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Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis.

© Can Erok/dpa

Nach 367 Tagen: Das Ende seiner Geiselhaft

Gnadenloser könnte der Kontrast nicht ausfallen: In den Minuten, in denen der Journalist Yücel in Freiheit seine Frau umarmt, werden drei türkische Journalisten zu lebenslänglich verurteilt.

Eiskalt fegt der Wind über die Ödnis außerhalb von Istanbul, wo das Hochsicherheitsgefängnis Silivri wie eine Festung aufragt. Tief und grau hängen die Wolken, als um 15.30 Uhr Ortszeit eine schwarze Limousine mit diplomatischen Kennzeichen durch den Haupteingang in das Gefängnis fährt – und nicht mehr herauskommt. Der Mann, der von dieser Limousine abgeholt wird, soll möglichst ohne großes Spektakel das riesige Gelände verlassen. Für den 44-jährigen Deniz Yücel, den deutsch-türkischen Türkei-Korrespondenten der „Welt“, bringt der schwarze Wagen die Freiheit. Nach 367 Tagen.

Zehn Minuten, nachdem die Limousine durch das Gefängnistor gerollt ist, veröffentlicht Deniz Yücels Anwalt Veysel Ok auf Twitter ein Foto, das sich in den sozialen Netzwerken rasend schnell verbreitet: Deniz Yücel, in Jeans und schwarzer Jacke, umarmt seine Frau Dilek Mayatürk-Yücel, in den Händen einen dicken Strauß Petersilie. Die Kräuter sind eine Erinnerung an ihren ersten gemeinsamen Urlaub, die „Blumen ihrer Liebe“, wie Yücel selbst einmal aus der Haft schrieb: „Bei meinen wöchentlichen Bestellungen im Knastladen kaufe ich regelmäßig Grünzeug: Dill, der mich an Bäume erinnert, und Petersilie, die mich an Dilek erinnert.“ Bei ihrem ersten gemeinsamen Urlaub hätten sie immer so viel Petersilie im Strandkorb gehabt, dass Dilek sie zur „Blume unserer Liebe“ erklärt habe.

Nur Veysel Ok und deutsche Diplomaten beobachten das emotionale Wiedersehen auf einer menschenleeren Straße zwischen Gebäude und Gefängniszaun. Und vorne, wo die Journalisten auf Deniz Yücel warten, verkündet der Oppositionsabgeordnete Baris Yarkadas, Yücel sei durch einen Hinterausgang aus dem Gefängnis gebracht worden.

Ein Jahr ohne Anklageschrift

Dass großer Rummel bei seiner Entlassung vermieden werden soll, hängt vielleicht mit dem zusammen, was sich sonst noch so abspielt in Silivri an diesem Tag. In den Minuten, in denen Yücel seine Zelle verlassen und seine Frau umarmen kann, verurteilt ein im Gefängniskomplex tagendes Gericht die Journalistenbrüder Ahmet und Mehmet Altan sowie die Kolumnistin und Ex-Parlamentsabgeordnete Nazli Ilicak zu lebenslangen Haftstrafen.

Deniz Yücel und Dilek Mayatürk-Yücel.
Deniz Yücel und Dilek Mayatürk-Yücel.

© imago/Depo Photos

Gnadenloser könnte der Kontrast zwischen dem Fall Yücel und dem Schicksal vieler türkischer Journalisten an diesem Tag nicht ausfallen. Bei Mehmet Altan hatte sogar das türkische Verfassungsgericht im Januar bereits die Freilassung angeordnet, doch das untergeordnete Gericht weigerte sich, Altan gehen zu lassen. Jetzt soll er zusammen mit seinem Bruder und Ilicak lebenslang ins Gefängnis, weil er mit seiner journalistischen Arbeit den Putschversuch gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan im Jahr 2016 begünstigt haben soll. „Gärtner“ des Terrorismus hat Erdogan unbotmäßige Journalisten genannt und damit gezeigt, wie Regierungskritiker auch dann zu Gewalttätern erklärt werden können, wenn sie nichts anderes tun, als Zeitungsartikel schreiben.

Deutscher müsste man sein, kommentieren Erdogan-Gegner auf Twitter, als sich die Nachricht von der Freilassung Yücels verbreitet. Dass Deniz Yücel einen Tag nach den Gesprächen des türkischen Premiers Binali Yildirim mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin freikommt, zeige in glasklarer Offenheit, wie sehr die türkische Justiz zu einer Befehlsempfängerin der Führung in Ankara geworden sei, heißt es da. Schließlich saß Yücel ein ganzes Jahr ohne Anklageschrift ein. Doch in dem Moment, in dem Yildirim in Berlin von der Hoffnung auf ein baldiges Ende des Falles spricht, klagt die Staatsanwaltschaft in Istanbul Yücel plötzlich an.

Sie verlangt bis zu 18 Jahre Haft wegen Terrorpropaganda und Volksverhetzung – Standardvorwürfe gegen inhaftierte türkische Journalisten. Doch bei Deniz Yücel ordnet der zuständige Richter sofort die Freilassung ohne Auflagen an.

Schrei im Newsroom

Als die Nachricht am späten Vormittag Yücels Arbeitgeber „Die Welt“ in Kreuzberg erreicht, geht ein Schrei durch den Newsroom. Er kommt von Ulf Poschardt, der Chefredakteur hat soeben von der Entscheidung des Gerichts am Telefon erfahren. Im Großraumbüro bricht Jubel aus, einige Kollegen bekommen feuchte Augen. Später sagt Poschardt, der Verlag habe in den vergangenen Wochen deutlich andere Signale erhalten „als in den grausamen Monaten zuvor“, konkrete Hinweise auf eine Freilassung zuletzt Anfang der Woche. Poschardt nennt den Tag den „schönsten meines Berufslebens“.

Erst Mittwochabend ist der letzte Autokorso durch Kreuzberg gerollt, diese besondere Form von Solidaritätsbekundung, die Deniz Yücel während des Jahres seiner Haft dutzendfach in deutschen Städten zuteil wurde. In einem der Wagen saß auch Jamila Schäfer, die neue stellvertretende Bundesvorsitzende der Grünen. Unter den Teilnehmern sei die Stimmung schon sehr hoffnungsvoll gewesen, sagt Schäfer. Weil Mittwoch zugleich Valentinstag war, schmückten herzförmige, mit Helium gefüllte Ballons die Autos. Jetzt hoffe sie sehr, dass die Bundesregierung Yücels Wunsch nachgekommen und keinen schmutzigen Deal für seine Freilassung eingegangen sei, sagt Schäfer. „Aber das kann man nicht ausschließen. Ich erwarte, dass die Bundesregierung hier bald umfassend über die Umstände aufklärt.“

Ausdruck der Freude: Schriftzug am Axel-Springer-Haus in Berlin.
Ausdruck der Freude: Schriftzug am Axel-Springer-Haus in Berlin.

© Kay Nietfeld/dpa

Die Art der Freilassung deute einmal mehr auf mangelnde Rechtstaatlichkeit in der Türkei hin: „Es ist eine Farce, dass Yildirim immer wieder auf die ,unabhängige Justiz’ hingewiesen hat. Erdogan und sein Apparat entscheiden und keine unabhängige Justiz.“ Dass der deutsche Außenminister die eigene Rolle bei den Verhandlungen betont, lässt Schäfer kalt: „Heute freue ich mich erstmal über Deniz’ Freilassung. Über Sigmar Gabriels Narzissmus habe ich mich oft genug ärgern müssen.“

Can Dündar fürchtet Konsequenzen

Indem sie Yücel ziehen lässt, löst die türkische Regierung nach ihrem Verständnis eines ihrer größten Probleme im Verhältnis zu Deutschland. Alle Schwierigkeiten mit Berlin seien bereinigt, sagt Binali Yildirim am Tag von Yücels Freilassung. Das ist möglicherweise etwas optimistisch. Kanzlerin Angela Merkel hatte am Donnerstag bei ihrem Treffen mit Yildirim betont, die Türkei müsse mehr tun, um die Beziehungen zu Europa wieder ins Lot zu bringen. Rechtsstaatliche Reformen sind ein wichtiger Bestandteil der deutschen und europäischen Forderungen. Doch gerade der Fall Yücel zeigt, wie sehr der türkische Rechtsstaat zerschlagen worden ist.

Zudem könnte die wohl von oben angeordnete Flexibilität der türkischen Justiz für Binali Yildirim und Recep Tayyip Erdogan einen innenpolitischen Preis haben. In türkischen Internetforen läuft am Freitag als Dauerschleife eine Szene aus einem Fernsehinterview Erdogans aus dem vergangenen Jahr: Und wenn sich die Deutschen auf den Kopf stellen, Yücel kommt nicht frei, sagt der Präsident. „In meiner Amtszeit auf keinen Fall“, sagt Erdogan und nennt den Reporter einen „Terroristen“ und „Agenten“. Es gebe genügend Beweise gegen ihn. Und nun wird Yücel eben doch sang- und klanglos freigelassen.

Wird der Präsident jetzt zurücktreten? Das fragt am Freitag auf Twitter spöttisch auch der ehemalige Chefredakteur der „Cumhuriyet“ Can Dündar. Der türkische Journalist, zurzeit im Berliner Exil, fürchtet allerdings die Konsequenzen, die Yücels Freilassung für die Pressefreiheit in der Türkei haben könnte. „Sie wird negative Folgen haben, weil Erdogan nun weiß, dass es möglich ist, über inhaftierte Journalisten zu verhandeln“, sagt er der Deutschen Presse-Agentur. „Erdogan hat etwas als Gegenleistung dafür bekommen, wir wissen nur noch nicht, was. Also warum sollte er nicht noch weitere Journalisten festnehmen lassen?“

Als Angela Merkel am Donnerstag Binali Yildirim empfängt, weiß man im Kanzleramt und im Auswärtigen Amt längst, dass eine Entscheidung im Fall Yücel kurz bevorsteht. Um Deniz Yücels Freilassung zu erreichen, hat sich der geschäftsführende Außenminister Sigmar Gabriel in den vergangenen Wochen und Monaten mehrmals mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu getroffen. Außerdem gab es zwei Begegnungen mit Staatspräsident Erdogan, wie Gabriel am Freitag berichtete. Der Außenminister will an diesem Tag keine Zweifel daran aufkommen lassen, auf wessen Konto die Freilassung des Journalisten geht. Nach seiner Attacke gegen den Ex-SPD-Chef Martin Schulz ist Sigmar Gabriel innerparteilich schwer angeschlagen, doch die Hoffnung, in der künftigen Regierung noch einmal Außenminister werden zu können, hat er deshalb nicht aufgegeben.

Gabriels Einsatz

Für einen Minister, der hinter den Kulissen um sein Amt kämpft, kommt Yücels Freilassung genau zum richtigen Zeitpunkt. Andere Diplomaten würden einen solchen außenpolitischen Erfolg vielleicht einfach für sich sprechen lassen, doch das ist nicht Gabriels Art. Und so fliegt er von der Münchner Sicherheitskonferenz zurück nach Berlin, um eine Pressekonferenz im Newsroom der „Welt“ zu geben. Dort lobt ihn der Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner für seinen „wirklich unermüdlichen Einsatz“.
Kaum hatte die „Welt“ die bevorstehende Freilassung ihres Korrespondenten bekannt gegeben, lässt Gabriel eine Erklärung verbreiten, in der er die Entscheidung des Gerichts begrüßt und der türkischen Regierung seinen Dank ausspricht: „Ich habe in den letzten Monaten viele direkte Gespräche mit der türkischen Regierung zur Beschleunigung des Verfahrens geführt.“ Gabriel dankt außerdem der Kanzlerin – „für ihr Vertrauen in die Arbeit des Auswärtigen Amtes in diesem schwierigen Fall“. Auch Altkanzler Gerhard Schröder spielte eine Rolle. Gabriel sagt, er habe Schröder gebeten, „Türen aufzumachen in Istanbul“. Der Altkanzler sei zweimal dort gewesen.

Im Januar hatte Gabriel Cavusoglu zu sich nach Hause eingeladen, eine seltene Geste in der internationalen Diplomatie. In der Türkei wird dieses Treffen als Gespräch auf Augenhöhe wahrgenommen, Cavusoglu spricht seitdem von seinem „Freund Sigmar“. In Deutschland bringt dieser Umgang mit dem Vertreter einer autoritären Regierung dem Außenminister Kritik ein, er sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, Rüstungsgeschäfte als Gegenleistung für die Freiheit des Journalisten Yücel ins Spiel zu bringen. Nach dem Gespräch in Goslar äußert er sich tatsächlich positiv über ein Rüstungsprojekt zur Modernisierung türkischer Panzer aus deutscher Produktion. Der deutsche Konzern Rheinmetall könnte diesen Auftrag bekommen, außerdem gibt es Pläne, über ein Joint Venture eine Panzerfabrik in der Türkei zu bauen.

Jubelkorso für die Pressefreiheit

Cavusoglu fährt nach der Teestunde in Goslar offenbar mit der Botschaft nach Hause, die Bundesregierung werde den Genehmigungsantrag für eine Modernisierung der Panzer wohlwollend prüfen. Umgehend meldet sich Yücel selbst aus dem Gefängnis zu Wort und erklärt, dass er seine Freiheit nicht mit Hilfe von Waffengeschäften erlangen wolle: Für „schmutzige Deals“ stehe er nicht zur Verfügung. Auch wenn die geschäftsführende Bundesregierung nach der türkischen Militäroffensive im Norden Syriens alle Rüstungsgeschäfte vorerst stoppt, bleibt die Frage, ob es eine Absprache gegeben hat. Einen Deal, wie ihn auch die Grüne Jamila Schäfer beim Kreuzberger Valentins-Autokorso befürchtet hatte. Gabriel verneint dies am Freitag kategorisch: „Ich kann Ihnen versichern, es gibt keine Verabredungen, Gegenleistungen, Deals.“ Auch Merkel hat zuvor betont, es werde „keinerlei Verknüpfungen“ mit Rüstungsgeschäften geben.

Freunde und Kollegen des "Welt"-Korrespondenten Yücel fahren in einem Autokorso durch Berlin.
Freunde und Kollegen des "Welt"-Korrespondenten Yücel fahren in einem Autokorso durch Berlin.

© Paul Zinken/dpa

Bereits am Freitagnachmittag ist Deniz Yücel auf dem Weg zum Istanbuler Flughafen. Wohin er reist, sagt sein Chef Ulf Poschardt nicht. Stattdessen kündigt er eine große Party an, für den Moment, in dem Deniz Yücel die Welt-Redaktion wieder betreten wird. Am Freitagabend feiern Deniz Yücels Freunde und Unterstützer schon ohne ihn – natürlich mit einer weiteren Autokolonne durch Berlin. Das Motto diesmal: Jubelkorso für die Pressefreiheit.

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