Kreuz. Nach Selesjnow Tod erlitt seine Freundin eine Fehlgeburt. Für die anderen geht das Leben weiter. Witner will so schnell es geht zurück in die Ukraine und Korjagitschew hat einen Kredit aufgenommen, 100.000 Rubel, mehr als drei Monatsgehälter. Gekauft hat er davon Kalaschnikow-Magazine und Helme für die Kämpfer im Donbass.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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