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Ausgebucht. Das Demenzdorf liegt am Stadtrand von Hameln. Der letzte Bewohner ist Mitte Juli eingezogen.

© picture-alliance/dpa

Leben im Demenzdorf: Ein Pärchen - immer wie am ersten Tag

Sie lieben einander, kochen, gehen spazieren. Das Paar hat sich in Tönebön am See gefunden, in Deutschlands erstem Demenzdorf. Beide ahnen, dass irgendetwas hier nicht stimmt.

Wir leben in der besten aller möglichen Welten, denn wäre sie nicht die beste, hätte Gott sie gar nicht erst erschaffen, vermutete einst ein großer Philosoph, worauf Voltaire antwortete: Wenn diese die beste aller möglichen Welten sei, wie müssen dann erst die anderen aussehen? Das fragt Günther P. sich auch.

Denn es sei schon wieder passiert: „Drei Paar Strümpfe gebe ich in die Wäsche und bekomme jedes Mal 13 Paar zurück, aber nie sind es meine, ich kann sie nicht tragen!“ Die Empörung steht hell in Günther P.s Gesicht, doch er wahrt die Beherrschung, er ist ein Mann der Form, selbst in den unhaltbarsten Lebenslagen: Noch einmal buche er diese Kureinrichtung nicht, erklärt er gemessenen Tons. 13 Paar Strümpfe! Er könne dieses Etablissement unmöglich weiterempfehlen.

Günther P. ist einer der 52 Bewohner von Deutschlands erstem Demenzdorf. Im letzten Frühjahr hat es eröffnet, in Tönebön am See, am Stadtrand von Hameln.

Etwas tüdelig in Tönebön?

Kritiker störten sich vor allem am Zaun ums Dorf

Demenzdorf. Der Name klang gut, er klang souverän. So als ob Menschen, die mit der Mehrheitsgesellschaft in einer gewissen kognitiven Dissonanz leben, die mit ihr nicht mehr ganz den gleichen Wirklichkeitsbegriff teilen, hier ihr Leben selbst in die Hand nähmen. Es klang wie eine Autonomieerklärung derer, die immer 13 Paar fremde Socken zurückbekommen, wenn sie drei eigene in die Wäsche geben. Oder ist das Debilitäts-Romantik?

Kritiker verstanden von Anfang an ohnehin das genaue Gegenteil. Die Leprakranken hätten in früheren Jahrhunderten auch für sich leben müssen, ausgestoßen von allen, sogar von ihren Familien. „Alte, kranke Menschen werden einfach ausgelagert, das wirkt wie ein Aussätzigendorf“, dekretierte der Soziologieprofessor Reimer Gronemeyer, Mitglied des Stiftungsrates der Deutschen Hospiz- und Palliativstiftung. Er ist nicht der Einzige. Auch Politiker beargwöhnen das „Aussortieren“ alter, dementer Menschen aus der Gesellschaft. Und das Schlimmste: Da ist ein Zaun drumrum!

Morgens um 9 Uhr in Tönebön am See. Das Demenzdorf beginnt den neuen Tag.

Es besteht, vier Fußballfelder groß, aus vier Häusern, in jedem können dreizehn Bewohner leben, jedes ist vollkommen selbstständig. Die Villa Ziegelhof, die Villa am See, die Villa Reiterhof und die Villa Hastebach umschließen einen großen Garten, und in der Mitte ist der Marktplatz, das symbolische Zentrum der Gemeinschaft. Natürlich hat auch dieser wie fast jeder Marktplatz einen Brunnen und ein Café, bloß die Kirche und das Rathaus fehlen. Die symbolische Mitte Töneböns ist latent leer.

Die Ersten machen ihren Morgenspaziergang, dreimal über den Marktplatz und zurück oder immer außenrum. Auch Günther P. und Silke S. treffen sich schon kurz nach neun zum ersten Mal an diesem Tag. Er wohnt in der Villa Ziegelhof, sie in der Villa Hastebach.

Hier haben sie sich kennengelernt.

Soll man sagen, sie sind ein Paar?

Günther P. ist ein resoluter Mann, vielleicht schon über siebzig, aber er sieht aus wie Mitte sechzig. Typus Oberstudienrat, dezenter Bürstenhaarschnitt, randlose Brille, eine durchaus intellektuelle Erscheinung, doch er sagt, er habe eine Autovermietung. Und genau darum dürfe er eigentlich gar nicht hier sein, denn wie schaffen seine beiden Töchter das wohl allein? Er wundere sich ohnehin, dass die Krankenkasse seine Kur schon so lange verlängere. „Und noch keine einzige Anwendung habe ich erhalten!“ Nein, noch einmal, er könne das nur wiederholen, komme er nicht hierher. Doch irgendetwas hindert ihn zu sagen: Ich reise ab!

Eigentlich ist sie noch viel zu jung, 51 Jahre

Es ist vieles so merkwürdig hier. Er hat ein schönes Zimmer, die großen Fenster gehen direkt auf den Parkplatz. Ein Autovermieter weiß das zu schätzen. Andere müssen auf einen Reiterhof oder die Einfalt der Bäume blicken. Am ersten Abend stand noch sein eigener Wagen da, das vergisst er nicht. Dann war das Auto weg, und diese seltsame Kur begann.

Die Frau neben ihm – fast möchte man sagen: die junge Frau – schaut etwas traurig, sie hält den Blick gesenkt. Ich sollte nicht hier sein, noch nicht, scheint alles an ihr zu sagen. Ihr schmaler Körper, die langen Haare. Gemessen am Altersdurchschnitt hier ist sie jung, viel zu jung. 51 Jahre.

Früher war sie Stewardess. Bis sie immer öfter aus dem Haus lief, ohne Schlüssel, und Mühe hatte, ihre Wohnung wiederzufinden. Zum Glück wussten die Nachbarn, wo sie zu Hause war. Ahnt sie, dass Demenz, je früher sie beginnt, einen umso schnelleren, radikaleren Verlauf nimmt?

Die beiden überlegen, was sie jetzt am besten machen. Sie könnten einkaufen gehen in Töneböns Minimarkt oder um 10 Uhr in den Klubraum zur „Basalen Stimulation“. Ist eigentlich dement, wer nicht weiß, was eine basale Stimulation ist?

Der Wochenplan erläutert: „Basale Stimulation. ,Süße Früchtchen‘. Wissenswertes über die Erdbeere.“ Günther P. fasst es nicht. Er ist ein ernsthaft arbeitender Mann, er hat den Kopf voll, und er soll die Erdbeere kennenlernen? „Da gehen wir nicht hin“, teilt er Silke S. mit. Also Töneböns Minimarkt.

Eierlikör geht am besten in Töneböns Minimarkt

Tönebön hat sogar einen eigenen Supermarkt. Am besten verkauft sich der Eierlikör.
Tönebön hat sogar einen eigenen Supermarkt. Am besten verkauft sich der Eierlikör.

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Diese Institution ist Kritikern besonders fatal. Ist sie nicht fast so übel wie die Bushaltestelle, die ihren Siegeszug durch die Demenzstationen dieses Landes angetreten hat? Bushaltestellen in Originalgröße, mit Bank davor. Die Alten warten gern auf den Bus. Es ist etwas anderes, als einfach ins Leere zu warten, es ist gleichsam sinnvolles, zielgerichtetes Warten, so wie früher. Dass der Bus nie kommt, fällt den meisten gar nicht auf, und wenn doch, schimpfen sie auf den Nahverkehr.

Sollte die Bushaltestelle nicht vor dem Markt stehen? Aber da ist keine.

Elke Wiegand kommt mit ein paar Bewohnern der Villa Hastebach, sie wollen heute zu Mittag „Bauerntopf“ kochen, und wer kochen will – das war nie anders, warum also sollte es das hier sein? –, muss einkaufen. Obwohl der Markt recht klein ist, hat er alles da, was die Villa Hastebach braucht: vor allem Kartoffeln, Paprika und Hackfleisch. Das ist natürlich nur bedingt Zufall. Am besten geht Eierlikör in Töneböns Minimarkt, aber erst am Nachmittag, da haben die Töneböner Prinzipien, auch wenn die Empfindlichkeit für den Tag- Nacht-Rhythmus mit fortschreitender Demenz verloren geht.

Ein bisschen Rest-Selbstständigkeit, statt Bürokratie am Pflegebett

Silke S. und Günther P. kaufen zwei Stangeneis und gehen ins Café. Ein paar Tische weiter sitzt Kerstin Stammel, sie trägt den ebenso anspruchsvollen wie leicht infantilen Titel einer „Qualitätsbeauftragten“. Zufrieden schweift ihr Blick durch die große Glasfront über das „Dorf“. Ja, genau so hat sie sich das alles einmal vorgestellt, als sie vor Jahren in der Tönebön-Stiftung über ein neues Heim nachdachten, nur für Demenzkranke. Julius Tönebön war ein kinderloser Hamelner Ziegeleibesitzer, und bevor er starb, gründete er eine Stiftung für unverheiratete ältere Frauen, eine soziale Hochrisikogruppe. Das Demenzdorf steht auf dem Gelände seiner früheren Ziegelei.

Kerstin Stammel, noch keine fünfzig Jahre alt, hat ihr Leben lang in der Altenpflege gearbeitet. Und je länger sie das machte, desto mehr fiel ihr auf, was man alles anders ändern könnte, gerade für demente Patienten. Vielleicht sollte man das ganze System einfach umkehren? Optimierung der Rest-Selbstständigkeit statt der Bürokratie am Pflegebett, mit ihrem Hang zum Makabren?

Niemand trägt hier weiße Kittel

Heute wird jeder Handgriff erfasst, den ein Pfleger leistet: Aufstehen zwei Minuten, Wasserlassen, Stuhlgang: sechs Minuten, Intimhygiene und Toilettenspülung bedienen inklusive, Gesichts- und Handwäsche: vier Minuten. Und immer so weiter. Die Hälfte der Zeit braucht der Pfleger zur Dokumentation seiner Arbeit. Das war mal gedacht, um Nachlässigkeiten zu vermeiden, hat sich aber längst auf groteske Weise verselbstständigt.

In Tönebön geben nicht die Pfleger den Ton an, sondern die „Alltagsbegleiter“. Jedes Haus hat seine eigenen, niemand trägt hier weiße Kittel. In allen vier Villen wird gerade das Mittagessen gekocht, nichts wird angeliefert. In der Villa Reiterhof gibt es bald Leberkäse mit Erbsen, in der nächsten Hühnerfrikassee, danach Vanillecreme, und in der Villa Hastebach setzt Elke Wiegand mit Assistenten den Bauerntopf auf den Herd. Wer dement ist, verspürt oft einen Bewegungsdrang, der sich umgekehrt proportional zu seinem Orientierungsvermögen verhält. Hier aber kann nicht nur jeder gehen, wohin er will, von einem Haus ins andere: Kulinarische Flaneure dürfen auch essen, wo sie wollen.

Alle Zimmer sind ausgebucht

Das gemeinsame Kochen ist eine wichtige Konstante im Demenzdorf.
Das gemeinsame Kochen ist eine wichtige Konstante im Demenzdorf.

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Die schöne große offene Küche mit gelben Türen und Kochinsel geht in den Speiseraum über. Die Ersten nehmen schon an ihren Tischen Platz, auf orangen und blauen Stühlen – das Werk einer Innenarchitektin –, als eine Dame in Brüllorange die Szene betritt und Elke Wiegand einen Stapel DEWEZET auf den Küchentisch knallt. Die DEWEZET ist die Deister- und Weser-Zeitung: Hier, das sei die Nummer vom Sonnabend, dem 13., die nächste vom Montag, dem 15. Juni. Sie setzt die Aufzählung fort im Tonfall einer empörten Chefsekretärin, das Ergebnis: Die DEWEZET vom 14. und vom 17. fehlen. Schon wieder. Sie zahle ein teures Abonnement, um am Ende nur jede zweite oder gar dritte Ausgabe dieses von ihr lebenslang geschätzten Druckerzeugnisses zu Gesicht zu bekommen? Die ganze Unhaltbarkeit der Einrichtung dieser Welt liegt in ihrem Blick und der zielt direkt auf Elke Wiegand.

Elke Wiegand, Mitte 50, rührt weiter im Bauerntopf, verspricht, die Zeitungsfrage umgehend zu klären und ist im Übrigen der Meinung, in der besten aller möglichen Einrichtungen für Demenzkranke zu arbeiten. „Ich genieße das“, sagt sie, sie spüre hier nichts vom Dauerstress gewöhnlicher Pflegeheime, den sie so gut kennt. Günther P. tritt dazu, ihre zuvorkommende Art wisse er zu schätzen, und doch könne er diese Einrichtung nicht weiterempfehlen, erklärt Günther P. und setzt sich an seinen Tisch. Er ist der einzige Mann der Villa Hastebach.

Der Uhrentest ist der unbarmherzigste Demenztest

Die Bewohnerinnen der Villa versammeln sich nach und nach im Raum mit der großen offenen Küche, manche sind besonders gut gekleidet, denn schon das gewöhnliche Leben ist eine Stilfrage, wie sehr erst die Demenz. Also: Perlenkette am Mittag! Ganz vorn am Fenster ist der Tisch der „drei Damen vom Grill“, die DEWEZET-Leserin hat ihren Platz schon eingenommen. Tiefes erwartungsvolles Schweigen füllt den Raum. Und in das Schweigen hinein sagt sie plötzlich: „Es ist 12 Uhr!“ Eine unendliche Minute vergeht, als der Mann mit den 13 Paar Socken korrigiert: „Es ist eine Minute vor 12 Uhr!“

Die anderen versuchen, ein möglichst unbeteiligtes Aussehen zu wahren. Denn es ist nicht egal, nicht zu wissen, wie spät es ist. Der Uhrentest ist der gängigste und unbarmherzigste Demenztest. Der Patient soll in einen gemalten Kreis alle Stunden von eins bis 12 eintragen und anschließend mit einem kurzen und einem langen Pfeil die Zeit „10 Minuten nach 11 Uhr“ markieren. Wem das nicht mühelos gelingt, hat keine guten Karten. In der dritten Phase der Demenz wird er die Aufgabe nicht mehr verstehen.

Drei Jahre nach der Eröffnung, so war es geplant, sollten alle 52 Zimmer belegt sein. Nun ist schon am 14. Juli der letzte Bewohner eingezogen. Das Wohnen hier ist im Monat 200 Euro teurer als in gewöhnlichen Heimen. In der anstehenden Reform der Pflegeversicherung soll nicht mehr nach der Anzahl der Handgriffe pro Pflegeminute bewertet werden, sondern nach der größtmöglichen Selbstständigkeit der Patienten. Volle Punktzahl für Töneböns Qualitätsbeauftragte.

"Ist da Strom in dem Zaun?"

Am Nachmittag kann man zum „Löwenzahnsammeln und Füttern der Kaninchen“ gehen oder einfach um den See, aber Günther P. hält nicht viel von geführten Wanderungen, schließlich sei er ein Individuum, ein Subjekt, kein Gruppenmensch. Silke S. und Günther P. machen ihren Nachmittagsspaziergang allein, innerhalb des Zauns. Der Maschendrahtzaun, 1,20 Meter hoch, galt den Tönebön-Kritikern im letzten Jahr als Skandalon schlechthin. Aber baut denn nicht der letzte deutsche Spießer sein Haus mit Zaun drumrum? – Ist da Strom drin?, fragte kürzlich eine asiatische Journalistin, als sie versuchte, die Aufregung zu verstehen.

Ein Demenzkranker liebt einen anderen. Aber weiß er das am nächsten Tag noch? Es ist bei Silke S. und Günther P. wohl wie bei allen anderen Liebenden auch: Sie mögen sich jeden Tag aufs Neue. Nur eins versteht Günther P. nicht. Er will demnächst abreisen, Silke S. dagegen sagt, sie wird wohl hierbleiben. Kann er denn gehen, ohne sie?

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