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Direktor Ulrich Wessel aus Haltern hat 16 Schüler und zwei Lehrerinnen verloren.

© Sascha Schürmann/AFP

Nach dem Absturz von Germanwings-Flug 4U9525: Trost und Trauer überall

Sie klammerten sich an Hoffnungen. Eltern, Lehrer, Freunde. Bis zuletzt. Am Tag nach dem Absturz steht der Schrecken im Gesicht eines Schulleiters, herrscht eigentümliche Geschäftigkeit. Die Kanzlerin fliegt nach Südfrankreich, Experten suchen nach Gründen. Und doch es bleibt: ein Rätsel.

Die Gesichter der Trauer bleiben den Kameras verborgen, und das ist richtig so. Aber wer am Tag danach Ulrich Wessel sieht, der erkennt wie in einem Spiegel den Schrecken. Wessel ist der Direktor des Joseph-König-Gymnasiums im nordrhein-westfälischen Haltern, ein drahtiger Mann, die Haare achtlos verstrubbelt. Er hat jetzt aber andere Sorgen. Am Dienstag war er es, der Eltern sagen musste, dass ihre Kinder tot sind, ihr Flugzeug zerschellt in den Alpen, 16 Schüler der zehnten Klasse, zwei junge Lehrerinnen. Nun sitzt er im Rathaus von Haltern, und eigentlich kann er nicht mehr. Im Kopf, sagt Wessel, sei die Katastrophe angekommen, „aber bis ich das wirklich verstanden habe, das wird noch dauern“. Wann es wieder Schüler-Austauschprogramme an seiner Schule geben werde, fragt ein britischer Journalist. Wessel guckt in die gute Hundertschaft, die ihre Kameras und Mikrofone auf ihn gerichtet hat. „Wenn ich ehrlich bin – ich weiß noch nicht, wie ich den morgigen Tag rumkriege.“ Sylvia Löhrmann, die Landesschulministerin, legt ihm sachte die Hand auf den Rücken. An der Wand hinter ihnen breitet der Gekreuzigte seine Arme aus. Sie werden hier noch viel Trost brauchen.

In ganz Europa Flaggen auf Halbmast

Der Tag nach der Katastrophe ist von einer eigentümlich gedämpften Geschäftigkeit. Noch in der Nacht sind in ganz Europa Flaggen auf Halbmast gesetzt worden, in Spanien, in Deutschland, in Brüssel. Auch Japan trauert, Kolumbien, die USA. Germanwings-Chef Thomas Winkelmann zählt am Mittag 15 Nationen auf, aus denen die 150 Toten stammen. Die meisten sind Deutsche, 72 nach der vorläufigen Bilanz, 51 Passagiere stammten aus Spanien. In Mexiko steigt eine Familie in ein Lufthansa-Flugzeug, um wenigstens den Ort zu sehen, an dem ihr Verwandter starb. In Australien stellt eine Familie der Regierung zwei Fotos zur Verfügung; auch Carol und Greig Friday, eine Mutter und ihr 29-jähriger Sohn vom anderen Ende der Welt, sind unter den Opfern.

Retter in den Bergen.
Retter in den Bergen.

© dpa

In dem Weiler Le Vernet bei dem Örtchen Seyne-les-Alpes machen die Rettungsflieger im Morgengrauen wieder ihre Hubschrauber bereit. Die Suche hoch oben im Gebirge geht weiter in dem Trümmerfeld, das einmal der Airbus A320 mit der Flugnummer 4U9525 war. Es ist bitter kalt dort, zerklüftet, schweres Gelände auch für erfahrene Bergläufer. Ein Trupp Gendarmerie ist am Abend vorher zu Fuß losmarschiert und hat in Zelten und Schlafsäcken übernachtet, andere Helfer bringen die Flieger vor Ort.

Einen der beiden knallroten Flugschreiber haben sie dort schon gefunden, zerbeult, aber nicht zerstört. Es ist der Stimmenrekorder, der alles aufzeichnet, was im Cockpit zu hören ist. Er wird gleich auf den Weg nach Paris geschickt, in die Hände der Experten. Vielleicht kann er das furchtbare Rätsel lösen helfen, weshalb ein tausendfach bewährtes Flugzeug in Barcelona zu einem Routineflug nach Düsseldorf abhebt und dann plötzlich in schnurgeradem Sinkflug direkt auf die Alpen zurast.

Germanwings fliegt weiter, was denn sonst?

Einige Leute in den Gebirgstälern haben die Maschine noch gesehen, viel zu tief, das sei ihnen gleich klar gewesen, berichten sie französischen Reportern. Den beiden Piloten muss das auch klar gewesen sein. Wenn sie noch bei Bewusstsein waren. Wenn überhaupt noch irgend jemand diese letzten Minuten an Bord bei klarem Verstand hat erleben müssen. Man kann verrückt werden bei dem Gedanken.

Bei Germanwings fliegen am Mittwoch etliche Maschinen mit fremdem Personal. Sogar Konkurrenten der Lufthansa-Tochter haben Besatzungen abgestellt als Ersatz für Kollegen, die noch nicht wieder fliegen können. Sie kannten die Besatzung zu gut, die dort in den Alpen gestorben ist.

Aber Germanwings fliegt weiter, was denn sonst? Auch am Mittwoch geht ein Flug von Barcelona nach Düsseldorf. Um kurz vor zwölf landet die Maschine im Rheinland. In der Ankunftshalle ist ein junger Mann schon seit einer halben Stunde nervös auf und ab gelaufen. Cooler Typ – lange schwarze Haare, Nasenpiercing, ein Tattoo auf jedem Fingerknöchel. Als eine junge Frau durch die Sicherheitsschranke kommt, fängt er an zu weinen. Die beiden fallen sich in die Arme, minutenlang. Dann laufen sie hinaus, schnell vorbei an den wartenden Reportern. Der Junge lächelt verschämt, so als gehöre sich das nicht, nicht heute, nicht hier. In der Ankunftshalle steht noch die provisorische Gedenkwand. Ein Notfallseelsorger mit gelber Warnweste mustert die Ankömmlinge aufmerksam.

An Spekulationen herrscht, wie immer nach großen Unglücken, kein Mangel

45 Passagiere waren an Bord, ein ruhiger Flug, fast alles Geschäftsreisende. Einer berichtet, dass über das Unglück niemand geredet hat. Die Maschine hat aber, heißt es, eine

andere Route genommen. Ein Pilot der Air Berlin kommt vorbei, er muss gleich nach Hamburg. Man nehme so etwas professionell, sagt er. Aber die Kollegen, die heute nicht fliegen, kann er gut verstehen. Und richtig gelassen ist er auch nicht. „Der Flugzeugtyp ist sehr verbreitet“, sagt der Mann. „Der Verdacht, ein serieller Fehler könnte die Ursache sein, verunsichert die ganze Branche.“

In Berlin tritt am Vormittag das Bundeskabinett zusammen. Die Politik geht auch weiter, doch gedämpft. Angela Merkel bittet um eine Schweigeminute. Die Kanzlerin wird nach der Sitzung nach Südfrankreich aufbrechen. Frank-Walter Steinmeier und Alexander Dobrindt waren schon da. Der Außen- und der Verkehrsminister sind im Helikopter über die Absturzstelle geflogen. Dobrindt sieht immer noch mitgenommen aus, als er am Mittwoch erst den Verkehrsausschuss informiert und dann im Paul-Löbe-Haus kurz vor die Kameras tritt. Der CSU-Mann kennt sich mit Bergen aus, die Zugspitze liegt in seinem Wahlkreis. Aber was er da gesehen hat, hat ihn erschüttert. Kein Flugzeug mehr, nur Fetzen. „Das größte Teil, was identifizierbar war, war ein Bordwandteil, das den Umfang von drei Flugzeugfenstern umfasst“, sagt Dobrindt. Warum die Maschine abgestürzt ist? „Jede Spekulation verbietet sich.“

Die Sache ist zu rätselhaft

An solchen Spekulationen herrscht, wie immer nach großen Unglücken, einerseits kein Mangel. Feuer an Bord? Ein Druckabfall? Eine Wiederholung jener schweren Panne, die vor knapp einem halben Jahr einen Airbus A320 fast hätte abstürzen lassen, weil vereiste Lage-Sensoren dem Steuerungscomputer falsche Daten schickten und der die Maschine in den Sinkflug? Das sei so gut wie ausgeschlossen, sagen Experten, die Computer sind aktualisiert worden und jeder Airbus-Pilot in der Welt war natürlich über dieses Versagen im Bilde. Also vielleicht Terroristen? Aber darauf, sagt der deutsche Innenminister Thomas de Maizière, gebe es keinerlei Hinweise. Die Experten verzeichnen auch keine auffälligen Nachrichten in den Terrorszenen im Internet, nichts in diese Richtung.

Andererseits – gemessen daran, dass dies das schlimmste Unglück der bundesdeutschen Zivilluftfahrt ist, halten sich die Spekulationen doch wieder in Grenzen. Die Sache ist zu rätselhaft. Die Experten in den vielen Fernsehstudios erklären also sicherheitshalber, was es wahrscheinlich alles nicht war. In Paris sind inzwischen auch deutsche Flugsicherheitsfachleute eingetroffen. Wenn etwas zu hören ist auf dem Band des Stimmenrekorders, wird man die Männer aus Braunschweig gut brauchen können.

An verrückte Hoffnungen geklammert

In Marseille stürmt es, schlechtes Wetter, regnerisch. Am Flughafen der Mittelmeer-Metropole haben Militär und französisches Innenministerium ihr Krisenzentrum aufgebaut. Schon früh steht eine Reihe graugrüner Helikopter auf dem Flugfeld bereit, außerdem eine Autokolonne für alle Fälle. Am Nachmittag sollen sie den französischen Präsidenten Francois Hollande mit Merkel und der nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft zum Absturzort bringen. Kraft hat am Dienstag den Schuldirektor Wessel anrufen müssen. Man hat sich ja noch Hoffnung gemacht nach den ersten Berichten, hat Wessel in Haltern erzählt, an verrückte Hoffnungen geklammert: Vielleicht gibt es zwei Flüge parallel? Oder vielleicht haben sie den Flug verpasst? Aber sie haben den Flug nicht verpasst. 1283 Schüler hat er gehabt, „seit gestern leider 16 weniger“.

Auf dem improvisierten Flugfeld von Le Vernet hat die Gendarmerie große weiße Zelte aufgeschlagen. Eins wird zum Ort des stillen Gedenkens für die Angehörigen. Die ersten Familien treffen am Nachmittag auf eigene Faust in der abgelegenen Region ein, am Donnerstag stellt die Lufthansa zwei Sondermaschinen aus Barcelona und Düsseldorf für die Trauernden. Leute aus dem Dorf haben ihnen Unterkunft angeboten. In derart extremen Situationen, hat in einer der vielen Sondersendungen ein erfahrener Notfallseelsorger gesagt, zählt jede kleine Geste des Mitgefühls. Die Leute von Le Vernet sind keine Experten. Aber sie haben das sehr gut verstanden.

"Dies ist eine Katastrophe für ganz Europa", sagt Präsident Hollande

Genau so zählen die Gesten der Großen. Am frühen Nachmittag landet der Militärhelikopter mit Hollande, Merkel und Kraft. Er hat eine kurze Runde über die wüste Bergregion gedreht, ein kurzer Blick auf diese Trümmerwüste, in der kleine Teams weiter nach allem suchen, was das Rätsel lösen helfen kann. Jetzt knattert die Maschine auf die Wiese in dem Hochtal. Der spanische Regierungschef Mariano Rajoy ist mit dem Auto vorweg gefahren. Gemeinsam schreiten sie ein kleines improvisiertes Spalier der Helfer in ihren blauen Einsatzuniformen ab. Die vier Spitzenpolitiker schütteln jedem Einzelnen die Hand. Manchmal bleiben sie kurz stehen für ein paar kurze Worte. „Das ist ein Zeichen unglaublicher Freundschaft und Hilfe“, sagt Merkel. „Wir sind sehr dankbar.“

Drei Nationalflaggen schief im Boden

Dann führt Hollande seine Kollegen in das weiße Zelt der Gendarmerie Nationale. Der Einsatzleiter erläutert die Hilfsmaßnahmen für die Angehörigen. Später trägt sich Merkel in das Kondolenzbuch ein: „In großer Betroffenheit mit den Familien und mit herzlichem Dank für die Freundschaft der Menschen in der Region und in Frankreich“, schreibt die Kanzlerin. Es ist noch gar nicht lange her, da war es Frankreich, das mit einer Katastrophe fertig werden musste, dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“. Jetzt sind es die Deutschen, die Spanier. „Das ist das Bewegende an dem heutigen Tag“, sagt Merkel hinterher, dass nicht nur die Deutschen in Gedanken bei den Toten und ihren Angehörigen seien, sondern auch die Menschen in Frankreich und der Region. Die Freunde und Familien der Toten, „sie werden willkommen sein“, sagt die Kanzlerin. „Merci bien“, vielen Dank.

„Es ist für uns eine Frage der Ehre, dass wir die Familien unterstützen“, antwortet Hollande. Und dass sein Land alles tun werde, um die Opfer zu bergen und zu identifizieren und um aufzuklären, wie das passieren konnte. „Liebe Angela, lieber Mariano“, sagt der Präsident, „dies ist eine Katastrophe für ganz Europa. Wir verneigen uns vor den Opfern.“

Draußen auf der Wiese stecken drei Nationalflaggen schief im Boden. Ein schwarzes Trauerband fesselt sie regelrecht an ihren Stock. Sie wirken in dem trüben Grau genau so traurig wie die, die hier ihre Länder vertreten müssen.

Es ist okay zu weinen

Auch in Haltern ist der Himmel trübe, es regnet ein bisschen. Vor einem Modegeschäft im mittelalterlichen Stadtkern steht eine Kerze, auf einem weißen Trauerflor die Nummer des Unglücksflugs. In der Sixtus-Kirche brennen Kerzen rund um eine Christus-Statue. Immer wieder kommen Menschen hinein und entzünden neue. Auch die Erlöserkirche hat ihre Türen geöffnet. Im katholischen Münsterland ist die Kirche noch präsent im städtischen Leben. Hier kennen sie auch den Spruch: Not lernt beten. Trotzdem, sagt Josef Schlierkamp: „Für die Bibel ist es zu früh.“ Der Rentner patrouilliert als Notfallseelsorger durch die Stadt, ehrenamtlich, er hat mehrere Monate Schulung dafür absolviert. „Ich versuche die Leute zum Sprechen zu bekommen, das ist wichtig.“

Aber schwer ist es auch, sehr schwer. Auch auf den Treppen des Joseph-König-Gymnasiums stehen Kerzen, rote und weiße Grablichter, dicht an dicht. Die Schule ist abgesperrt. Schüler und Lehrer sollen unter sich sein. „Wir bitten da um Verständnis“, sagt die Ministerin Löhrmann. Die Grüne sieht elend aus, so wie der Direktor Wessel, wie der Bürgermeister Bodo Klimpel, wie der Landrat. „Wir haben versucht zu trösten“, sagt Löhrmann, und dass die Kinder da drin jetzt das Gefühl brauchten, dass es okay ist zu weinen und okay ist zu schweigen und dass überhaupt jede ihrer impulsiven Reaktionen in Ordnung ist. Am Donnerstag wird ein Sonderflugzeug der Lufthansa von Düsseldorf nach Marseille fliegen mit allen Angehörigen, die mitreisen wollen. Eine zweite Maschine wird aus Barcelona kommen. Um 10:53 Uhr aber wird im ganzen Bundesland in allen Schulen für eine Minute geschwiegen. Es ist die Uhrzeit, zu der Flug 4U9525 vom Radar verschwand. Vielleicht weiß man wenigstens dann schon, warum.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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