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Doppeltes Drama. Zunächst fahren wegen des Verdachts auf Kindesmissbrauch zu einer Unterkunft in Berlin-Moabit. Doch die Nacht endete tödlich.

© Gregor Fischer/dpa

Update

Missbrauch und Gewalt in Flüchtlingsheimen: Nach den Schüssen, vor der nächsten Tragödie

Ein Flüchtling wird von der Berliner Polizei erschossen, als er seine Tochter rächen will. Die soll ein anderer Heimbewohner missbraucht haben. Es ist eine Tragödie, die sich wiederholen könnte.

Zwischen den hohen, sattgrünen Bäumen ist sie kaum zu sehen. Dabei befindet sich in diesem hügeligen Park am Poststadion in Berlin-Moabit, jene – aus der Nähe imposante – Traglufthalle, von der seit Mittwoch Polizisten, Nachrichtensprecher, Oppositionspolitiker, Sozialarbeiter, Flüchtlinge und Helfer reden. An der Zufahrt zur Halle steht ein weißer Lieferwagen. Darauf steht: „Internationale islamische Bestattungen“.

Am Eingang der Traglufthalle wurde in der Nacht zum Mittwoch ein wütender Iraker von Polizisten erschossen. Offenbar, weil er einen Pakistaner erstechen wollte, der die Tochter des Irakers missbraucht haben soll. Eine Tragödie.

Doch keine, die sich nicht wiederholen könnte, vielleicht sogar eine, die so oder ähnlich schon oft hätte passieren können. Missbrauch und Schläge, eine Kultur der Rache und Selbstjustiz gibt es immer wieder unter Flüchtlingen. Die Kriminalität in Hallen und Wohncontainern, aber auch festen Heimen und Hotels ist enorm. Das berichten selbst Helfer.

Mordkommission ermittelt routinemäßig gegen die Beamten

Am Morgen nach den Schüssen sitzt Ibrahim auf einem Hügel im Park, bläst den Rauch einer selbst gedrehten Kippe in den Wind und sagt: Klar, ihm tue die Familie des Erschossenen leid, und der Pakistaner müsse hart bestraft werden. Aber er wundere sich auch. Nicht darüber, dass der Iraker erschossen wurde. Und auch nicht darüber, dass gleich zwei, vielleicht sogar drei Polizisten abdrückten. Ibrahim, vielleicht 20 Jahre alt, erstaunt vielmehr, warum sich Polizisten in Deutschland so viel bieten lassen. In Damaskus, sagt er in anständigem Englisch, habe niemand einen Beamten anbrüllen dürfen, mit einem Messer fuchteln schon gar nicht. Insofern, folgert Ibrahim, hätten die Polizisten fast lasch reagiert.

Mit dieser Sicht auf die Tragödie dürfte Ibrahim, der sagt, er sei als angehender Student aus Syrien geflohen und habe bis vor Kurzem selbst am Poststadion gelebt, weitgehend allein dastehen. Die Mordkommission ermittelt nun routinemäßig gegen die Beamten. Rechtlich gesehen durften sie schießen, um Gefahr für sich und andere abzuwehren.

Noch ist es zu früh, darüber zu urteilen – eine offizielle Bestätigung des Ablaufs fehlt. Letzter Stand: Ein 27 Jahre alter Pakistaner, der in der Unterkunft lebte, soll ein sechsjähriges Mädchen missbraucht haben. Wegen dieses Vorwurfs fahren Polizisten zu der Traglufthalle, nehmen den verdächtigen Pakistaner mit. Ein 29 Jahre alter Iraker, der – unbestätigten Angaben zufolge – der Vater der Sechsjährigen sein soll, ist wütend. Er brüllt, gestikuliert mit einem Messer in der Hand. Als die Polizisten den mutmaßlichen Missbrauchstäter abführen, ihn gerade in den Streifenwagen setzen, stürmt der Iraker mit dem Messer los. Einige sagen, der Mann soll gerufen haben: „Das wirst du nicht überleben.“ In welcher Sprache, ist unklar. Der Angreifer stoppt auch dann nicht, als die Polizisten ihn anschreien. Noch bevor er den Pakistaner erreicht, wird er von Kugeln getroffen, stirbt später im Krankenhaus.

Für Missbrauch an dem Kind gebe es Zeugen

Seine Frau und ihre drei Kinder werden in eine andere Unterkunft gebracht, von einer Psychologin betreut, die Arabisch spricht. Der Pakistaner soll einem Haftrichter vorgeführt werden, für den Missbrauch an dem Kind gebe es Zeugen.

Am Mittwoch ist es ruhig vor der Halle, im Innern kümmern sich noch mehr Sozialarbeiter um die Bewohner. Einige sagen schon wenige Stunden nach den Vorfällen, die Unterkünfte, in denen seit dem Massenansturm 2015 viele Flüchtlinge leben, erleichterten Gewalt. Hakan Tas von der Linkspartei spricht von „Bedingungen, die Übergriffe und Missbrauch begünstigen“, Flüchtlinge bräuchten nun schnell Wohnungen.

Wenn es so einfach wäre.

Behörden gehen von hoher Dunkelziffer bei Missbrauchsfällen aus

Ein Polizist steht neben einem Eingangsschild der Flüchtlingsunterkunft in Moabit.
Ein Polizist steht neben einem Eingangsschild der Flüchtlingsunterkunft in Moabit.

© Gregor Fischer/dpa

Viele Menschen auf engem Raum führen zu Problemen. Doch mit der Tat nahe der Traglufthalle in Moabit dürfte das nur bedingt zu tun haben. Zunächst: Es sind zwei Hallen, die 2014 errichtet wurden, eine für alleinreisende Männer, wo der verdächtige Pakistaner gewohnt haben soll. Und eine für Familien, in der auch der Erschossene mit Frau und Kindern lebte. Die Hallen waren als Notunterkünfte für 300 Menschen gedacht, drinnen Sechs-Bett-Zimmer. Weil bis heute mehr Flüchtlinge nach Berlin kommen als wieder ausreisen, sollen die Hallen nun doch noch bis Anfang 2017 genutzt werden. Vorgesehen war, dass die Flüchtlinge einige Tage bleiben, dann sollten ihnen Räume in festen Heimen zugewiesen werden. Die beiden Täter blieben dort einige Wochen. Dafür war das Heim nicht überfüllt. Derzeit sind 250 statt 300 Flüchtlinge dort untergebracht.

Ibrahim wohnt woanders, er wollte an diesem Tag frühere Nachbarn besuchen. Er sagt: In der Halle sei es „sehr, sehr warm“ gewesen, aber geräumig. Von außen erinnern die Hallen an Raumschiffe, drinnen sind sie mit weißen Trennwänden durchzogen, in der Mitte gibt es Sofas, Landkarten, Topfpflanzen. Betreiber der Unterkunft ist die Stadtmission, deren Sozialarbeiter gelten in der Branche „als besonders fit“, auch das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten spricht von „sehr erfahrenen“ Profis. Ihr Leiter, Mathias Hamann, ist am Mittwoch geschockt, läuft telefonierend vor der Halle auf und ab, spricht leise mit seinen Kollegen, muss sich immer wieder gedanklich orientieren. Hamann ist ein jungenhafter Mann, der sich 50, 60, 70 Stunden die Woche um Flüchtlinge kümmert – und sichtlich mitgenommen ist.

Es gibt Zahlen zu Missbrauchsfällen in Flüchtlingsheimen: 128 Fälle wurden bundesweit im ersten Quartal 2016 bekannt. Wie viel es inzwischen sind, ist schwer zu sagen, oft differenziert die Polizei bei solchen Taten nicht explizit nach Tatorten – ob es sich also um ein Heim oder ein Haus um die Ecke handelt, bleibt unklar. In Berlin teilt die Polizei genaue Zahlen mit: Im ersten Halbjahr 2016 gab es 48 Missbrauchsfälle gegen Erwachsene und Kinder in der Hauptstadt, eine hohe Dunkelziffer wird angenommen.

„Kinderschutz darf bei Flüchtlingskindern nicht unter die Räder kommen“

In seinem Büro, ganz in der Nähe der Halle, sitzt vor ein paar Wochen ein schlanker Mann mit gebräuntem Gesicht und Brille: Johannes-Wilhelm Rörig ist Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung, Mahner für Kinderschutz, oberster amtlicher Schutzengel für Opfer sexueller Gewalt und sagte: „Es gibt eine hohe Dunkelziffer. Wir müssen davon ausgehen, dass es in fast jedem Heim Übergriffe auf Frauen, Kinder, Jugendliche gibt.“ Rörig wird nicht laut bei seinen Mahnungen, aber seine Stimme bekommt einen harten Ton. Er hat an einem Konzept für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge mitgearbeitet.

Noch wird dazu auf einen Entwurf des Familienministeriums gewartet. Rörig macht das fassungslos: „Der Kinderschutz darf bei Flüchtlingskindern nicht unter die Räder kommen. Jedes missbrauchte Kind ist ein Fall zu viel.“ Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) lässt nun mitteilen: „Wir brauchen Schutzkonzepte, die konkret und in der Praxis gut umzusetzen sind.“ Planungen und Konzepte gibt es, konkret passiert ist wenig.

Rörig hat schon 2015 eine Checkliste ausgearbeitet, 15 Punkte sind aufgeführt, es geht um Fragen wie: „Sind geschlechtergetrennte Duschmöglichkeiten vorhanden?“ Oder: „Ist eine separate Unterbringung von alleinstehenden Müttern mit ihren Kindern gewährleistet?“

Bei Bewohnern wirken Angst und Scham

Einer, der die Checkliste abarbeiten soll, war gerade auf Dienstreise in Bayern, als er von dem Vorfall in der Moabiter Kruppstraße erfuhr. Manfred Nowak ist Chef der Arbeiterwohlfahrt Mitte (AWO) in Berlin – und jemand, der dabei ist, wenn Theorie auf Praxis trifft. Die AWO Mitte betreibt zwölf Heime, in einem, in Spandau, nahm die Polizei im Juli einen Iraker fest. Der 44-Jährige soll monatelang einen Zwölfjährigen missbraucht haben. Und weil eine Waffe benutzt wurde, rückte ein Spezialeinsatzkommando an. Natürlich, sagt Nowak, „ist dieser Vorfall mit dem Kind in Spandau schlimm“. „Aber außerordentlich tragisch ist es, dass es keine Hinweise aus den Reihen der Bewohner an die Sozialarbeiter gab.“ Hier helfen Vorgaben wie getrennte Duschen nicht. Hier wirken Angst und Scham.

In allen AWO-Heimen werden Flüchtlinge noch mehr als bisher gebeten, sich an Helfer zu wenden, wenn sie einen Verdacht auf Missbrauch haben. „Wir können ja nicht einfach in einen Privatraum gehen“, sagt Nowak. „Wenn wir etwas erfahren, rufen wir die Polizei und erteilen Hausverbot.“

Die Polizei hat er vor ein paar Tagen erneut geholt. Diesmal nahm sie einen – offiziell staatenlosen – Mann aus einem Heim in Schöneberg mit. Er soll einen Sechsjährigen missbraucht haben. Der Sechsjährige offenbarte sich einem Helfer, die Mutter erfuhr erst durch die Heimleitung davon. „Wir haben leider nicht in allen Einrichtungen getrennte Duschmöglichkeiten“, sagt Nowak. „Die räumlichen Möglichkeiten lassen es nicht zu.“ Die Flüchtlingszahlen stiegen zu schnell, für die Suche nach optimalen Unterkünften bleibt keine Zeit.

Viele Hallen, Hangars, Wohncontainer werden bleiben

Immer wieder hatten Übersetzer, Helfer und Beobachter auch über eine Kultur der Rache, der Ehre, des Patriarchats berichtet. Ebenfalls in der Nacht zum Mittwoch griffen sich in einem Haus im Berliner Umland tschetschenische, pakistanische und syrische Männer an. Während der Flüchtlingskrise kamen doppelt so viele Männer wie Frauen nach Deutschland. Die Polizeiberichte lesen sich dann fast immer gleich. Mal drängelt einer vor der Essensausgabe, der Toilette oder an der Dusche. Jemand rastet aus, weil eine unverschleierte Frau in der Küche steht, andere schimpfen, weil dort Schweinefleisch zubereitet wurde, wieder andere stören sich an ihren Nachbarn, die sie dann lauthals als Jude oder Gotteslästerer bezeichnen.

Ein Berliner Beamter, der sich seit Jahren mit der Asylbewerberbetreuung befasst, hat einige Stunden danach schon vom Drama in Moabit gehört. Er sagt , dass die allermeisten nicht wahrhaben wollten, was der Stadt, dem Land noch alles bevorstehe: Viele Hallen, Hangars, Wohncontainer werden bleiben. „Ist doch auch klar. Niemand will bei sich zu Hause eine pakistanische Familie aufnehmen“, sagt er. „Wo sollen die denn alle hin?“ Und er glaubt auch nicht, dass es damit getan wäre, die Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen. Die Traditionen aus Männerherrschaft, Gnadenlosigkeit und Rache gebe es dennoch. Ihm täten diejenigen Flüchtlinge leid, die sich eben benehmen wollten.

Die Polizei ist längst abgerückt, die Spurensicherung wieder weg. Ibrahim sitzt immer noch im Park. Er genießt den Septemberwind, die Zigarette und den Eistee. Er windet sich ein wenig, sagt dann: Er hoffe, dass das alles nicht auf Menschen wie ihn zurückfalle.

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