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Citylights. Tokio gilt als eine der teuersten Städte der Welt. Wer nicht mithalten kann, versucht, den schönen Schein zu wahren.

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Obdachlosigkeit in Japan: Die Unsichtbaren

Sie verbringt ihre Tage auf der Parkbank. Frisch frisiert, ordentlich gekleidet. Niemand darf wissen, dass die 74-Jährige ihre Wohnung verloren hat. Obdachlosigkeit gilt in Tokio als Schande, offiziell kennt Japan keine Armut. Doch der Mythos beginnt zu bröckeln.

Als über dem Sumida-Park in Tokio die Sonne aufgeht, schiebt Mieko lwai ihre sorgsam gefalteten Kartons in einen Schacht unter der Brücke. Bevor die ersten Jogger ihre Runden drehen, hat die alte Dame ihren Platz auf ihrer Bank eingenommen. Mieko lwai, 74 Jahre alt, trägt adrette braune Halbschuhe, eine rosa Bluse, gepunktete Socken und frisch gewaschene Jeans. Die grauen Haare hat sie zum Seitenscheitel gekämmt, mit einer Lesebrille auf der Nase blättert sie durch eine Zeitung. Hin und wieder blickt Mieko lwai auf, um den Rentnerinnen aus der Gegend freundlich zuzunicken. „Sie wissen nicht, dass ich obdachlos bin“, flüstert sie. „Sonst würden sie mich nicht so grüßen.“

Mieko lwai wohnt seit einem halben Jahr im Park, nachts schläft sie in einer Hütte aus Pappkartons. Aber das dürfen die anderen nicht erfahren, niemals. Mieko lwai würde ihr Gesicht verlieren. „Mein Partner verlor seinen Job“, sagt sie und beugt ihren Kopf zu der Seite, an der Takahiro Minoru sitzt. Sie war ihr Leben lang Hausfrau, Takahiro Minoru ein Werksarbeiter für einen Schulbuchverlag. Der Betrieb ging pleite. Mit 75 Jahren war er zu alt, um noch einmal einen neuen Job zu finden. Da er nie fest angestellt war, hatte er keinen Anspruch auf Rente. „Wir hatten gut 200 000 Yen angespart, für Probleme eben“, sagt Mieko lwai. Das entspricht etwa 1450 Euro. Das Polster war schnell aufgebraucht. Für die Miete reichte es nicht mehr. Sie zogen aus. Übergangsweise wollten sie den Beginn des Frühlings im Park verbringen. Sie mussten bleiben.

Eine Einzimmerwohnung kostet rund 1000 Euro

Tokio gilt als eine der teuersten Städte der Welt. Auch für viele Menschen mit Einkünften ist das Leben kaum bezahlbar. Im Bezirk Shibuya im Westen des Zentrums, wo im beliebten Yoyogi-Park neben Mieko lwai noch hunderte andere Obdachlose leben, kostet die Monatsmiete für eine Einzimmerwohnung um die 1000 Euro, was etwa einem Drittel des Brutto-Durchschnittseinkommens entspricht. Eine Bahnfahrt quer durch die Stadt kann zehn Euro kosten, auch Lebensmittel sind teurer als in anderen Ländern.

Aber der Mythos von der Nation ohne Armut hat schon lange angefangen zu bröckeln. Etwa 6000 Obdachlose gibt es in Tokio. Landesweit sind es rund 30 000. Mieko lwai und ihr Partner Takahiro Minoru, der seinen wahren Vornamen nicht verrät, gehören dazu. Verzweifelt versuchen sie, Tag für Tag den Anschein einer bürgerlichen Existenz aufrechtzuerhalten. Denn keine Wohnung zu haben, gilt in Japan als große Schande. Die Tageszeitung „Asahi Shimbun“ hat ihnen deshalb einen Namen gegeben: die Unsichtbaren.

Feinmaschiges Netz? Warum es in Japan kaum gesellschaftliche Hilfe gibt

Citylights. Tokio gilt als eine der teuersten Städte der Welt. Wer nicht mithalten kann, versucht, den schönen Schein zu wahren.
Citylights. Tokio gilt als eine der teuersten Städte der Welt. Wer nicht mithalten kann, versucht, den schönen Schein zu wahren.

© picture alliance / dpa

Was übertrieben ist, denn wer sehen will, muss nur nach Sonnenuntergang den Sumida-Park besuchen. Jede Nacht bauen sich die Unsichtbaren hier ihr eigenes Reich, eine Siedlung aus Pappe. Mehr als einhundert Kartons stehen an den Rändern der Gehwege, unter der Brücke, auf den Wiesen. Vor den braunen Pappkisten stehen aufgereiht Schuhe, liegen ordentlich gefaltete Hemden, stapeln sich Geschirr und Becher. Ein Fahrrad steht am Rand und ein Besen.

Mieko lwai und Takahiro Minoru haben bis heute keinem ihrer Bekannten von ihrer Lage erzählt. Im Sommer verbringen sie ihre Zeit um die Ecke beim berühmten Sensoji-Tempel. Unter einem Sonnendach sitzen sie, schauen auf das buddhistische Prachtwerk, hören Radio mit Kopfhörern. Seine geliebten dicken Odennudeln hat Takahiro Minoru seit einem halben Jahr nicht mehr gegessen. Er und Mieko lwai haben in den vergangenen sechs Monaten jeweils sieben Kilo verloren. Die leichte, silberne 100-Yen-Münze hielt Takahiro Minoru das letzte Mal vor ein paar Wochen in seiner Hand, einen Schein vor Monaten.

Sie sammeln Müll und verkaufen ihn

An Bares kommen sie überhaupt nur, weil im Park das Solidaritätsprinzip greift. Abwechselnd sammelt immer einer der Bewohner nützliche Dinge aus Mülleimern oder von der Straße und macht sie zu Geld. Die Erlöse werden geteilt. Wenn die kleinen Lebensmittelläden, die es in Tokio an fast jeder Straßenecke gibt, neue Lieferungen bekommen, holt Takahiro Minoru abgelaufene Ware ab.

Die Gemeinschaft der Gescheiterten hält da zusammen, wo die Mehrheitsgesellschaft wegsieht. Im „World Giving Index“ der britischen Charities Aid Foundation liegt Japan von 146 Ländern nur auf Platz 85. Der Index misst die Höhe von Spenden, die aufgebrachte Zeit für Freiwilligenarbeit und die Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden.

Gesellschaftliche Hilfe gibt es kaum, denn in der Theorie gibt es in Japan niemanden, der nicht dazugehört. Der frühere Premierminister Yasuhiro Nakasone, der das Land zwischen 1982 und 1987 regierte, bezeichnete Japans Gesellschaft einst als „feinmaschiges Netz“. Durchfallen unmöglich. In Umfragen geben regelmäßig mehr als 90 Prozent der Bevölkerung an, zur Mittelschicht zu gehören. Auf diese vermeintliche Homogenität sind die Japaner stolz. Sie ist sogar in der Verfassung verankert. In Artikel 25 heißt es: „Alle Menschen sollen das Recht auf die Aufrechterhaltung eines vollständigen und kultivierten Lebens haben.“

In den 1990ern platzte die Spekulationsblase

Zu einem Massenphänomen wurde Obdachlosigkeit in den 1990er Jahren. Damals platzte in Japan nach Jahrzehnten des Wirtschaftsaufschwungs eine riesige Spekulationsblase. Sowohl an der Börse als auch auf dem Immobilienmarkt. Unzählige Menschen verloren ihre Jobs. Tausende Japaner zogen es damals nach ihrer Kündigung vor, einfach nicht mehr nach Hause zu kommen und in Anonymität auf der Straße zu leben, statt ihr Versagen vor der Familie erklären zu müssen.

Nach Schätzungen sind heute 80 Prozent aller Obdachlosen männlich, die meisten älter als 50 Jahre. Mittlerweile leben aber landesweit auch mehr als 6000 junge Menschen ohne reguläre Wohnung. Weil sie keine festen Jobs finden, schlafen sie oft in Internetcafés, die rund um die Uhr geöffnet sind. Andere ohne festen Job suchen Zuflucht in Thermalbädern oder mieten sich in Kapselhotels ein, wo man für 15 Euro die Nacht in einem Zwei-Quadratmeter-Zimmer verbringen kann. Der nächste Schritt ist dann häufig die Obdachlosigkeit. Ein Leben im Park, wie bei Mieko lwai und Takahiro Minoru.

Wachsendes Problem: Warum die Zahl der Obdachlosen steigt

Citylights. Tokio gilt als eine der teuersten Städte der Welt. Wer nicht mithalten kann, versucht, den schönen Schein zu wahren.
Citylights. Tokio gilt als eine der teuersten Städte der Welt. Wer nicht mithalten kann, versucht, den schönen Schein zu wahren.

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Wer tagsüber kommt, sieht nicht, dass der Sumida-Park auch das Zuhause vieler Menschen ist, die ihre Heimat verloren haben. Junge Mütter schieben ihre Kinderwagen über die asphaltierten Wege. Der Park liegt im historischen Zentrum Tokios. Ein Stück Grün am Rande des Flusses, mit großem Spielplatz, sauberen öffentlichen Toiletten. Das Stadtviertel Asakusa schmückt sich mit dem ältesten Tempel der Stadt, traditionellen Theatern, beliebten Kneipen. Es grenzt direkt an das sogenannte Technikviertel Akihabara, wo die Spezialisten für Unterhaltungselektronik und Popkultur arbeiten. Jeder Tourist muss sich diese Gegend ansehen, wenn er den Tipps der Reiseführer folgt.

Von Armut ist auf den Straßen der Metropole kaum etwas zu erahnen. Denn Betteln kommt selbst für die ärmsten Einwohner Tokios nicht infrage. Mieko lwai schöpft daraus den Stolz, den ihr keiner nehmen kann. ,,Ich dachte früher, dass alle Menschen ohne Wohnung betteln.“ Sie guckt grimmig, als sie das sagt, als bereite ihr schon der Gedanke daran Abscheu. „Aber so sind nicht alle. Manche Frauen, die ich jetzt kenne, prostituieren sich lieber. Sie machen alles, um nicht betteln zu müssen.“

Es ist ein Bedürfnis, das viele Menschen ohne Obdach ausdrücken: Sie wollen nicht auch noch für Unannehmlichkeiten sorgen und nach Hilfe fragen. Vielleicht auch, weil sie von sich selbst wissen, dass viele Japaner von Obdachlosen keine sonderlich positive Meinung haben. Sie sind ja die Verlierer, die es eigentlich gar nicht geben dürfte.

Auch Mieko lwai hat früher nie einem Fremden geholfen. Heute fällt es ihr schwer, eine Gabe anzunehmen. Am Abend steht sie von ihrer Bank auf, macht ihr Bett und das von Takahiro Minoru. Die Kartons zieht sie wieder hinter dem Gitter unter der Brücke hervor, an der Wand entfaltet sie ihre dicke Pappe, in die sie zur Lüftung zwei kleine Fenster geritzt hat.

Die Zahl der Obdachlosen wird steigen, sagen Gewerkschaften

Glaubt man den Gewerkschaften, wird die Zahl junger und alter Menschen ohne Obdach weiter steigen. Die Regierung von Premierminister Shinzo Abe versucht derzeit, neues Wirtschaftswachstum durch Inflation zu erzeugen. Ihr Kalkül: Bei steigenden Preisen werden wieder mehr Unternehmen investieren, was dann hoffentlich ihre Gewinne erhöht. Und schließlich steigen auch die Löhne. Bisher aber geschieht das Gegenteil. Gehaltssteigerungen haben nur wenige Betriebe angeboten, Neueinstellungen ebenso wenig. Die Reallöhne sinken seit Jahren, die Preise steigen. Das Sozialbudget kürzt die Regierung durch Sparmaßnahmen zusammen. Nun erhöhte Premier Abe auch noch die Mehrwertsteuer von fünf auf acht Prozent, um die hohen Staatsschulden in den Griff zu bekommen.

In den Medien gibt es keine Debatte über den Umgang mit der wachsenden Armut. Nur einige wohltätige Vereine setzen sich ein. Ansonsten wird das Thema totgeschwiegen. Manchmal rutscht im Rundfunk jemandem das Wort „kojiki“ raus, was übersetzt Bettler heißt, aber synonym auch für Obdachlose verwendet wird. Dann entschuldigt sich der Sender umgehend für die „unangemessene Sprache“.

Ob sie sich von der Gesellschaft im Stich gelassen fühlen? Takahiro Minoru schweigt, Mieko lwai dreht ihren Kopf hin und her und denkt nach. „Ich habe eine gute Freundin im Stich gelassen, als wir unsere Wohnung räumen mussten. Sie weiß seitdem nicht, wo ich bin.“ Ein paar Minuten später, als sie auch das Häuschen von Takahiro Minoru aufgebaut und mit einer Wolldecke als Matratze ausgelegt hat, bringt sie ihren Satz zu Ende: „Hoffentlich kann ich meine Freundin bald anrufen. Unser Handy haben wir in der Nähe unter der Erde begraben. Unsere Pässe und ein Tabletcomputer liegen da auch.“ Auch wenn es statistisch gesehen alte Menschen kaum jemals wieder schaffen, die Straße zu verlassen: Aufgegeben hat sich dieses Paar noch nicht.

Sozialhilfe? Fast so schlimm wie Betteln, finden sie

Nach vielen Diskussionen haben sich die beiden dazu durchgerungen, bald das zu versuchen, was für viele Japaner schon Betteln wäre: Sozialhilfe beantragen. Ob sie ihnen bewilligt wird, wissen sie nicht, und wie viel sie bekämen, auch nicht. Es wäre wohl nicht genug, um davon zwei Personen zu ernähren und monatlich Miete zu bezahlen. „Wir könnten nebenher irgendwelche Jobs machen“, sagt Mieko lwai, als sie zwischen ihren Klamotten und den aufgesammelten Zeitungen der vergangenen Tage ihre Zahnbürste sucht. „Junge Menschen machen heute alle möglichen Tagesjobs, erzählt man sich hier. Das könnten wir doch auch.“ Nur so vom Staat zu leben, wäre ihr unangenehm, sagt sie.

„Das Wichtigste ist mir“, flüstert Mieko lwai, als würde sie etwas Verbotenes sagen, „ein normales Leben zu führen. So steht es ja auch in unserer Verfassung.“ Dann geht die alte Dame mit ihrer Zahnbürste ins Toilettenhaus. Über ihre Schultern hat sie sich ein Handtuch geworfen. Der Weg von ihrem Karton unter der Brücke zum Ersatzbadezimmer, den sie gleich auch noch zurückgehen muss, sind die letzten 50 Meter des Tages, auf denen sie als Obdachlose erkannt und als Bettlerin missverstanden werden könnte.

Takahiro Minoru liegt schon in seinem Verschlag. Die Jogger, die jetzt nach der Arbeit durch den Park rennen, können den alten Mann schon nicht mehr sehen. Fünf Minuten später ist auch Mieko lwai in ihrer braunen Pappe verschwunden. Zumindest bis Sonnenaufgang wird niemand sehen, wo sie lebt und wie sie lebt. Wenn Tokio wieder aufwacht, wird ihr Papphäuschen hier nicht mehr stehen. Und von ihr werden die Leute denken, sie sei nur eine Rentnerin mit zu viel Zeit.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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