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Ingo Senftleben hat lange unbemerkt auf sein großes Ziel hingearbeitet.

© Sebastian Gabsch/PNN

Landtagswahlen in Brandenburg: Ingo Senftleben – der Vorarbeiter

Er könnte der erste CDU-Ministerpräsident Brandenburgs werden. Indem Ingo Senftleben alles anders macht als seine Vorgänger – und Tabus bricht.

Dann kniet sich Ingo Senftleben auf den Steg. Er genießt den Moment, blickt versonnen auf den Wurlsee, in dem sich die Nachmittagssonne spiegelt. Hält die Hand ins klare, kalte Wasser, macht sich frisch im Gesicht, und da ist es wieder, das typische Lächeln. „Wenn ich meiner Frau erzähle, dass man hier direkt in der Seerosenbucht frühstücken kann, am Hochzeitstag, dann komme ich aus dieser Nummer nicht mehr raus.“

Was Senftleben hierher ins Seehotel in Lychen führt, in den hohen Norden Brandenburgs, ist wenig romantisch. Inhaber Rainhard Tänzer, 69, früher mal Manager bei Volkswagen, kämpft seit zehn Jahren darum, das kleine Hotel um ein Baumhaus und Bungalows erweitern zu dürfen. Die Behörden, die seine Pläne bisher ablehnten, begründen das mit Grünschutzgeboten aus dem Landesentwicklungsplan für Brandenburg und Berlin. Würde Tänzer so, wie von ihm gewünscht, bauen, führe das – hier auf einer Halbinsel, auf der nichts steht außer sein Hotel – zur „Verfestigung einer Splittersiedlung“.

Senftleben hat sich Zeit genommen für diesen Termin, lässt sich über das Gelände führen, den Schriftwechsel zeigen, fragt nach. Als er sich nach einer Stunde von Tänzer verabschiedet, macht er es kurz: „Ich brauche ja nicht viel zu reden. Wir klären das nach dem 1. September!“ Was gesagt werden musste, ist gesagt. Nämlich, dass er als Regierungschef den Landesentwicklungsplan mit Berlin kündigen wird.

Eine echte Chance? Niemals. Nicht in Brandenburg.

Schon wie er das ausspricht, als sei das alles die größte Selbstverständlichkeit, illustriert den dramatischen Zeitenwandel in Brandenburg. Das Land galt lange als „Herzkammer“ der Sozialdemokraten, als rotes Stammland im Osten, seit 1990 ununterbrochen von SPD-Ministerpräsidenten regiert, Manfred Stolpe, Matthias Platzeck, inzwischen Dietmar Woidke. Aber nun sieht es so aus, dass die Genossen wohl eher einen Herzschrittmacher bräuchten, damit das auch nach der Brandenburg-Wahl so bleibt.

Dass hier einmal ein Christdemokrat siegen könnte, eine echte Chance hat, Ministerpräsident zu werden? Unvorstellbar. Niemals. Nicht in Brandenburg. Der Einzige, der es überhaupt mal versucht hat, war Jörg Schönbohm. Das war 2004, am Ende musste er kapitulieren.

Ingo Senftleben, 44 Jahre, will Dietmar Woidke ablösen, er hat lange unbemerkt auf dieses Ziel hingearbeitet, seit er 2014 Oppositionsführer im Landtag und ein Jahr später auch Parteivorsitzender wurde, der 13. der märkischen Union. Zwei Jahre hat er gebraucht, die zerstrittene Truppe halbwegs zu ordnen. Dann begann er, Woidke in die Enge zu treiben, mit den Unterschriften gegen die dann prompt abgeblasene Kreisreform, womit er gleich mal die Kampagnenfähigkeit der CDU trainierte.

Und nun ist er der Erste, der tatsächlich schaffen könnte, was lange unmöglich schien. Die SPD, die früher alle Verfolger auf Sicherheitsabstand halten konnte, hat diesen Vorsprung eingebüßt. SPD, CDU und AfD liegen alle bei Werten um die zwanzig Prozent, die Linken folgen dicht. Nichts scheint mehr unmöglich. Auch ein Sieg des Mannes an der Spitze der Union nicht, der zum Entsetzen vieler Parteifreunde eine Koalition mit den Linken nicht ausschließen will. Als erster CDU-Landeschef. Trotz des Aufschreis, bundesweit. Der überhaupt ein Unions-Dogma nach dem anderen beiseite fegt. Weil er diese Wahl gewinnen will, indem er alles anders macht als seine Vorgänger.

Er wollte damals eigentlich etwas kürzertreten

Der Tag, der ihn Anfang März einmal rauf und runter durch das Land führt, hat in aller Frühe in Schwarzbach begonnen. Hier ist er zu Hause, nahe der sächsischen Grenze. Senftleben, verheiratet, drei Töchter, fünf, sieben und zwölf Jahre alt, die Älteste aus einer früheren Beziehung. Die Familie lebt in einer liebevoll sanierten Villa, in den 1930er Jahren für den Direktor einer Lausitzer Bergbaugesellschaft gebaut, direkt an einem Auenwald, uralte Eichen, 150 Meter weiter fließt die Schwarze Elster.

Bevor Senftlebens das Haus 2014 kauften und sanierten, stand es einige Jahre leer. Er wollte damals eigentlich etwas kürzertreten, mehr Zeit für die Kinder haben, für das Haus. Stattdessen wurde plötzlich ein Fraktionsvorsitzender gebraucht. „Ohne die Eltern“, erzählt er beim Frühstück, Bäckerbrötchen, zwei Mal in der Woche an die Haustür geliefert, „hätten wir das nie geschafft“.

Er kommt ins Schwärmen, über den Wald direkt am Haus. „In der Nacht kann man einhundert, zweihundert, dreihundert Glühwürmchen sehen, großartig.“ Er brauche auch den Blick aus dem Fenster rüber über die Felder. Er, der Fan von Eseln, weil das so intelligente Tiere sind, und vom 1. FC Köln. „Oder zwei Stunden Laub im Garten wegharken. Und dann ein Windstoß – und alles wie vorher.“ Das ist auch ein ziemlich treffendes Bild dafür, wie es bisher der CDU im Land erging.

Senftleben verabschiedet sich von den Kindern, von seiner Frau Kristin, die in Dresden in einer Softwarefirma arbeitet. 7.15 Uhr, wie immer, steht sein Fahrer mit der Dienstlimousine vor der Tür. Ja, er pendle jeden Tag, nur an den Plenartagen des Parlamentes nicht, aber sonst, morgens zwei Stunden hin, abends zwei Stunden zurück.

Er fing im gleichen Betrieb wie der Vater an. Was er nie wollte

Er habe eigentlich Polizist werden wollen, „Kriminalpolizei natürlich“, die DDR existierte noch, erzählt er während der Fahrt nach Potsdam. Doch als ihm eröffnet wurde, dass er seine Verwandten aus dem Westen dann nicht mehr einfach so sehen könnte, sei das nicht infrage gekommen. Stattdessen Ausbildung zum Maurer, irgendwas musste er ja lernen, Führerschein für Turmdrehkräne inklusive, er fing im gleichen Betrieb wie der Vater an, was er sein Lebtag nie wollte, wurde Vorarbeiter. „Irgendwann hat es mir Spaß gemacht.“ Weil man sieht, was man getan hat. Gern zeigt er die Bärenbrücke am Schönefelder Kreuz, die er damals gemeinsam mit seinem Vater baute.

In die CDU trat er 1997 ein, aus Trotz, weil sich viele von Helmut Kohl abzuwenden begannen. Ein Jahr später war er Stadtverordneter in seiner Heimatstadt Ortrand, 1999 kandidierte er für den Landtag. „Meine Eltern halfen mir, die Plakate aufzuhängen. Mutter hat tagelang im Garten den Kopf ihres Jungen auf die Pappen gekleistert.“ Und tatsächlich gewann er unerwartet das Direktmandat – und danach noch drei Mal.

Nun war er der jüngste Abgeordnete im Landtag, mit 25 Jahren. Dort profilierte er sich als Bildungspolitiker, beendete sein Hochbautechnik-Studium und lenkte ab 2003 elf Jahre als ehrenamtlicher Bürgermeister die Geschicke seiner Heimatstadt. Als einer gesucht wurde, hatten ihn alle Fraktionsvorsitzenden im Stadtparlament, SPD, Grüne, FDP und CDU, um die Kandidatur gebeten: „Da konnte ich nicht Nein sagen.“

In Ortrand hatte er ein Bildungszentrum bauen lassen, Kindergarten, Grundschule und Oberschule, alles an einem Fleck. „Die Kinder bleiben bis zur zehnten Klasse zusammen“, sagt er. „Das bindet nicht nur die Kinder, sondern auch die Elternhäuser.“ Er halte nichts davon, Kinder früh zu sortieren. Wundert sich wirklich einer, dass er jetzt in den Wahlkampf zieht, um die vernachlässigten Oberschulen im Land zu stärken, dass der Sohn eines Bauarbeiters und einer Verkäuferin seiner Partei ein sozialeres Profil verpassen will? Traditionell Konservativen mutet er damit einiges zu.

Ein Unmut, der sich Ventile sucht

Sein Stil, wie er immer wieder vorprescht, auch mit Alleingängen, ist durchaus umstritten. Er kommuniziere zu wenig, heißt es. Es ist ein Unmut, der sich Ventile sucht. So war es zumindest früher in dieser CDU, die am gefährlichsten für die eigenen Vorsitzenden war. Und bald ist der Landesparteitag, auf dem die Liste aufgestellt und er zum Spitzenkandidaten gekürt werden soll.

Ehe er nach Lychen aufbrach, wieder eineinhalb Stunden Autofahrt, nach einer Kantinen-Currywurst, hatte er das übliche Dienstagsprogramm im Landtag absolviert. Vorstand, Fraktion, Pressekonferenz, dazwischen Besprechungen, Kleinkram, ohne den das Große nicht funktioniert.

Mal ging es um das Prozedere, wie Angela Merkel für Veranstaltungen im Mauerfall-Jubiläumsjahr gewonnen werden kann. „Wenn der Brief fertig ist, schicke ich ihr parallel eine SMS.“ Mal ging es um eine Presseanfrage, seine Position zu den Schülerstreiks für Klimaschutz. Seine Antwort? „Wir wollen doch, dass sich junge Leute für Politik interessieren. Ich habe den Eindruck, dass mehr über den Zeitpunkt der Proteste geredet wird als über das Anliegen.“ Er hat nicht vergessen, wie er selbst als Oberschüler gegen den ersten Golfkrieg demonstrierte, sich nicht um Regeln scherte.

In seinem Büro steht eine kleine Orgelpfeife, Traditionsbetrieb Schuke. Damit die Dorfkirche mit der Orgel im havelländischen Hohennauen restauriert werden kann, hat er die Schirmherrschaft übernommen. Auch Dietmar Woidke war dafür im Gespräch. Der Kirchenverein entschied sich für Senftleben.

"Er ist ehrlich bemüht, Missstände anzupacken"

Eingefädelt hat das Klaus Eichler, kein Unbekannter in Potsdam. Ehe der 79-Jährige in Pension ging, hatte er viele Jahre als Abteilungsleiter im Infrastrukturministerium die Milliarden-Programme für die märkischen Altstädte verwaltet. Ein Mann, auf dessen Wort etwa der frühere Ministerpräsident Matthias Platzeck Wert legte. Einer, der Gott und die Welt in Brandenburg kennt, mit einem Gespür für Macht und Probleme und wie das Land tickt. Warum Senftleben? „Er kümmert sich. Er hat schon an Monika Grütters geschrieben“, sagt Eichler am Telefon. „Er ist gründlich, will in die Probleme eintauchen, er ist ehrlich bemüht, Missstände anzupacken.“ Hat er das Format zum Ministerpräsidenten? Da habe er noch Zweifel, antwortet Eichler.

Senftlebens letzte Station an diesem Tag, Prenzlau, in der „Uckerwelle“, eine der Regionalkonferenzen, um Vorschläge der Basis für das „Regierungsprogramm“ zu sammeln. Zwei Dutzend Parteifreunde sitzen vor einer großen Tafel: „Unser Brandenburg. Im nächsten Jahrzehnt“, alles in Rot-Weiß, den neuen CDU-Parteifarben. Brandenburgs Landesfarben, bislang in SPD-Hand, hat Senftleben für den eigenen Wahlkampf gekapert. Es ist ein harmonischer Abend, er kommt gut an, kein Ärger, kein Unmut. Diesmal nicht.

Das war in Cottbus, ein paar Tage vorher, anders. Hoch her ging es da, unversöhnlich, emotional, wie immer, wenn es um die Braunkohle geht. Ruppig im Ton. Senftleben musste sich Kritik anhören für seine öffentliche Erklärung, dass er als Regierungschef das Dorf Proschim kurz vor dem Kohleausstieg 2038 nicht mehr abbaggern lassen würde.

Als es ins Persönliche ging, wurde er grundsätzlich. „Liebe Leute! Wir können nicht Anderen im Land sagen: Wir haben Grundwerte. Wir müssen sie auch selbst vorleben. Wir sollten uns nicht gegenseitig blaue Flecken geben!“ Und auf den Vorwurf, dass er „zu leise“ sei, redete er sich regelrecht in Rage. „Ganz klar: Ingo Senftleben ist nicht der Marktschreier.“ Er sei gerne Vorsitzender, er mache nicht alles richtig. Er wisse um die hohe Erwartungshaltung an ihn. Aber dass er alles allein mache? „Das läuft so nicht! Das ist nicht der Geschäftsverteilungsplan! Wenn, dann machen wir es gemeinsam, im Guten und auch im Schlechten!“ Das kam nicht bei jedem gut an.

Eine Koalition mit der AfD? Mit ihm ausgeschlossen

Ein Vorsitzender müsse auch führen, sagte er später dazu. Und deshalb hat Senftleben, der den Landesverband während der Flüchtlingskrise auf Merkel-Kurs hielt, der niemals mit der AfD koalieren würde, auf keiner Regionalkonferenz den Hinweis vergessen, dass Brandenburg auf Zuwanderung angewiesen bleiben wird. Und er hat, auch ungefragt, seine Position bekräftigt, eine Koalition mit der Linkspartei nicht von vornherein auszuschließen.

„Wer mich kennt, der weiß, dass ich erst überlege, ehe ich etwas sage“, sagt er. „Ich werde mit Sicherheit nicht einer von denen sein, die am Wahlsonntag um 18.01 Uhr in die Kameras sagen: Oh, es ist ja alles ganz anders gekommen als gedacht, die Welt ist eine andere. So bin ich nicht erzogen worden.“ Und „auch wenn das nicht allen gefallen mag: Ingo Senftleben wird sich nicht verbiegen lassen, um irgendwo zu gefallen“. Über einen Koalitionsvertrag werde ja jedes Mitglied entscheiden können, ein Novum in der CDU, und damit auch, ob man das Land umkrempeln oder lieber in der Opposition bleiben wolle.

„Ingo will. Er kämpft. Und er ackert. Er wird chronisch unterschätzt. Das hilft ihm jetzt.“ Die Frau, die das sagt, ist Martina Gregor-Ness, die Witwe des verstorbenen langjährigen SPD-Generalsekretärs Klaus Ness. Vom Tod des roten Erfolgsgenerals und Strategen, der alle bisherigen Siege organisierte, hat sich die Partei bis heute nicht erholt. Es hatte damals viele überrascht, dass Senftleben auf der SPD-Trauerfeier für Ness im Landtag sprach, und das sehr persönlich.

Beide wohnten nur ein paar Kilometer voneinander entfernt, verstanden sich gut. Und Gregor-Ness, die selbst viele Jahre Abgeordnete im Landtag war, heute SPD-Kreistagspräsidentin in Oberspreewald-Lausitz, wo auch Senftleben nach wie vor Kommunalabgeordneter ist, spricht mit Hochachtung über den Oppositionsführer. „Ich habe großen Respekt, was er mit der CDU inzwischen geschafft hat“, sagt sie. „Er gehört zu denen, die mit ihren Aufgaben wachsen, andere nicht.“ Anders als Dietmar Woidke etwa nehme Senftleben Ratschläge an.

Und trotzdem, es geht auch nicht weiter nach oben, im Mysterium der Mark stagniert die Union, zieht nicht an der SPD vorbei, was einige in der CDU nervöser werden lässt. Und der Herausforderer? Er hat immer noch die Ruhe weg. Das strahlt er aus. Er hat analysiert, dass der Union hier immer in den letzten zwei, drei Wochen die Puste ausgegangen war. „Das wird diesmal anders“, sagt er in der Nacht, als auf der Nord-Süd-Rückfahrt der Versuch, an seiner Stammtankstelle noch etwas Essbares zu ergattern, an – bis auf einen Schokodonut – leeren Auslagen scheitert.

Es ist 22.30 Uhr, als der Wagen zu Hause wieder in die Einfahrt biegt, nach fünfzehn Stunden und sechshundert Kilometern. Ingo Senftleben ärgert sich ein bisschen, dass diesmal der Begrüßungsruf des Waldkauzes ausbleibt, und freut sich umso mehr, dass ihn dafür in der tiefdunklen Nacht ein klarer Sternenhimmel entschädigt. „Schöner geht es nicht, oder?“ Den Fahrer bestellt er für den nächsten Morgen, um 7.15 Uhr.

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