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Schlachtfeld Maidan

© Louisa Gouliamaki/AFP

Krise in der Ukraine: 100 Tage Widerstand auf dem Maidan

Es begann so harmlos, ein bisschen wie im Pfadfinderlager. Dann aber spürte sie: Die Menschen auf dem Maidan werden nicht aufgeben. Unsere Autorin Nina Jeglinski war fast jeden Tag am Platz. Ein persönlicher Rückblick auf 100 Tage Widerstand in Kiew.

Minutenlang schaute ich auf die große, qualmende Ruine. Es brannte noch immer im siebten Stock des Gewerkschaftshauses am Maidan, einem Symbol der Protestbewegung. Die Truppen von Präsident Viktor Janukowitsch hatten nachts das Hauptquartier der Opposition mit Brandbomben angesteckt und einen Feuerwehreinsatz verhindert. Noch am Vormittag knisterte, krachte und klirrte es, Glas und Steine fielen herab. Ich war fassungslos, sonst regte sich kein Gefühl, keine Trauer, kein Hass. In diesem Augenblick wusste ich: Es gibt kein Zurück für die Ukraine. Das alte System ist zu weit gegangen, jetzt wird es große Veränderungen geben. Aber welche?

Ich spürte: Entschlossenheit

Der Stadt standen da gerade die zwei blutigsten Tage seit Beginn des Widerstands bevor. Als ich da vor der Ruine stand, spürte ich um mich herum vor allem eines: Entschlossenheit. Vor meinem geistigen Auge lief eine Zeitreise ab. In Gedanken ging ich zurück zu jenem Tag Ende November, an dem die ersten Demonstranten den Unabhängigkeitsplatz in Kiew besetzt hatten. Ich beschwor Momente herauf, die ich zu Friedenszeiten genau an dieser Stelle erlebt hatte. Die Übertragung des Eröffnungsspiels der Fußballeuropameisterschaft Anfang Juni 2012 beispielsweise, als sich hier Tausende versammelt hatten, fröhlich und stolz darauf, dass ihr Land Gastgeber der Euro 2012 war.

Die Kiewer mochten den Platz, weil er eine Art Oase in einer hektischen Millionenstadt war. Jeden Morgen, bevor sie erwachte, spritzten städtische Reinigungsfahrzeuge das Schmuckstück sauber. Es gab Blumen in Kübeln, niemand wäre auf die Idee gekommen, auch nur ein Kaugummipapier in die Rabatten zu werfen.

Und heute? Gut 100 Tage später stehen hier hunderte Zelte, zwischen denen es die Menschen immer eilig zu haben scheinen. Der Maidan wirkt wie eine kleine, gut organisierte Stadt, die sich selber organisiert. Es gibt Küchen, die für die Aktivisten kochen, einen Medizinischen Dienst, Seelsorger. Jeden Tag werden Lebensmittel und Holz angeliefert. Alle Meter brennen Feuer in alten Ölfässern. Während der Kämpfe hatten die Männer und Frauen an vielen Stellen das Pflaster aufgerissen, um die Steine als Wurfgeschosse gegen die Sondereinheiten zu benutzen. Mit dem Rauch verbrannter Reifen haben sie der Polizei den Blick versperrt. Jetzt ist der Boden kohlrabenschwarz, Asche und Erde bilden einen zähen Schlamm. Ruß hat sich an den einst hellen Hausfassaden festgesetzt.

Ein historischer Moment

In den vergangenen Wochen ist kaum ein Tag vergangen, an dem ich nicht auf dem Maidan war. Der letzte Donnerstag ist ein ganz besonderer Moment. Ich habe mich mit einer Hamburger Kollegin am sogenannten Tannenbaum verabredet. Die Aktivisten haben an das etwa 15 Meter hohe Gerüst, aus dem eigentlich der Kiewer Weihnachtsbaum werden sollte, Fahnen und Transparente mit ihren Parolen gehängt.

Der Platz ist schwarz vor Menschen, obwohl es eisig kalt ist. Sie stehen eng beisammen, wärmen sich mit Cognac im Kaffee, scherzen und rufen zur Tribüne hinauf. Es findet gerade eine Premiere besonderer Art statt: Erstmals müssen Politiker vor Eintritt in die Regierung den Bürgern Rede und Antwort stehen. Das Parlament hatte eine Liste mit Kandidaten zusammengestellt, die den politischen Neuanfang umsetzen sollen. So eine Urwahl hat es in der neueren Geschichte der Ukraine noch nie gegeben. Es ist der Versuch, mehr Mitbestimmung und mehr Demokratie in der Ukraine zu wagen. Besonders gut kommt der Maidan-Kommandant Andreij Parubiy an. „Maladetz, Maladetz“, johlt die Menge. Eine Sympathiebekundung, die man wohl übersetzen kann mit: „Du bist großartig“ oder „Das hast du gut gemacht!“.

Das Mehrfamilienhaus ist verlassen. Meine Nachbarn sind zu ihren Verwandten gezogen

Nina Jeglinski berichtet aus Kiew.
Nina Jeglinski berichtet aus Kiew.

© privat

Man spürt es überall, die Menschen sehnen sich nach einem Neuanfang. „Es soll endlich wieder Frühling werden“, beschreibt Natasha ihre Gefühle an diesem fast schon historischen Tag. Die Mittzwanzigerin bedient in einem Restaurant in der Uliza Kostolna, einer kleinen Nebenstraße, keine zehn Meter vom Maidan entfernt. Das „Très français“, gilt als Treffpunkt für Medienmenschen und Leute, die mit Politik zu tun haben. Die Einrichtung erinnert an eine Mischung aus Gartenlokal und Bistro. Am Dienstag vergangener Woche hatte der Chef alle Angestellten nach Hause geschickt, keiner wusste, ob er je wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehren würde.

Die U-Bahn ist eingestellt

Wenige Stunden später versuchten Janukowitschs Truppen den Maidan gewaltsam zu räumen. Als der Sturm losbricht, sitze ich in meinem Apartment in der Prorizna Straße 4. Das Haus stammt aus der Stalin-Ära, ist, wie man in Berlin sagen würde, „Zuckerbäckerstil der UdSSR“. Es liegt nur 400 Meter vom Maidan entfernt. Die Prorizna ist eine enge, belebte Straße, hier haben Behörden und Banken ihre Büros. Ich spüre, dass das fünfstöckige Mehrfamilienhaus fast menschenleer ist. Die Behörden hatten den U-Bahnverkehr komplett eingestellt und eine „Anti-Terror-Operation“ für den Abend angekündigt. Meine Nachbarn, die meisten von ihnen Ukrainer, hatten die Stadt verlassen, sind zu Verwandten in andere Stadtteile oder aufs Land gezogen. Nur die Alten sind geblieben. „Ich habe den Krieg erlebt, was soll schon kommen?“, sagte eine meiner Nachbarinnen.

Am Nachmittag hatte mich ein Mitarbeiter der Deutschen Botschaft davor gewarnt, nach Anbruch der Dunkelheit das Haus zu verlassen. Um kurz nach acht beginnt der Angriff, vom Platz schallen Stimmengewirr, Kanonendonner und Schüsse herüber, es klingt dumpf und bedrohlich. Ich sitze vorm Fernseher und ahne, dass die Menschen den Maidan nicht verlassen werden. Das Regime würde sie entweder alle wegräumen, erschießen – oder selbst aufgeben müssen.

Mein Freund ist fassungslos

Meine Familie in Deutschland war zu dieser Zeit in großer Sorge, mein Lebensgefährte fassungslos. „Warum setzt du dich nicht in den nächsten Flieger nach Berlin?“, fragte er am Telefon. Meine Zwillingsschwester verstand zwar, bat mich aber vorsichtig zu sein: „Mach deinen Job, die Welt muss sehen, was dort passiert.“ Ich bin Mitte 40 und arbeite seit vielen Jahren als Journalistin, zwischen Januar 2009 und April 2013 habe ich für Nachrichtenagenturen von Kiew aus berichtet. Kurz nach Beginn der Proteste hatte ich beschlossen, wieder in die Ukraine zu gehen. Dass die Gewalt so eskalieren und Janukowitsch auch nicht davor zurückschrecken würde, Scharfschützen auf die Demonstranten anzusetzen, war nicht absehbar. Es hätte an meinem Entschluss aber auch nichts geändert.

Erst waren es nur ein paar Oppositionelle, jetzt fordert die Mehrheit in der Ukraine eine Wende hin Richtung Europa – und viele sind bereit dafür zu sterben. Mehr als hundert Tote und tausende Verletzte hat der Konflikt bislang gekostet. Auslöser war die Weigerung von Diktator Janukowitsch, ein fertig ausgehandeltes Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen. Am Abend des 21. Novembers 2013, also vor genau 101 Tagen, einem regnerischen, kalten Donnerstagabend, versammelten sich die ersten 30 bis 40 Menschen.

Die Frauen kaschieren die blauen Flecke

Sie haben die Gesellschaft aufgerüttelt, die in den Gewohnheiten der späten Sowjetunion stecken geblieben ist. Im Straßenbild gibt es keine Graffiti, wer sich in der Öffentlichkeit auffällig benimmt, muss damit rechnen, von einem Polizisten angesprochen zu werden. Streit wird nie öffentlich ausgetragen. Umso heftiger geht es zu Hause zur Sache. „Wenn dein Ehemann dich nicht schlägt, liebt er dich nicht“, Weisheiten dieser Art tauschen Frauen wie selbstverständlich untereinander aus. Mir sind selbst Pressesprecherinnen von Parlamentsabgeordneten begegnet, die ihre blauen Flecken nur mühsam mit Make-up kaschieren konnten.

„Die Sowjet-Ära hat die Ukraine und ihre Gesellschaft kaputtgemacht“, sagt Tatjana Tschornowil. Die Maidan-Aktivistin setzt sich seit Jahren für eine europäische Ukraine ein. Die 34-Jährige ist eine der wenigen investigativen Journalisten, sie berichtet über Korruption und Vetternwirtschaft. Als ich sie das erste Mal vor Jahren traf, verkündete sie bereits: „Ich will eine Ukraine ohne Protz-Politiker, die sich vom ersten Tag ihrer Amtszeit bereichern und für die es selbstverständlich ist, dass Straßen gesperrt werden, damit ihre Wagenkolonnen passieren können oder im Privathubschrauber durchs Land reisen.“

Es begann wie bei den Pfadfindern

Menschen wie Tatjana und ihr Kollege, Mustafa Naidem, Gründer des Oppositionssenders Hromadske-TV, gehören zu den Maidan-Aktivisten der ersten Stunde. Damals ähnelte der Platz einem Pfadfinderlager. Jeder zog sich warme Stiefel an und machte seine Runden über den Platz. Ich werde nie vergessen, wie der frühere Außenminister Boris Tarasjuk Mitte Dezember ein Gespräch mit mir beendete: „Lassen Sie uns morgen weiterreden, ich habe Nachtschicht und muss jetzt auf meinen Posten.“ Dann zog sich der 65-jährige Karrierediplomat seine Daunenjacke über und ging bei 15 Grad minus auf Streife.

Als ich am ersten Weihnachtsfeiertag die Bilder mit dem zerschlagenen Gesicht von Tatjana sah, musste ich fast weinen. Das Auto der Journalistin war auf einer Fernstraße von zwei Geländewagen gerammt worden. Mehrere Männer zogen sie auf den Asphalt, schlugen auf sie ein und flüchteten. Man hatte Tatjana fast totgeschlagen, weil sie die Anwesen des Präsidenten und anderer, hochrangiger Politiker fotografiert hatte.

Wer kein Geld oder ein Geschenk zum Termin mitbringt, bekommt den Stempel nicht

Eine meiner Bekannten in Kiew ist Alexandra, ich habe sie vor einigen Jahren bei einer Party kennengelernt. Alexandra arbeitet an der Taras-Schwetschenko-Universität in Kiew und ist Dozentin für Geschichte und Germanistik. Sie ist bald 40 Jahre alt, war aber noch kein einziges Mal im Ausland. Alexandra träumt von Reisen quer durch Europa, da sie aber nicht in Kiew geboren wurde, müsste sie, um sich einen Reisepass ausstellen zu lassen, erst einmal in ihrer Heimatgemeinde etliche Papiere anfordern. Sie hat das mal angefangen, dann aber aufgegeben, weil sie laufend Bestechungsgelder zahlen musste und jeder weitere Beamte wieder neue Papiere verlangte. Es sei wie „ein Lauf durch ein Spiegelkabinett“ gewesen, klagt Alexandra. Sie fühle sich wie ein Mensch zweiter Klasse. „Warum darf ich im 21. Jahrhundert nicht frei reisen?“

Auch ich habe Erfahrungen mit Behörden gemacht, gemerkt, wie unverblümt selbst kleinste Beamte die Hand aufhalten. Wer kein Geld oder wenigstens ein Geschenk zum Termin mitbringt, bekommt den benötigten Stempel eben nicht. Ich kann die Wut und Hilflosigkeit der Ukrainer verstehen. Auch wenn ich das System nicht annähernd mit der Brutalität zu spüren bekommen habe wie die Menschen auf dem Maidan, die ihre Gesundheit einbüßten oder gar ihr Leben ließen.

Janukowitsch verhöhnte alle

Auch den Despoten habe ich persönlich erlebt: bei Interviews, auf Wahlkampftouren und beim Fußball. Eine Begegnung ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Damals bewarb sich Viktor Janukowitsch gerade für das Präsidentenamt. Eine Gruppe Journalisten war ins ostukrainische Lugansk geflogen, wo dann etwa 20 Leute in einem kleinen Raum eines regionalen TV-Senders auf ein Gespräch warteten. Plötzlich hörte man auf dem Flur eine tiefe Männerstimme, die fragte: „Sind die Medienfuzzis immer noch nicht hier? Zerrt sie an ihren verdammten Eiern in diese abgefuckte Hütte!“. Im dem Moment, als er den Satz beendet hatte, bog Janukowitsch um die Ecke und blickte in unsere Gesichter. Es huschte ein kurzes, verächtliches Lächeln über sein Gesicht.

Mit seiner Flucht hoffen die Ukrainer, die Ära der Untertanen und Zaren endlich überwunden zu haben. Allerdings müssen sich nicht nur die Politiker ändern, auch der tägliche Umgang der Menschen muss ein neuer werden. Was die Ukraine nun dringend braucht, sind Bürger im besten Sinn. Als ich das Angebot der Nachrichtenagentur erhielt, habe ich nicht lange gezögert. Ich will erleben, in welche Richtung sich dieses große Land bewegt: Nach Osten oder Westen. Oder in eine komplett andere Richtung.

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