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Katastrophenforscher. Martin Delius will im Untersuchungsausschuss das BER-Chaos aufklären, gleichzeitig konnte er den Niedergang seiner Partei beobachten. Foto: dpa/Britta Pedersen

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Martin Delius will Karriere beenden: Der seriöse Pirat

Bald will BER-Katastrophenforscher Martin Delius seine Karriere beenden. Dabei hat er der Piratenfraktion in Berlin gegeben, was ihr niemand zugetraut hätte: Seriosität.

Oben am Revers seines Jacketts trägt Martin Delius das schwarz-rote, geschwungene Symbol der Antifa, gleich darunter prangt eine Endlosschleife in den Farben des deutschen und des israelischen Staates. Die Schleife feiert 50 Jahre Deutsch-Israelische Gesellschaft. „Eine kleine Provokation“, grinst Delius, wenn man sich über das spannungsvolle Miteinander der beiden Symbole wundert.

Schwer zu sagen, woran man mit dem Piraten-Politiker ist. Er gehört zu den wenigen in der 15-köpfigen Berliner Fraktion, die auch bei der Konkurrenz im Berliner Abgeordnetenhaus als Talente gelten. Fraktionschef Delius hat es als Vorsitzender des Flughafen-Untersuchungsausschusses zu einer Bekanntheit gebracht, von der er kokett bemerkt, er werde schon beim Einkaufen angesprochen.

Im Umgang mit dem Polit-Desaster konnte Delius seine Fähigkeiten zeigen. Er denkt klar und spricht auch so. Er hat sich, wie sein Fraktionskollege Christopher Lauer, auf das parlamentarische System eingelassen, nutzt Kleine Anfragen und Reden vor dem Plenum, um seine Kritik am Projekt BER zu transportieren. Er wendet das Piraten-Credo von der Transparenz auf die Chaos-Baustelle an, hat mit anderen die Internetseite BERwatch mit einem Zugang für diskrete Informanten geschaffen, zieht daraus politischen Gewinn an Glaubwürdigkeit und - bei Piraten nicht gleich zu erwarten - Seriosität.

Der 31 Jahre alte Physiker und Software-Entwickler pflegt sein Profil im Netz über den Kurznachrichtendienst Twitter, mal meinungsstark, manchmal humorvoll. Er lebt mit seiner Frau und seinem drei Jahre alten Sohn in Wilmersdorf. Berlin fasziniert ihn, seit er als Student der Physik aus Lübben hierher gezogen ist. Stadt - das ist für ihn: „mehr zu haben, als man braucht“. Was nervt an Berlin? „Dass es ständig um Berlin geht.“ Delius mag die Stadt und die Politik und den Streit und die Debatte. Wozu das Ganze? Um seine Politikerlaufbahn im September 2016, mit der Wahl eines neuen Berliner Abgeordnetenhauses, zu beenden.

Fürs Erste. Der Piraten-Hype ist seit langem vorbei. Demoskopen messen die Piraten, die mit 8,9 Prozent ins Abgeordnetenhaus gezogen waren, für Berlin heute bei drei Prozent. Bundespolitisch laufen sie nach dem Allzeithoch von zwölf Prozent vor drei Jahren bloß noch unter „Sonstige“. Die früheren Chef-Piraten Sebastian Nerz und Bernd Schlömer haben bei der FDP angeheuert. Delius dazu auf Twitter: „Wer sein politisches Comeback in der FDP sucht, hat doch die Kontrolle über sein Leben verloren.“

In Berlin hat der Zerfallsprozess der Partei die Talente Martin Delius und Christopher Lauer zu politisch Heimatlosen gemacht: Lauer hat die Piraten verlassen. Delius begründet das absehbare Ende seiner Politikerkarriere mit der Bemerkung, zum Weitermachen fehle ihm die „notwendige Heimstätte“. Das ist für ihn wie das Antifa- und das Israel-Bekenntnis auf dem Revers eine Frage von Haltung und Authentizität. Mit den Piraten hat er das Parlament erobert - da wechselt man nicht einfach aus Karrieregründen das politische Transportmittel.

Was nach dem Hype kam

Katastrophenforscher. Martin Delius will im Untersuchungsausschuss das BER-Chaos aufklären, gleichzeitig konnte er den Niedergang seiner Partei beobachten. Foto: dpa/Britta Pedersen
Katastrophenforscher. Martin Delius will im Untersuchungsausschuss das BER-Chaos aufklären, gleichzeitig konnte er den Niedergang seiner Partei beobachten. Foto: dpa/Britta Pedersen

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Es war ein ziemlicher Untergang. Wenn Delius darüber redet, mischen sich Abgebrühtheit, Bedauern und Sarkasmus. Was waren doch alle überrascht vom Einzug der Computerfreaks und Transparenzprediger ins Berliner Parlament im September 2011 - Delius nicht: Bei einer Wahlkampfparty in der „Maria am Ostbahnhof“ hatte er gehört, dass die Piraten binnen einer Woche um anderthalb Prozentpunkte in den Umfragen gestiegen seien. Da sei klar gewesen, dass man es schaffen werde.

Die Aufregung um die Parlamentarier aus dem Neuland fand er grotesk. Zwei Kulturen kollidierten, das Berliner Polit-Establishment und die Internet-fixierten Nerd-Politiker, 14 Männer, eine Frau.

Immerhin, die Berliner Politik wurde kurz zum Event. Die Piraten machten, anders als alle anderen, öffentliche Fraktionssitzungen, aufmerksam betrachtet und begleitet von einer mit viel Zeit ausgestatteten Anhängerschaft und einer überraschten hauptstädtischen Medienwelt. Bei den Liveübertragungen konnte man dann beobachten, wie lange es dauerte, bis 15 Rechner hochgefahren und vernetzt waren. Vielmehr nicht. Delius, damals noch mit langem blonden Pferdeschwanz, gehörte damals schon zu denen, die ihrem Gegenüber lieber freundlich in die Augen sahen, ganz analog.

Austeilen kann er

Was nach dem Hype kam, bewertet Delius durchaus mit Stolz: Die Piratenfraktion arbeite heute so gut, „dass man an uns nicht mehr vorbeikommt“, sagt er, und das habe man geschafft „ohne die Hilfe einer funktionierenden Partei im Hintergrund“. Austeilen kann er, und sei es gegen die Reste der eigenen Truppe. „Im Mittel“ seien die Piraten „erfolgreicher als die anderen Oppositionsfraktionen“.

Jedenfalls dringen einige Piraten-Themen schneller und stärker an die Öffentlichkeit als manches, was sich Grüne oder Linke ausdenken. Die Piraten haben zur Freude aller Berliner Linken ein Konzept für den „fahrscheinlosen“ öffentlichen Personennahverkehr vorgelegt, „rechtlich, finanziell und verkehrspolitisch machbar“, wie es heißt, mit dem Versprechen, „zehn Prozent mehr Menschen als heute würden ihre Wege mit dem Nahverkehr zurücklegen“.

Schnell haben sie Themen gefunden und besetzt - Lauer mit seiner Dauerkritik an der Funkzellenabfrage und an der Auskunftskultur der Innenverwaltung, Fabio Reinhardt, der sich als Anwalt der Flüchtlinge und Lageso-Beobachter versteht. Piraten-Abgeordnete fragen die Verwaltung nach den Flugrouten von und nach Tegel, nachdem sich Anwohner über Flüge jenseits aller Korridore gewundert hatten. Das Ergebnis: Es gab und gibt regelmäßige und zahlreiche Einzelfreigaben, die die festgelegten Flugrouten aufweichen. Außerdem erfragt und veröffentlicht die Fraktion interne Weisungen für die Mitarbeiter der Berliner Jobcenter.

Erst wirkten sie fremder, dann wacher als die grünen und die linken Kollegen. Was mit dem Flughafen-Desaster und dem selbst ernannten Chefaufklärer Delius zusammenhängt. Als „bundesweit erster Pirat“, wie damals trendbewusst der „Spiegel“ schrieb, übernahm Delius den Vorsitz eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses und erklärte dem Magazin, was er herausfinden wolle: „Was ist schiefgelaufen, was müssen wir besser machen? Als Piratenfraktion wollen wir die strukturellen Schwächen offenlegen, damit man solche gigantischen Bauprojekte in Zukunft vernünftiger kontrollieren und managen kann.“

Auch in den anderen Oppositionsparteien wird er geschätzt

Der Ausschuss tagt seit drei Jahren, an diesem Freitag steht die 51. Sitzung an. Delius, inzwischen mit kurzen blonden Haaren und einem an Länge und Fülle gewinnenden Vollbart, hatte nicht einen Abwahlantrag zu kontern. Die Oppositionskollegen im Ausschuss müssen sich sogar bemühen, überhaupt etwas Kritikwürdiges an seiner Arbeit zu finden. Andreas Otto, grüner Abgeordneter, ausgestattet mit dem Vorwissen des Ingenieurs, sagt über den Vorsitzenden Delius, der sei stets „relativ gut vorbereitet“. Bloß einmal, Anfang März dieses Jahres, habe er sich Ärger eingehandelt, als er einen anonymen Brief mit neuen Korruptionsvorwürfen nicht umgehend an die Kollegen weiterleitete. Delius erklärte damals, er habe zunächst eigene Recherchen zu den Vorwürfen anstellen wollen.

Kollegin Jutta Matuschek von den Linken nennt Delius „ehrgeizig - auf jeden Fall!“ und spöttelt dann: „Martin Delius hört sich gerne reden. Das geht manchmal mit ihm durch.“ Dass der Untersuchungsauftrag „völlig überladen“ sei, dass man eine Art „Flughafenarchäologie“ betreibe, sei der „Anfängerhaftigkeit der Piraten“ geschuldet.

Immerhin ist Delius so ziemlich der einzige Berliner Abgeordnete, dessen Informationen aus dem Armutszeugnis deutscher Baukunst die Öffentlichkeit immer wieder schrecken können. „Alles, was ich je gemacht habe, habe ich ganz gemacht“, sagt er. Das gilt auch für den Vorsitz des Untersuchungsausschusses. Seit Langem ist er professionell genug, um diesen Anspruch nicht mit Kleidungs- oder Aussehensfisematenten zu schwächen. Er sitzt an der schmalen Seite der U-förmig angeordneten Tische eines Raums des Abgeordnetenhauses und versteht Professionalität so, dass er auch Zeugen wie dem früheren Flughafen-Chef Rainer Schwarz gegenüber Contenance bewahrt, mit möglichst unbewegtem Gesicht. „Ich ärger mich ständig“, sagt er, doch sei es „unhöflich“ und „ungesund“, das zu zeigen. Also sieht er die Leute ernst durch seine randlose Brille an.

Er wird nicht zur Linken wechseln

Katastrophenforscher. Martin Delius will im Untersuchungsausschuss das BER-Chaos aufklären, gleichzeitig konnte er den Niedergang seiner Partei beobachten. Foto: dpa/Britta Pedersen
Katastrophenforscher. Martin Delius will im Untersuchungsausschuss das BER-Chaos aufklären, gleichzeitig konnte er den Niedergang seiner Partei beobachten. Foto: dpa/Britta Pedersen

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Dass er laut würde, kann man sich schwer vorstellen, wohl aber, dass er Zeugen alle Möglichkeiten nennt, sie zum Sprechen zu bewegen, bis hin zum Antrag beim Landgericht auf Anordnung von Beugehaft. Das hat Flughafengeschäftsführer Schwarz erlebt. Nachdem der mit einer Reihe pampiger Bemerkungen seine Verantwortung für das Baustellenchaos bestritten hatte, belehrte ihn Delius: „Irgendwann müssen Sie einsehen, dass Sie hier Antworten zu geben haben!“

Ein Bild der Berliner Politik: Da sitzt also auf dem Zeugenstuhl Schwarz, der Mann im dunklen Anzug, von zwei Anwälten sekundiert, der bis heute nicht erkennen will, wie groß sein Anteil am Flughafenchaos ist (und der Senat hat es nicht mal vermocht, ihn rechtssicher zu feuern); und auf der anderen Seite ein Amateurpolitiker, der zum Profi geworden ist. Zwei Zwischenberichte zur Arbeit im Ausschuss belegen das. Im Juni dieses Jahres schrieb Delius: „Die Geschäftsführung unter Rainer Schwarz und Manfred Körtgen hat (...) den Aufsichtsrat über einen langen Zeitraum nicht über den tatsächlichen Stand des Projekts informiert. Im Gegenteil: Es liegen Belege dafür vor, dass Berichte, die dem Aufsichtsrat vorgelegt wurden, auf Anweisung aus der Geschäftsführung geschönt wurden.“

Delius würde die Schönefelder Katastrophenforschung wohl gern vollenden, auch wenn er es traurig findet, dabei immer wieder festzustellen, wie resigniert das wahlberechtigte Publikum ist. Aber es ist unwahrscheinlich, dass er den Ausschuss so gründlich zu Ende bringen kann, wie er gern möchte. Spätestens im kommenden Frühjahr wird die Frage nach dem - vorläufigen? - Abschlussbericht eine politische, die Antwort dann bestimmt von SPD und CDU.

Aber Delius könnte ja weitermachen, profiliert, wie er ist, wenn nicht bei den Piraten, dann bei den Linken, denkt man. Spricht er zum Beispiel über Flüchtlinge, dann zeigt sich ein Wertekanon, der den Idealen des Linken-Landesvorsitzenden Klaus Lederer ähnelt. Und die Landesliste der Linken zur Abgeordnetenhauswahl 2016 wird erst in ein paar Monaten gewählt. Doch Lederer beantwortet die Frage, ob es zwischen ihm und Delius Gespräche über diese Liste gibt, mit „Nein!“.

Und da ist die Sache mit Delius Haltung, seiner Einstellung zu sich selbst, mit diesem: „Alles, was ich mache, habe ich ganz gemacht.“ Es waren eben die Piraten, mit denen er ins Abgeordnetenhaus kam. „Elektrisierend" seien die Anfänge gewesen, sagt er, „the best time of my life, das passiert einem nur einmal im Leben. Den meisten Leuten passiert es nie.“ Wenn man so fühlt, wechselt man nicht von jetzt auf gleich. Zumal Delius auch Sätze sagt wie „Parteien... da ist keine besser als die andere.“

Die aufgeregte Berliner Politik kann auch sehr ernüchternd wirken. Delius sagt, ihn habe der Betrieb „radikalisiert“. Berliner Politik sei „nicht in der Lage, umzusteuern, selbst wenn einem die Scheiße ins Gesicht fliegt“.

Vor zwei Jahren hat er vorgeschlagen, BER zu Ende zu bauen und zugleich ein neues Flughafenprojekt für Ostdeutschland zu planen. Den Vorschlag hat er vor Kurzem erneuert. Denn der BER sei als Großflughafen „final gescheitert“. Aber kann er sich vorstellen, dass unter den Berlinern die Idee mehrheitsfähig wäre, noch mal neu zu bauen? Delius grinst. „In Berlin ist auch die SPD mehrheitsfähig“, sagt er. „Das zeigt, dass alles möglich ist.“

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