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In Trümmern. Immer wieder werden Wohnhäuser in Gaza getroffen. Israels Armee erklärt, die Hamas nutze die Zivilbevölkerung gezielt als Schutzschilde.

© AFP

Konflikt in Gaza: Stimmen des Krieges - Drei Palästinenser berichten

Sie sitzen beim Abendessen. Dann fällt eine Bombe. Scheiben zersplittern, es brennt. Alltag in Gaza. Manche hoffen darauf, dass es bald vorbei ist. Andere flüchten zu Verwandten. Zwei Studentinnen und ein Arzt erzählen.

Seit Wochen herrscht Krieg. Die Hamas beschießt Israel mit Raketen, Israel bombardiert Gaza. Hunderte Tote sind bereits zu beklagen. Während sich die Berichterstattung aus Israel problemlos gestaltet, sind Berichte aus dem abgeriegelten Gazastreifen kompliziert und gefährlich. Um trotzdem ein Bild der Lage vor Ort zu zeichnen, haben unsere Autoren mit Menschen in Gaza telefoniert. In vielen Konfliktregionen ist es üblich, dass die Kontakte zur Bevölkerung über professionelle Vermittler, sogenannte Stringer, hergestellt werden. So war es auch in diesem Fall. Die Schilderungen basieren auf rein subjektiven Erfahrungen und Einschätzungen. Die Gesprächsatmosphäre war nicht immer einfach: Einer der Autoren wurde bedroht, als er nach den Tunneln und Waffen der Hamas fragte.

Heute Morgen hat mich wieder eine Explosion geweckt. Ich bin aufgesprungen und habe aus meinem Fenster geschaut. Nichts zu sehen. Aber der Einschlag klang sehr nah. Ich habe auf Twitter geschaut, was passiert ist. Als ich das dritte Mal auf „aktualisieren“ klickte, stand dort plötzlich der Name einer Freundin. Jemand schrieb, sie sei bei einem israelischen Angriff getötet worden. Ich habe sofort ihre Familie angerufen. Sie lebte. Zum Glück stellen sich Nachrichten manchmal als Gerücht heraus. Aber ich fürchte, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis ich in diesem Krieg jemanden verliere, der mir nahesteht.

So richtig hat mich der Krieg am 8. Juli erreicht. Es war ein Dienstagabend, 20.15 Uhr. Zeit, das Fasten zu brechen. Meine Eltern, meine vier Schwestern, mein kleiner Bruder und ich hatten uns gerade um den Esstisch versammelt. Es war eine seltsame Situation, weil sie so normal wirkte. Ein Familienabendessen im Ramadan. Gleichzeitig drehte sich unser Gespräch wieder um den Krieg: Sollten wir unser Haus verlassen oder nicht? Wir wohnen in Al Twam, im Norden des Gazastreifens. Das israelische Militär hatte angekündigt, den Norden stärker zu bombardieren.

Plötzlich eine Explosion

Plötzlich gab es eine riesige Explosion, kaum zehn Meter von uns entfernt. Ein israelischer F-16-Kampfjet hatte eine Bombe abgeworfen. Es fühlte sich an, als würde sie unser ganzes Haus erschüttern. Fensterscheiben zersplitterten, Glasscherben und Schutt flogen durch unser Esszimmer. Wir haben keinen Bunker oder Keller, deshalb rannten wir in unser kleines Badezimmer, das keine Fenster hat. Zu acht quetschten wir uns hinein.

Unser Haus war vollständig von Rauch und Feuer umgeben. Wir hörten unsere Nachbarn schreien. In so einem Moment denkt man an nichts, lässt keine Gefühle zu. Man funktioniert nur, registriert, dass man noch lebt.

Danach sind wir zu meiner Tante gefahren. Gepackt haben wir vorher nicht. Nur meinen alten Teddybären habe ich noch schnell geschnappt. Ich weiß, dass ich zu alt für Kuscheltiere bin. Aber es tut gut, sich an ihm festzukrallen, wenn ich Angst habe. Meine Tante wohnt westlich von Gaza-Stadt. Hier ist es hoffentlich sicherer. Aber was ist schon sicher in einer Situation wie dieser. Das ist der dritte Krieg innerhalb von sechs Jahren, den ich miterlebe. Ich gewöhne mich nicht daran. Bei jeder Explosion rast mein Herz wie beim ersten Mal.

Fünf Familien wohnen jetzt in einer Drei-Zimmer-Wohnung

Unsere Tante besitzt eine Drei-Zimmer-Wohnung. Momentan sind wir fünf Familien darin. Mein Onkel und meine Tante versuchen, die jüngsten Kinder von den Nachrichten fernzuhalten, doch wenn wir Strom haben, läuft immer der Fernseher. Die Bilder sind grausam: Blutlachen auf der Straße, zerstörte Häuser, verkohlte Leichen. Kein Kind sollte so etwas sehen.

Weil ich Englisch spreche, kann ich auch internationale Nachrichten lesen. Also verbringe ich meinen Tag mit Twitter, Facebook, Al Dschasira, CNN, Haaretz. Ich folge auf Twitter auch der israelischen Armee. Neulich schrieb einer der Sprecher, dass Israel sich um die Verletzten in Gaza kümmere. Davon habe ich bisher nichts gesehen. Im Gegenteil. Einige Krankenhäuser sind bombardiert worden und Sanitäter wurden verletzt.

Ich hoffe, dass sich Israel und Hamas bald auf einen Waffenstillstand einigen. Beide Seiten müssen einsehen, dass sie mit ihrem Handeln nur den Menschen in Gaza schaden. Trotzdem finde ich die Behauptung absurd, dass Hamas uns als menschliche Schutzschilde verwendet. Gaza hat 1,8 Millionen Einwohner auf 360 Quadratkilometern. Wohin sollen wir denn fliehen? Ich glaube, dass Israel das Argument verwendet, um die Angriffe auf uns zu legitimieren.

Wenn ich könnte, würde ich Gaza sofort verlassen. Im Gegensatz zu vielen Einwohnern hier war ich schon im Ausland: für Austauschprogramme in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten und den USA. Mein Traum ist es, eines Tages in Amerika zu leben. Gaza wird immer meine Heimat sein. Aber ein erfülltes Leben ist hier nicht möglich.

Walaa al Ghussein ist 21 Jahre alt und studiert Englisch an der Al-Azhar-Universität in Gaza. Protokoll: Theresa Breuer

Sarah, 18 Jahre: "Die Israelis sollten hier nicht leben"

Als heute der Aufruf aus der Moschee kam, bin ich sofort losgegangen. Wir wurden gebeten, für die UNRWA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen, zu spenden. Sie haben hier in Schulen Notunterkünfte eingerichtet für Menschen, die fliehen mussten oder deren Häuser zerstört wurden. Ich habe gleich meinen Kleiderschrank durchsucht. Fast hätte ich die Chance gehabt, das Haus zu verlassen. Das erste Mal seit Beginn des Krieges. Dann durfte ich doch nicht – zu gefährlich. Mein Vater wird die Spenden bringen.

Vor ein paar Tagen wurden vier Kinder getötet, sagt sie

Vor ein paar Tagen wurden am Strand vier Jungen getötet, unschuldige Kinder. Ich habe sie gekannt. Wochen zuvor habe ich einen kurzen Film über Kinderarbeit gedreht und sie dabei kennengelernt. Der Film war für einen Englischkurs, den ich bei der amerikanischen Nichtregierungsorganisation Amideast belege.

Ich studiere Ingenieurswissenschaften an der Universität in Gaza. Derzeit ist unsere Uni geschlossen. Doch auch wenn wir zu Hause bleiben, sind wir nicht sicher. Im ersten Gaza-Krieg wurde unsere Wohnung von einer Bombe getroffen. Wir waren zu dem Zeitpunkt zum Glück nicht daheim. Wir haben nichts mit der Hamas zu tun und unsere Wohnung wurde dennoch zerstört.

Sie fragen, ob die Hamas Waffen in Wohnhäusern oder Krankenhäusern verstecken würde? Ich glaube nicht. Sie haben doch ihre eigenen Verstecke, die niemand kennt. Wo die Tunnel sind, die Israel mit seiner Bodenoffensive nun zerstören will, wissen wir nicht. Sicherlich sind sie aber weit weg von Wohnhäusern, eher an der Grenze.

Meine Mutter sagt immer, wir sollen von den Fenstern wegbleiben. Aber wenn sie nicht hinsieht, dann mache ich manchmal Bilder von draußen. Die Straßen sind menschenleer. Wir hören nur immer wieder die Bombeneinschläge, dann wackelt hier im Haus alles. Wir wissen nicht, ob wir wegen der Druckwellen die Fenster öffnen oder sie wegen des Rauchgestanks schließen sollen.

Die meiste Zeit sitzen wir vor dem Fernseher und schauen Nachrichten auf Sendern wie Ma’an oder Al Aqsa. Ich twittere viel und poste auf Facebook, was hier passiert. Manchmal wird es mir zu viel, dann will ich mich ablenken, höre Musik oder schaue Serien wie „Vampire Diaries“. Doch dann kommt der nächste Einschlag und wir schalten wieder die Nachrichten ein.

Nachts versuchen sie zu schlafen. Doch sie können kaum

Nachts versuchen wir zu schlafen und können es doch kaum, weil sich der Himmel draußen alle halbe Stunde erhellt und die Einschläge so laut sind. Dann wache ich wieder auf, schaue auf Twitter.

Ich hätte gerne Frieden, aber ich will nicht nur einen Waffenstillstand, sondern einen unter den Bedingungen der Hamas. Ich hatte nie mit der Hamas zu tun, aber sie sind die Einzigen, die unser Land schützen. Man kann es auch nicht Terrorattacken nennen. Sie verteidigen sich nur. Sie haben Raketen, aber die zerstören ja nicht viel.

Die Hamas sollte auf keinen Fall einen Waffenstillstand eingehen, bei dem wir wieder das gleiche Leben haben wie bisher. Das Land hier gehört nicht den Israelis, sie haben es besetzt und sollten hier nicht leben. Die Menschen hier wollen, dass sie aus ganz Palästina verschwinden.

Sarah ist 18 Jahre alt. Sie studiert Ingenieurswissenschaften in Gaza. Protokoll: Lissy Kaufmann

Subhi Skaik, 58 Jahre: "Ich fühle mich nicht als menschlicher Schutzschild missbraucht"

Die Ereignisse der vergangenen Wochen verschwimmen in meiner Erinnerung zu einem gewaltigen, blutigen Mischmasch. Ich bin Chef der Chirurgie im Schifa-Krankenhaus in Gaza und schlafe höchstens zwei bis drei Stunden pro Nacht. In den Gängen stöhnen zahllose Verletzte, Flüchtlinge, die auf den Treppen und im Hof Zuflucht suchen, weinende Kinder und frustrierte Eltern – und im Hintergrund hört man ständig Bomben fallen.

Zwei Wochen lang habe ich ohne Unterbrechung gearbeitet. In der Nacht zum Mittwoch bin ich dann erstmals nach Hause gefahren, weil ich meine Frau und meinen jüngsten Sohn mit Essen versorgen wollte. Eine meiner zwei Töchter arbeitet mit mir im Krankenhaus, ein Sohn studiert Medizin in Ägypten und ist in Sicherheit. Dass meine Familie unsere Wohnung in Gaza-Stadt verlässt, möchte ich auf keinen Fall. Jeder Ausflug ist ein lebensgefährliches Abenteuer.

Der Leichensaal ist schon überfüllt

Der Leichensaal im Krankenhaus ist überfüllt. Nicht nur weil die Opferzahl so hoch ist, sondern weil viele Angst haben, ihre Verwandten zu begraben. Es ist einfach zu gefährlich. Der Leichengestank verfolgt mich aber auch draußen. Man kann die Toten, die noch immer nicht geborgen wurden, schon aus weiter Entfernung riechen. Die Rettungsdienste trauen sich nicht, alle zu bergen, weil noch immer viel gekämpft wird.

Der Heimweg war ein Schock für mich. So viele Häuser sind zerstört, die Menschen haben alle fürchterliche Angst. Es tat gut, meine Familie wiederzusehen. Daheim ist die Lage fast noch schlimmer als in der Klinik. Es gibt nur drei Stunden Strom am Tag, was bedeutet, dass auch das Wasser selten fließt. Auf dem Weg zurück zur Arbeit habe ich keine weiße Flagge auf mein Auto gesteckt, wie andere es machen. Ich habe mich damit abgefunden, dass ich jeden Augenblick sterben könnte. Hauptsache, meine Familie ist in Sicherheit. Auch mit der erweiterten Familie telefoniere ich oft. Wir halten hier alle zusammen in Gaza. Die Hamas eingeschlossen. Sie trifft keine Schuld für den jetzigen Zustand. Ich habe sie nicht gewählt. Aber besonders jetzt geschieht hier in Gaza etwas Einmaliges: Jeder steht hinter der Hamas. Sie verteidigen nur unsere Rechte. Wir können ihr doch nicht vorschreiben, wie sie das tun soll.

Für Nachrichten habe ich keine Zeit

Alle gehören jetzt zusammen, in den Trümmern mischt sich das Blut der Opfer, egal welcher politischen Partei sie angehören. Ich fühle mich nicht als menschlicher Schutzschild missbraucht. Dass die Hamas Raketen in Schulen der UN versteckt hat, davon habe ich nichts gehört. Ich habe keine Zeit für Nachrichten. Und ich glaube auch nicht, dass Kämpfer der Islamisten Krankenwagen nutzen, um zu den Schlachtfeldern zu gelangen. Zu israelischen Kollegen habe ich keinen Kontakt. Früher habe ich öfter Patienten nach Israel zur Weiterbehandlung überwiesen, und ich würde es auch heute tun. Aber die Menschen haben viel zu sehr Angst, jetzt das Krankenhaus zu verlassen.

Subhi Skaik, 58 Jahre alt, ist Leiter der Chirurgie im Schifa-Krankenhaus, dem größten in Gaza. Protokoll: Gil Yaron

Die Protokolle erschienen auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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