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Ausgeliefert. Hat Matthieu K. die Verletzlichkeit der Kinder zum Machtmissbrauch getrieben?

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Kindesmisshandlung: Das Zimmer der Angst

In einer Nacht zu Dienstag war sie auf einmal tot. Der Körper des Kindes war voller Hämatome. Einen Ort hatten Zoe und ihre Geschwister immer ganz besonders gefürchtet – das Bad. Jetzt stehen ihre Eltern vor Gericht: Mordanklage.

Etwa 60 Stunden kämpft Zoes Körper, 60 Stunden, in denen ihr Leben zu retten gewesen wäre – hätte sie ein Arzt behandelt. Sie erbricht sich, fiebert, ihr Bauch schwillt an. Dann kollabiert der Kreislauf des Mädchens, 33 Monate alt, in der ungewöhnlich eisigen Nacht des 31. Januar 2012 gegen vier Uhr.

Feuerwehr und Notärzte, die in eine Hinterhofwohnung der Indira-Gandhi-Straße in Weißensee eilen, können nichts mehr tun. Sie sehen, wie es ein Polizeibeamter ausdrückt, „einen von Hämatomen übersäten Körper und einen Bauch, der an unterernährte afrikanische Kinder erinnerte“.

An jenem Morgen ist das Mädchen nur der jüngste Fall in einer langen Reihe von Kindesmisshandlungen mit tödlichem Ausgang in Deutschland. Drei Kinder sterben laut Zahlen der Polizei pro Woche nach Misshandlungen. Rund 70 Kinder pro Woche werden so massiv geschlagen, dass sie ärztlich behandelt werden müssen. Die Dunkelziffer ist hoch.

Im März 2014, zwei Jahre nach Zoes Tod, zählt im ersten Stock des Landgerichts Moabit, Saal 621, die Gerichtsmedizinerin, die das Mädchen an jenem Morgen obduzierte, auf, was sie an Zoes Körper finden konnte: Einblutungen am Rücken, am Rumpf, der Ohrmuschel, dem Kiefer, der Stirn, Oberschenkel, Kniescheibe, Sprunggelenk. Zwölf Einblutungen allein am Kopf, sechs weitere am Arm.

Die Todesursache, die die Rechtsmedizinerin feststellte, ist eine massive Entzündung des Bauchraumes, die letztlich zum Herz-Kreislauf-Versagen führte. Ausgelöst wurde die Entzündung durch einen Dünndarmdurchbruch, der durch „stumpfe Gewalt“ hervorgerufen worden sei. Die Rechtsmedizinerin sagt, nur Schläge mit der Faust oder Tritte könnten diese Wucht entfalten, die zu Zoes inneren Verletzungen geführt haben.

Hinter ihr weint auf einem Stuhl leise eine junge Frau, 27 Jahre alt, in Jeans und Kapuzenpulli, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände verschränkt. Nur wenige Meter entfernt sitzt ihr Freund. Er hat den Kopf fast immer nach unten gebeugt, manchmal spitzt er die Lippen und guckt plötzlich hoch. Dann senkt sich der Blick wieder zu Boden.

Melanie S., die Mutter von Zoe, wird Mord durch Unterlassen vorgeworfen. Ihrem Lebensgefährten Matthieu K., 26, Mord. Hat er dem Mädchen so stark in den Bauch geboxt oder getreten, dass der Darm riss? An diesem Freitag ist der fünfte Verhandlungstag. Im Mai ist mit dem Urteil zu rechnen.

Zoe starb zu einem Zeitpunkt, als die Patchworkfamilie, zu der neben Melanie S. und Matthieu K. noch Zoes Zwillingsbruder und ein älterer Bruder gehörten, intensiv unterstützt wurde. Zwei Familienhelferinnen kümmerten sich um die Mutter und die Kinder, ein Einzelfallhelfer seit Jahren um K.

Beide hätten stets einen „liebevollen, zugewandten“ Umgang mit den Kindern gepflegt, sagen die Familienhelferinnen. Nie sei es laut geworden, nie aggressiv. Die Kinder wiederum, das geht aus Prozessunterlagen hervor, hatten Angst vor K.

Eines der Kinder ist nun tot. Wie konnte es so weit kommen?

Die Wahrheit kennen nur die Angeklagten. Sie schweigen. Ihre Verteidiger haben Erklärungen für ihre Mandanten verlesen. Darin lassen sie sinngemäß ausrichten: Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen.

Matthieu K. lässt erklären: Zoe sei ihm am 28. Januar, einem Samstag, gegen 16 Uhr und somit rund 60 Stunden vor ihrem Tod, in der Dusche ausgerutscht und vorher schon mal von der Spielzeugkiste gefallen. Und der älteste Bruder, das sei ihm noch eingefallen, habe irgendwann auch auf den Bäuchen der Zwillinge herumgetrampelt.

Bei Melanie S. heißt es: Matthieu habe die Kinder geduscht, dann habe sie ein Klatschen gehört, sich aber nichts dabei gedacht. Sie sei ins Badezimmer gegangen, dort habe Zoe auf dem Boden gesessen und „aua“ gesagt. An den Rippen sei ein roter Streifen zu sehen gewesen. Matthieu habe gesagt, sie sei ausgerutscht.

Melanie, das erzählt ihr Vater in einem langen Gespräch, sei immer ein freundliches, ausgelassenes Kind gewesen, mit langen Locken. Sie hat eine Sprachlernschwäche, aber sie sei nicht dumm. Aus beruflichen Gründen zieht die Familie von Hamburg nach Berlin-Wedding, die Söhne spielen Fußball, der Vater trainiert Jugendmannschaften. Melanie ist immer mit dabei, wäscht Trikots, feuert die Brüder an, entwickelt sich zu einer „zweiten Mutti“. Dann trennen sich die Eltern. Für die Kinder, sagt der Vater, müsse es wie aus heiterem Himmel gekommen sein. Ein Bruch, der die „ganze Familie auseinanderreißt“. Und Melanie, der Ältesten von sieben Geschwistern, „durch und durch Familienmensch, besonders wehtut“. Sie ist 15, bleibt kurz bei der Mutter, sie streiten, dann zieht sie zum Vater, der zunächst noch in der Nähe wohnt.

Melanie ist oft tagelang nicht zu sehen, hat einen ersten Freund, vernachlässigt die Schule. Und eines Tages, sie ist gerade 17, ist sie verschwunden, unterwegs auf der Straße, mal bei Freunden, immer auf der Suche nach der verlorenen Geborgenheit der Familie.

Nur eine Person gibt es, die ihr wenigstens ein bisschen davon verschafft. Es ist L., ihr „väterlicher Freund“, ihr „enger Vertrauter“, den sie seit mehr als zehn Jahren kennt, der auch mit ihr auf der Beerdigung ist und der sich für diese Geschichte Zeit nimmt, um über das zu sprechen, was er weiß.

Er wird für Melanie eine Art Ersatzvater, der ihr finanziell hilft und für sie die Kontakte zu den Ämtern vorbereitet. Er bringt sie zum Jugendamt, Sozialamt, Jobcenter. Sie hat keinen Schulabschluss, keine Ausbildung, keine Versicherung. Melanie S. übernachtet nach ihrer Flucht ins Ungewisse bei verschiedenen Männern. Sie macht ihre Erfahrungen, es waren selten gute, wie L. in Andeutungen von ihr erfährt. Eine Familienhelferin spricht im Gericht von einem „Trauma“, das sie aber nicht erklären kann.

2007 wird Melanie S. das erste Mal schwanger. Sie wohnt in Treptow mit B., dem Vater des Kindes, zusammen. Aber das geht nicht gut. Sie will weg von ihm. Die erste Schwangerschaft, wie auch alle folgenden, ignoriert sie bis in den achten, neunten Monat. Sie hat ein Talent zum Verdrängen. Erst, wenn alles unumkehrbar ist, nimmt sie es zur Kenntnis. L. sagt, sie sei in ihrer Entwicklung zu einem Erwachsenen mit 15 stehengeblieben.

2009 wird sie wieder schwanger, Zwillinge, von einem anderen Mann. L. kümmert sich, das Amt organisiert eine Wohnung in Marzahn, sie zieht mit ihren Kindern und einer Freundin ein. Dann immer das Gleiche: Überforderung, kein Geld, eine Fehlgeburt, das Jobcenter drängelt, die Mietschulden steigen, die Wohnungsgesellschaft mahnt, klagt auf Räumung. Melanie verschwindet wieder spurlos.

Immer wieder erzählt sie L. von ihrer großen Angst, man könnte ihr ihre Kinder wegnehmen. Dann schlüpft sie erneut bei einem anderen Mann unter. Es ist Matthieu K., aufgewachsen in Halle, Hauptschulabschluss, abgebrochene Kochlehre in Bitterfeld, vergebliche Versuche, in Berlin beruflich auf die Beine zu kommen. Er strandet bei der Treberhilfe und im sozialen Netz des Sozialstaats, bekommt einen Einzelfallhelfer vom Amt zugewiesen. Irgendwann landet er in der Wohnung eines Bekannten in der Indira-Gandhi-Straße, Pankow-Weißensee.

Er nimmt Melanie S. auf, vor Gericht lässt er erklären, dass er sich gefreut habe, eine Familie zu haben und sich um die Kinder kümmern zu können. Tatsächlich scheint es so, als hätte Melanie endlich jemanden gefunden, der für die dreifache junge Mutter sorgt. Er passt auf die Kinder auf, übernimmt die Erziehung – vor allem duscht er die Kinder häufig. Melanie mag das zwar nicht, aber lässt es geschehen.

Weggefährten sagen über Matthieu K., äußerlich sei er ruhig und freundlich, raste aber sehr schnell aus und werde aggressiv. K. ist ein kleiner, schmächtiger Mann, er stottert. Seine Mutter sagt im Prozess, dass er in der Schule übergewichtig war, ein Außenseiter, gemobbt und verprügelt wurde. Zudem habe er „gelogen und geklaut“ und wurde deshalb psychologisch behandelt. Da war er sieben Jahre.

Sie sagt, sie habe einmal einen Freund gehabt, vor dem sie beide Angst hatten. Der Sohn, die Mutter, weil er beide schlug. Da war Matthieu zwölf.

Die Situation in der Wohnung in Weißensee ist schwierig, sie ist zu klein. Wieder sind die Ämter involviert, ab Oktober 2011 vergibt das Jugendamt Pankow einen Auftrag an den freien Träger „Independent Living“. K. hat weiter seinen Einzelfallhelfer, zusätzlich kommen zwei Familienhelferinnen wöchentlich zu ihnen.

Die Zwillinge und der ältere Sohn sind weder sprachlich noch motorisch altersgerecht entwickelt und sollen in einem Sozialpädiatrischen Zentrum behandelt werden, Kitaplätze werden gesucht. Aber auch eine neue Wohnung. Melanie, sagt eine der Sozialhelferinnen, wollte offenbar wieder weg – von Matthieu K.

Das Kind liegt in seinem Erbrochenen, reglos, leblos

Als die Polizei am Tatort eintraf, stand die Mutter Melanie S. rauchend und mit dem Hund vor der Tür. Äußerlich unbeteiligt.
Als die Polizei am Tatort eintraf, stand die Mutter Melanie S. rauchend und mit dem Hund vor der Tür. Äußerlich unbeteiligt.

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Allerdings ist sie erneut schwanger. Dieses Mal offenbar von K., der einem Freund anvertraut, das sei wirklich sein Kind. Den Familienhelferinnen verschweigt Melanie die Schwangerschaft, lügt sie an bis in den neunten Monat. Auch dem eigenen Vater erzählt sie nichts.

Zu diesem Zeitpunkt wohnt noch eine weitere Person in der Wohnung, ein Bekannter von K. Dieser Mann, G., 28 Jahre alt, ist ein wichtiger Zeuge im Prozess. Drei bis vier Monate lebt er dort. Bald fallen ihm die blauen Flecken an den Kindern auf. Zudem irritiert es ihn, dass K. von Zweijährigen verlangt, sie sollen selbst ihre Sachen zusammenlegen und in den Schrank räumen. „Zweijährige!“, wiederholt G. im Zeugenstand, „so wollte der seine Macht präsentieren.“

Kurz vor Weihnachten kommt auch L. in die Wohnung, er hat einen Weihnachtsbaum und Spielzeug besorgt. Er erinnert sich: „Es war still, alle drei Kinder haben sich kaum gerührt.“ Normalerweise begrüßte der Älteste L. immer herzlich, „aber an diesem Tag nicht“.

Auch Melanies Vater trifft die Familie in Berlin, um mit ihnen in eine Kinderspielhalle in Reinickendorf zu gehen. Die Kinder sollen Spaß haben, aber sie wollen von sich aus nichts machen, müssen animiert werden, sind auffällig still. Der Vater sagt: „Du hast aber ruhige Kinder.“

G. macht die Beobachtung, dass die Kinder kaum sprechen, die Kleinen „gar nicht“. Er behauptet, Matthieu habe die Wohnung immer mit mindestens einem Kind verlassen, wenn die Familienhelferinnen kamen. Vor Gericht sagt G., er habe an einem Tag alle drei Sozialarbeiter in der Wohnung auf die Situation aufmerksam gemacht. „Mit Sicherheit.“ Das Amt bestreitet das.

Als Melanie mit Matthieu zur Geburt ihres vierten Kindes ins Krankenhaus geht, passt G. auf. Er holt sich seine Freundin zu Hilfe, die drei Kinder im selben Alter hat. Zoe streichelt der Freundin das Gesicht. Beim Baden sieht auch sie die „auffälligen blauen Flecken am Körper, im Genitalbereich, an den Armen, am Kinn“. Am Tag, bevor Zoe stirbt, ist G. kurz in der Wohnung, weil er klären will, wann er seine verbliebenen Sachen abholen könne. Er hört Zoe dreimal schreien, kurze Schmerzensschreie seien das gewesen.Nach der Geburt des vierten Kindes gibt Melanie S. in Absprache mit dem Jugendamt das Baby zur Adoption frei. Die Familienhelferinnen sind acht Stunden in der Woche für die Familie gebucht. Trotzdem sind sie im Januar, bis zum Tag vor Zoes Tod, nicht mehr in der Wohnung. Weil sie viele Termine auswärts hatten und Ämtergänge machen mussten, sagen sie.

Am 30. Januar kommen sie doch. Sie sehen eine sehr geschwächte, blasse Zoe, die spucken muss, und den Zwillingsbruder, der offensichtlich seinen rechten Arm nicht bewegen kann. Er ist gebrochen, wie sich später herausstellen wird.

Die beiden Frauen glauben, dass Zoe einen Magen-Darm-Infekt hat und empfehlen einen Arztbesuch. Sie gehen gemeinsam hinunter bis zur Straßenbahn, bieten an, Zoe mitzunehmen. Das Paar lehnt ab und geht, obwohl es kalt ist, lieber zu Fuß. In den Prozessunterlagen finden sich Andeutungen, dass K. seine Freundin überredet habe, nicht zum Kinderarzt zu gehen. Jedenfalls kommen sie nie dort an.

An jenem 30. Januar, einem Montag, legt sich Melanie S. gegen Mitternacht schlafen, Matthieu K. soll wachen. Er spielt Xbox und schaut, laut Anwalt, immer wieder nach den Kindern. Zoe wacht zwischen zwei und drei Uhr auf und hat Hunger, sie bekommt Lebkuchen und Joghurt. Gegen 4 Uhr morgens sieht Matthieu K. wieder nach ihr, sie liegt in ihrem Erbrochenen, reglos, leblos.

Um 4.04 Uhr geht bei der Feuerwehr K.s Notruf ein. Bei ihrer Ankunft steht eine Frau mit Hund im Hof, sie raucht und wirkt teilnahmslos, wie ein Polizeibeamter aussagt. Erst später sei ihm klar geworden, dass das die Mutter gewesen ist.

Einige Wochen später, als Zoes Zwillingsbruder in der Kinderklinik Buch hinfällt, geschieht etwas Außergewöhnliches, ein kleines Wunder. Der kleine Junge weint zum ersten Mal laut. Bisher hatte er selbst bei Schmerzen nur stumm gewimmert.

Weitere Wochen später reden der jüngere und der ältere Bruder Zoes auch über das Geschehene. Ihre Aussagen belasten nach Informationen des Tagesspiegels den Vater, es ist etwa die Rede von einem Messergriff, mit dem er auf Knie und Beine schlug. Bis heute lassen sich die Kinder von einem Mann nicht waschen.

Die Kinder haben auch über einen Ort berichtet, vor dem sie große Angst hatten. Das Badezimmer – ein Ort der Züchtigung. Ein tödlicher Ort für Zoe

Erschienen auf der Dritten Seite.

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