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Das libri-Lager in Bad Hersfeld.

© LAIF

Leipziger Buchmesse 2015: Wie kommt das Buch zum Leser?

Heute bestellt und schon nach zwei Tagen da. Das Problem der Buchbeschaffung hat sich in Zeiten von Amazon & Co gelöst. Denkt man. Dabei gibt es einen viel schnelleren Weg. Es ist der normale, traditionelle. Jede Nacht bringen Lastwagen hunderttausende Bücher zu den Läden in Deutschland.

Es gibt Süchte, die gibt es gar nicht. Als der französische Schriftsteller Stendhal 1817 Florenz besuchte, geriet er angesichts der dort versammelten Kunstwerke in einen Zustand bedenklicher Entrücktheit, Taumel und Herzrasen inbegriffen. Der Fall ging unter dem Fachbegriff Stendhal-Syndrom in die Medizingeschichte ein.

Dass übertriebener Kunst- und Kulturgenuss der Gesundheit abträglich sei, wurde schon einige Jahre zuvor beobachtet. So berge etwa das exzessive Lesen, besonders bei den Weibsbildern, höchste Gefahren, schrieben besorgte Männer im 18. Jahrhundert, die „Romanleserey“ führe zu sexuellen Verwirrungen. Der Krankheitsbegriff lautete: Lesewut.

Wer nun meint, dass das Geschichten von gestern sind, muss nur ein wenig in einschlägigen Internetforen stöbern. Dort beichten veritable Lesejunkies ihre Sucht und klagen über einen Zustand erbarmungswürdiger Leere, wenn sie nicht dazukämen, pro Tag 200 bis 300 Seiten zu verschlingen. Manchmal ergreife sie schon bei den letzten 100 Seiten eines Buchs Panik und die Sorge, sie könnten nicht schnell genug das nächste in die Hände bekommen. Zum Glück gibt es Bad Hersfeld.

Für Süchtige eine lange Zeit

Denn dort befindet sich Deutschlands im Augenblick größter Umschlagplatz für das Rauschmittel Buch, der Großhandelsriese „libri“, neben dem Konkurrenten KNV Marktführer im Lande. Ein zentrales Drogenlager sozusagen. Es bietet die Gewähr, dass immer und überall in Deutschland Bücher zu den entzugsgefährdeten Lesern gelangen. Und zwar in Windeseile.

Eigentlich sollte sich das Problem der Buchbeschaffung mittlerweile aufs Praktischste gelöst haben, könnte man denken, gibt es doch Amazon und andere Online-Händler. Heute bequem von zu Hause aus bestellt, und schon nach zwei Tagen im Briefkasten, höchstens in dreien. Aber das ist für Süchtige eine lange Zeit. Deshalb gibt es längst einen schnelleren Weg, einen rasend schnellen. Es ist der ganz normale, traditionelle Buchhandel, der Buchladen gleich um die Ecke.

Wer dort bis 17 Uhr, bis 18 Uhr und in manchen Gegenden Deutschlands sogar bis 19 Uhr persönlich oder telefonisch ein Buch bestellt, hat es am nächsten Morgen um neun Uhr in seinen Händen. Das ist ein Zauberwerk und einmalig auf der ganzen Welt. Nur eilige Arzneimittel sind schneller. Wie kann das gehen? Wie kommt das Buch so geschwind zum Leser?

Und jetzt kommt Bad Hersfeld ins Spiel

Es ist ein komplizierter Weg, aber er beginnt ganz einfach, beim Buchhändler eben. Sagen wir, in Berlin, sagen wir, in Moabit, wo es die „Buchkantine“, einen besonders schmucken Laden mit angeschlossenem Café, seit zehn Jahren gibt. Sie ist eine jener Kiez-Buchhandlungen, die sich in den vergangenen Jahren durch hohen persönlichen Einsatz behaupten konnten und sogar kleine Zuwächse erzielten, während die großen, überall präsenten Ketten wie Hugendubel oder Thalia Einbußen erlitten und Geschäfte schließen mussten. Hier waltet Peter Farber, der zuvor 16 Jahre bei der Berliner Buchlegende Kiepert tätig war. „Gehobene Literatur läuft bei uns ganz gut“, sagt er, und davon hat er um die 8000 Titel vorrätig, Neuerscheinungen und Bestseller sowieso. Schließlich werden im Buchhandel 80 Prozent des Umsatzes mit nur 20 Prozent der Titel gemacht, das heißt, von den mehr als 400 Millionen Büchern, die in Deutschland pro Jahr verkauft werden, sind die meisten immer die gleichen. Aber wenn es etwas Besonderes sein soll, etwas Entlegenes? Nehmen wir zum Beispiel Theodor Storm, „Schimmelreiter“, die kleine gelbe Reclam-Ausgabe. Peter Farber hat sie nicht vorrätig, natürlich nicht. Also tippt er im Computer den gewünschten Titel ein. Und jetzt kommt Bad Hersfeld ins Spiel.

Man betritt nicht nur eine Lagerhalle oder zwei, man betritt eine kleine Stadt

Der Großhändler „libri“ hat das Reclam-Heft selbstverständlich in seinem Sortiment, im „Barsortiment“, wie es in der Fachsprache heißt. Also bestellt Peter Farber es am Computer, es ist eine Sache von Sekunden. Die Bestellung geht zunächst in Hamburg ein, denn dort sind Firmensitz und Verwaltung von „libri“, und dort wurde das Unternehmen von Georg Lingenbrink 1928 gegründet („libri“ ist also nicht nur das lateinische Wort für Bücher, sondern auch eine Zusammenziehung des Gründernamens). In Hamburg wird kurz überprüft, ob mit dem Besteller alles in Ordnung ist, ob er seine letzten Rechnungen auch pünktlich bezahlt hat, und schon wird der Auftrag ins Zentrallager nach Bad Hersfeld weitergeleitet.

Was nun dort geschieht, ist ein dermaßen komplexer Vorgang, dass es dem Besucher ob der Bücherfülle so schwindelig werden möchte wie den bücherwütigen Leserinnen des 18. Jahrhunderts. Man betritt nicht nur eine Lagerhalle oder zwei, man betritt eine kleine Stadt, die „libri“-Stadt. Große graue Gebäude mit dem blauen Firmenlogo, eine bebaute Fläche von 100 000 Quadratmetern. Lastwagen rangieren, Sattelschlepper. Und in den Hallen winden sich in unendlichen, rätselhaften Schlangenbewegungen Förderbänder über eine Länge von 18 Kilometern. Es ist laut, 550 Mitarbeiter wuseln durch Gänge ohne Ende, manche gar auf kleinen Tretrollern, denn es muss schnell gehen. Sehr schnell. Und wenn man in diesem Labyrinth Durchblick und Orientierung verliert, dann ist Jörg Demuth gleich mit Trost zur Stelle: „Wenn wir einen neuen Mitarbeiter für die Führungsebene einstellen, dauert es ein Jahr, bis der sich überall zurechtfindet.“ Jörg Demuth ist technischer Leiter des Unternehmens und dafür verantwortlich, dass penible Ordnung ins Bücherchaos kommt. Äußerlich, Jeans und lange Haare, sieht man es ihm gar nicht an.

Ständige Nachbestellung

Gerade packt eine Mitarbeiterin einen voluminösen Karton aus, der soeben vom Suhrkamp Verlag angekommen ist, sortiert viele rote Bände („Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf) in eine kleine graue Wanne, drückt auf Knöpfe, und schon macht sich der Plastikbehälter wie von Geisterhand gesteuert auf den Weg zu einem der zahllosen 13 Meter hohen Regale und liefert seinen Inhalt dort ab.

Das ist der Wareneingang. Denn bei den Verlagen muss ständig nachbestellt werden. Schließlich verlassen jeden Tag und jede Nacht etwa

260 000 Exemplare das Lager, und im Weihnachtsgeschäft sind es sogar bis zu 700 000. Das ist der Warenausgang.

Jörg Demuth erläutert jetzt, wie er es schafft, Ordnung in die Unordnung zu bringen. Natürlich ist es die Computersteuerung, die hier die Wege weist und die Weichen stellt. Aber das eigentliche Geheimnis ist viel simpler. „Das Wichtigste“, sagt Jörg Demuth, „ist die Wanne.“ Kleine für die kleineren Bestellungen, große für die größeren. Er führt nun in einen weiten, hohen Raum. Da liegen sie, gestapelt bis zur Decke, ein Riesengebirge. Wie viele Wannen es wohl sein mögen? Hunderttausend? Jörg Demuth lächelt besitzerstolz. Es sind 900 000.

Die Basis des Ordnungssystems

Sie sind hier die Basis des Ordnungssystems. Sobald vom Buchhändler eine Bestellung eingeht, zum Beispiel von der Moabiter „Buchkantine“, wird als Erstes eine Wanne bereitgestellt; in die gelangen nun, verteilt über den Tag, nach und nach die weiteren Bestellungen aus Moabit, zum Beispiel Storms „Schimmelreiter“, bis schließlich am Abend der letzte Auftrag abgefertigt wird. Dann kommt ein Lieferschein hinein, ein Deckel auf den Behälter, ein Zettel mit der Buchladenadresse drauf. Und nun fährt die Wanne wieder ganz von alleine zu einer der vielen Ladestellen, wo schon der Lastwagen wartet, etwa derjenige, der gegen 21.30 Uhr Richtung Berlin aufbricht. Natürlich hat sich „libri“ den Standort Bad Hersfeld nicht zufällig ausgesucht, sondern weil die hessische Kleinstadt so angenehm mittig in Deutschland liegt wie kaum eine andere. Der Konkurrent KNV hat nachgezogen und baut im ebenfalls sehr mittigen Erfurt gerade ein Zentrallager auf. So werden die Fahrwege kurz.

Jede Nacht starten 50 bis 70 Lastwagen und steuern 24 Städte an

Fünf Millionen einzelne Titel hat „libri“ in seinem Katalog. 700 000 davon sind in Bad Hersfeld stets vorrätig, bald schon soll die Million überschritten werden. E-Books und DVDs noch gar nicht mitgerechnet. Und weil von jedem dieser Titel meist mehrere und oft viele Exemplare vorhanden sind, lagert hier die schwer vorstellbare Zahl von 14 Millionen Büchern. Wie aber wird in diesem überdimensionierten Heuhaufen die Stecknadel gefunden, das einzelne Buch, etwa das winzig kleine Reclam-Heft?

Dafür gibt es zwei getrennte Lagerhallen. In einer stapeln sich die Bestseller und jene anderen Titel, die im Verkaufsranking auf den ersten 3000 Plätzen liegen, Fachjargon: Schnelldreher. Hier geht alles automatisch. In der zweiten Halle jedoch herrscht Handbetrieb; denn da befinden sich die „Slow Movers“, was eine freundliche Umschreibung für jene Bücher ist, die nicht so oft nachgefragt werden. Hier sieht es aus wie in einer überdimensionierten Bibliothek. Regal reiht sich an Regal, und die Mitarbeiter müssen die Bücher eigenhändig heraussuchen, in die Wanne legen – und die weiß dann schon wieder von selbst, wohin sie nun ihren Weg nehmen soll. Irgendwo in diesen Regalen liegt auch der „Schimmelreiter“.

Dann beginnt die Reise. Damit alle 5500 Buchläden in Deutschland ihre Ware rechtzeitig bekommen, starten jede Nacht 50 bis 70 Lastwagen und steuern 24 Städte an, die Umschlagplätze.

Ab Mitternacht herrscht Hochbetrieb

In Berlin ist dieser Platz in der Wackenbergstraße, Niederschönhausen. Hier ist die Firma Buch-Express, und da herrscht ab Mitternacht Hochbetrieb. Zwischen halb eins und drei Uhr kommen die „libri“-Lastzüge an der Verladerampe an, meist sind es gleich drei, zwei 40-Tonner und ein kleinerer im Normalfall. Und nun wird ihr Innenleben, die bekannten grauen Wannen, in der großen Speditionshalle sortiert und auf die Wagen verteilt, die schon warten. 14 sind es zumeist. Die ersten starten gegen halb vier, die anderen folgen nach und nach und schwärmen in alle städtischen Richtungen aus, aber auch quer durch Brandenburg, nach Cottbus, nach Schwedt, nach Frankfurt (Oder). Einer davon fährt in Berlin Richtung Süden, kommt nach Moabit und hält schließlich in der Bochumer Straße am Spreeufer. Dann zieht der Fahrer einen Schlüssel hervor. Denn zu dieser nachtschlafenden Zeit wartet hier in der „Buchkantine“ natürlich niemand auf ihn. Er schließt die Tür eines kleinen Nebenraums auf, lädt die Wannen mit den Bestellungen ab und nimmt die leeren, die von der Vortagslieferung, wieder mit. Denn sonst würde das gewaltige Wannen-Lager in Bad Hersfeld bald keine 900 000 Stück mehr zählen.

Am Morgen sperrt Peter Farber seinen Laden auf und packt aus. In einer Wanne findet er ein kleines Heft. Es ist gelb. Er steckt es in die Schublade mit den bestellten Büchern. Gleich rechts neben der Kasse.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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