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Boliviens Präsident Evo Morales musste als Kind selbst arbeiten. Nun hat er ein Schutzgesetz geschaffen – das manche jedoch für einen Rückschritt halten.

© Felix Lill

Minderjährige gründen Gewerkschaft in Bolivien: Kinderklassenkampf

Der Friedensnobelpreis für Kinderrechtler hat ein neues Licht auf das Thema geworfen: 168 Millionen Minderjährige auf der Welt sind zur Arbeit gezwungen. Besonders krass ist die Lage in Bolivien, wo Kinder ab zehn Jahren arbeiten dürfen. Aber nun beginnen sie sich zu wehren und haben eine eigene Gewerkschaft gegründet.

Aus schäbigen Lautsprechern scheppert Musik, der niedrige Tisch, an dem sie sitzen, ist schmutzig. Auf einem wuseligen, überdachten Marktplatz schaufeln die beiden Jungen Nudeln in sich rein und besprechen Probleme. Zwei Teenager beim Krisengespräch, von Arbeiter zu Arbeiter: „Steig lieber auf einen Bus, bei dem du den Fahrer schon kennst“, sagt Dennis zu Angel. „Und dann musst du ihm in die Augen schauen.“ Der Fahrer wisse dann Bescheid, erklärt der dünne Junge seinem stämmigeren Kollegen. Sein Blick ist sehr ernst.

Angel und Dennis sind zwei von Zehntausenden Kindern in Cochabamba, einer 700 000-Einwohnerstadt im Zentrum Boliviens, die arbeiten müssen. Beide sind als Busbegleiter tätig, rufen Haltestellen aus und verkaufen Fahrkarten. Angel ist erst seit einem halben Jahr im Geschäft, der 13-jährige Dennis schon seit fünf Jahren. Dass sie Krisengespräche wie das auf dem geschäftigen Marktplatz fast täglich führen, halten Angel und Dennis für normal, sie müssen sich ja verteidigen, sagen sie.

Nirgends sind Kinder verwundbarer, aber auch mächtiger als hier

Insgesamt 168 Millionen Kinderarbeiter gibt es nach Berechnungen der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen auf der Welt. Vor wenigen Wochen gewannen mit der Pakistanerin Malala Yousafzai und dem Inder Kailash Satyarti ein 17-jähriges Mädchen und ein Kinderrechtler den Friedensnobelpreis. Beide setzen sich seit langem für das Recht auf Bildung und gegen Ausbeutung an. „Kinderarbeit ist ein riesiges Problem“, erklärte Satyarthi nach der Preisverleihung. Nicht nur in seiner Heimat Indien, sondern weltweit.

Wohl nirgendwo sind Kinder auf der einen Seite verwundbarer, andererseits aber auch mächtiger als in Bolivien. In einem der ärmsten Länder Lateinamerikas ist Kinderarbeit in vielen Haushalten eine Notwendigkeit. Pro Kopf erwirtschaftete Bolivien im Jahr 2012 nur rund 2120 Euro, ein Zwanzigstel des Wertes von Deutschland. Und Angebote an günstigen Arbeitskräften gibt es zuhauf. Von den elf Millionen Einwohnern ist ein knappes Drittel 14 Jahre oder jünger. Laut einer Umfrage der Regierung arbeiten gut 27 Prozent der Bolivianer schon im Alter zwischen fünf und 17 Jahren gegen Bezahlung.

Das Nobelpreis-Komitee begründete seine Entscheidung für die Vergabe an Malala Yousafzai auch damit, dass eben schon Kinder ihr Schicksal selber in die Hand nehmen und die Welt verbessern können.

Audienz bei Evo Morales

Boliviens Kinder haben das auch schon gelernt. Weil niemand sie schützt, vertreten sie ihre Rechte selbst. So, wie es Erwachsene auch tun würden. Sie sind Teil einer Kindergewerkschaft, die sich nicht nur gegen ausbeuterische Erwachsene wehrt, sondern auch schon mit der Politik verhandelt hat.

Den Protestmärschen, Flugblättern und Straßenblockaden der jungen Arbeiter ist es zu verdanken, dass ihre Vertreter Ende vergangenen Jahres eine Audienz bei Evo Morales erhielten, Boliviens Staatspräsidenten. Ihre Forderung war so einfach wie deutlich: Nach Jahrzehnten der Ausbeutung verlangten sie endlich einen Rechtsstatus für alle Kinder. Und nach einem Gespräch im Präsidentenpalast schockierte Morales, der erst Mitte Oktober zum zweiten Mal wiedergewählt wurde, so ziemlich die gesamte wohlhabende Welt: „Als ich ein Kind war, musste ich selber arbeiten“, sagte er. Dass die jungen Menschen um Anerkennung für ihre Arbeit kämpften, verstehe er aus eigener Erfahrung.

Zehnjährigen ist es jetzt ausdrücklich erlaubt zu arbeiten

Ein zäher Kampf mit den Kindern und verschiedenen Ministerien folgte, und schließlich beschloss Morales, ein neues Gesetz erarbeiten zu lassen. Der „Código del Niño, Niña y Adolescente“, der Kodex für Kinder und Heranwachsende, legt das Mindestalter für bezahlte Arbeit nun auf zehn Jahre fest, sofern ein Job eigenständig durchgeführt wird. Arbeitet ein Kind für einen Erwachsenen, darf es ab zwölf Jahren beginnen. Bolivien ist damit das erste Land, das es Zehnjährigen ausdrücklich erlaubt zu arbeiten und diese damit zumindest auf dem Papier auch dabei schützt.

An der Kreuzung im Stadtzentrum von Cochabamba wimmelt es vor minderjährigen Arbeitern. Wer nicht als Begleiter der Busse tätig ist, verkauft Kaugummi oder Süßigkeiten, putzt Schuhe, transportiert zwischen Geschäften Material auf dem Fahrrad oder hilft bei Essensständen als Koch oder Kellner. Einige der Arbeiter sind fast erwachsen, andere gerade im Grundschulalter.

Fünf Euro an einem normalen Tag

Umstritten: Evo Morales.
Umstritten: Evo Morales.

© dpa

Viele haben eine Lebensgeschichte, die so ähnlich klingt wie die von Angel, dem Busbegleiter. Er kratzt sich verlegen am Hinterkopf und stottert, als er anfängt: „Mein Vater hat uns vor einem halben Jahr verlassen. Dann mussten meine Mutter, meine Geschwister und ich auf die Straße ziehen.“ In einer selbstgezimmerten Hütte leben sie jetzt, das Dach ist eine blaue Plane aus Plastik. Angel brach die Schule ab und begann ganztags für die Busfahrer zu arbeiten, von der morgendlichen Rushhour bis zur abendlichen, von acht bis acht. An einem normalen Tag macht er damit um die 50 Bolivianos (rund fünf Euro). So können wenigstens seine beiden jüngeren Geschwister weiter zur Schule gehen.

„Aber heute haben mich schon zwei Fahrer nicht bezahlt“, sagt Angel. 20 Bolivianos fehlen ihm jetzt, die alten Männer am Steuer seien einfach weggefahren, ohne Dank für seine Arbeit. „Ich brauche das Geld. Meine Mutter kocht zu Hause und verkauft Essen. Aber das reicht nicht für uns alle. Und ich bin doch jetzt der Mann im Haus.“

Sie haben keine andere Wahl

Die Generation von Angel und Dennis ist so bedeutend für die Volkswirtschaft ihres Landes wie kaum eine vor ihr. Es gibt Schätzungen, nach denen ihre Arbeit ein Zehntel der bolivianischen Wirtschaftsleistung ausmacht.

Eine Viertelstunde zu Fuß von der Kreuzung sitzt Javier Vicente hinter einer rostigen Metalltür in einem kleinen Raum mit kahlem Betonboden. An den Wänden kleben Poster mit politischen Kampfparolen wie: „Tenemos un derecho al trabajo“ – wir haben ein Recht auf Arbeit. Hier hat Cochabambas Ableger der „Unión de Niños y Adolescentes Trabajadores de Bolivia“ (Unatsbo), der Gewerkschaft für Kinderarbeiter, sein Büro.

Spätestens seit dem vergangenen Sommer, als das neue Gesetz verabschiedet wurde, ist die Unatsbo jedem Bolivianer ein Begriff. „Eine halbe Million im ganzen Land sind jünger als 14“, liest Javier Vicente aus Statistiken an seinem klobigen Computer vor. „Für all diese Kinder gab es vorher keinen Rechtsschutz. Aber sie haben gar keine andere Wahl, als zu arbeiten. Warum sollten sie dann nicht geschützt werden wie andere Arbeiter auch?“

Ist der Kampf gegen Kinderarbeit endgültig gescheitert?

Die übliche Antwort auf die Frage ist ein internationaler Vertrag von 1973. Das „Übereinkommen über das Mindestalter für die Zulassung von Beschäftigung“ der ILO, der Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen, legt fest, dass das Alter eines Arbeiters „auf keinen Fall unter 15 Jahren“ liegen dürfe. In besonders armen Ländern sind als Ausnahme 14 Jahre gestattet. Darunter ist laut diesem maßgebenden Papier, das auch Bolivien einst unterschrieb, Kinderarbeit verboten.

Nun streitet man weltweit, ob Boliviens Gesetz über die Kinderarbeit ein kluger Schritt gewesen ist. Darf sich ein Nationalstaat über internationales Recht hinwegsetzen? Das fragt man sich im Arbeitsministerium in der Regierungsstadt La Paz und in den Botschaften der Länder, die dort diplomatische Beziehungen zu Bolivien unterhalten. Sind die gut gemeinten Versuche der Geberländer in der Entwicklungshilfe, Kinderarbeit zu bekämpfen, jetzt endgültig gescheitert? Darüber regt man sich in Genf auf, wo die ILO und die UN-Kinderhilfsorganisation Unicef sitzen. Und bringt der Kodex für Kinder und Heranwachsende im Alltag überhaupt irgendeine Veränderung? Das fragen sich vor allem die Kinder, um die es geht, überall im Land: in den Minen im Süden, auf den Bauernhöfen im Norden, in den Städten, wo obdachlose Kinder das Straßenbild prägen.

"Das neue Gesetz macht uns stärker"

Schließlich gibt es Kinderarbeit schon lange, unabhängig davon, ob die Politik das nun offiziell macht. Javier Vicente nimmt seine Hand von der Computermaus und schaut an die Wände mit ihren Postern, um nach Worten zu suchen. „Für die Frage, ob es Kinderarbeit gibt oder nicht, macht es bestimmt keinen Unterschied, ob irgendein Gesetz das nun erlaubt“, sagt er. „Aber wenn wir rechtlich jetzt bei dem geschützt sind, was wir jeden Tag tun, macht uns das neue Gesetz stärker. Das ist doch der große Erfolg, den Boliviens Kinder erreicht haben.“

Javier Vicente, ein schlanker, kleiner Mann mit einem kurzen Ziegenbart, ist schon 22 Jahre alt. Bis zu seinem 18. Geburtstag war er der Anführer der Kindergewerkschaft, arbeitete damals als Schuhputzer. Weil die Statuten der Unatsbo vorschreiben, dass nur Minderjährige Entscheidungen treffen dürfen, ist er heute als Student, der auch neben der Uni noch arbeiten muss, als Berater für die Kinder tätig.

Mittlerweile haben die Kinder einen Ruf zu verlieren

Zwei jüngere Arbeiter sind gerade zur Tür reingekommen. Einer ist ein 13-jähriger Schuhputzer, das Mädchen neben ihm ist zwölf und verkauft aus einem kleinen Korb Süßigkeiten. Sie sind hier, um die nächste Mitgliederversammlung vorzubereiten. „Besprechen wir wieder, wie die Arbeit lief?“, fragt Ana, die Süßigkeitenhändlerin. „Ja, wie immer“, antworten Javier Vicente und der 13-jährige Pablo fast gleichzeitig. Die wöchentlichen Versammlungen laufen meist gleich ab: Alle, die Zeit dafür haben, sitzen nicht hier im kleinen Büro, sondern davor, auf dem Hof im Kreis und sprechen über ihre Probleme, aber auch über Konzepte für die Zukunft.

„Ich hab’ Ideen, wie wir die Erwachsenen zum Bezahlen bringen können“, sagt Pablo. Mit Kollegen von der Plaza, auf der er Schuhe poliert, habe er schon gesprochen. „Wenn ein Kunde nicht bezahlen will, machen wir ein Pfeifzeichen und alle rennen hinterher.“ Pablo will es beim nächsten Mal vorstellen. Javier Vicente grinst, die Idee scheint ihm zu gefallen. „Macht das ruhig so“, sagt er, „aber werdet nicht zu fies. Denkt daran, dass ihr die Unatsbo repräsentiert. Wir haben schon Flugblätter verteilt und alles.“ Die Gewerkschaft habe mittlerweile einen Ruf zu verlieren, gibt er zu bedenken.

Die Unicef kämpft weiter gegen das neue Gesetz

Vor zehn Jahren folgte Javier Vicente den Gründern dieser Gewerkschaft, heute will er seine Erfahrungen weitergeben. Auch er hat erfahren, wie Kinder hier ausgebeutet und betrogen werden. „Wir reden hier von körperlicher Misshandlung, manchmal auch von sexuellem Missbrauch. Und natürlich auch von unfairer oder gar keiner Bezahlung“, sagt er und scheint damit andeuten zu wollen, was auch Organisationen wie Unicef und ILO dokumentieren: Kinder trifft Ausbeutung am härtesten und wohl auch am häufigsten. Javier Vicente ist sicher: „Es gibt bestimmt nicht einen einzigen Kinderarbeiter in Bolivien, der unter seiner Arbeit noch nicht extrem leiden musste.“

Wird sich das nun ändern mit dem Gesetz? Die ILO und die Unicef kämpfen weiter gegen Boliviens neue Rechtslage, weil sie befürchten, dass Kinderarbeit auf diese Weise nie enden würde. Für Javier Vicente kommt so ein Argument einer Verweigerung vor der Realität gleich. „Die Bemühungen von denen bewirken doch das Gegenteil. Die Vereinten Nationen tun so, als würden sie die Kinder beschützen wollen, aber sie machen eine Politik gegen die Schwächsten in unserer Gesellschaft.“

Einige Erwachsene haben sie schon eingeschüchtert

Auf der Straße, am Marktplatz im Stadtzentrum haben Angel und Dennis noch eine andere Haltung. „Mit dem neuen Gesetz darf ich jetzt als 13-Jähriger arbeiten. Aber als ich acht war, hab’ ich auch schon diesen Job gemacht“, sagt Dennis. „Ich wusste vorher gar nicht, dass ich das angeblich nicht durfte. Es wäre mir auch egal gewesen.“ Jetzt, da er mit 13 legal arbeiten darf, bräuchte er eigentlich zumindest eine Lizenz von der örtlichen Behörde. Mit seinen Eltern müsste dort die Einkommenslage besprochen werden, ehe Jungen wie Dennis oder Angel offiziell die Erlaubnis bekämen.

Boliviens Präsident Evo Morales musste als Kind selbst arbeiten. Nun hat er ein Schutzgesetz geschaffen – das manche jedoch für einen Rückschritt halten.
Boliviens Präsident Evo Morales musste als Kind selbst arbeiten. Nun hat er ein Schutzgesetz geschaffen – das manche jedoch für einen Rückschritt halten.

© Felix Lill

„Ich habe mir keine Lizenz geholt“, sagt Dennis trotzig, als er von einem Bus steigt und mit Kleingeld in der Hand klimpert. „Wenn ich da hingehe, muss ich bestimmt lange warten und kann einen ganzen Tag nicht arbeiten.“ Sich offiziell beschweren über Busfahrer, die nicht für Dienste bezahlen, könne man sich Dank des Bekanntheitsgrads, den ihre Gewerkschaft Unatsbo mittlerweile hat, immerhin trotzdem. So haben sie schon einige Erwachsene eingeschüchtert.

Und wenn das nicht hilft, bleibt Dennis und Angel immer noch eine altbewährte Methode. Kurz vor Feierabend, abends um acht Uhr, kichern die beiden an einem Laternenpfahl, klatschen sich ab. Dennis sagt hinter vorgehaltener Hand: „Die besten Steine liegen bei der Plaza drei Straßen weiter runter. Die werfen wir nach dem Busfahrer, okay? Dann kriegt er Angst.“

Mitarbeit: Javier Sauras, Michele Bertelli

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