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Kein anderer Sportler hat in Berlin so nachhaltig Spuren hinterlassen wie Jesse Owens.

© picture alliance / dpa

Olympia 1936 in Berlin: Wie ich Jesse Owens siegen sah

Da flog er hin, da triumphierte er! Wir tobten auf der Tribüne des Olympiastadions, als mein Idol das 200-Meter-Finale gewann. So wichtig wie ihn fand ich den Hitler nicht.

Vielleicht hat dieses Berlin niemanden jemals mehr begeistert als mich, der ich mit sechs dort ankam, mit elf den Olympia-Taumel miterlebte und im Stadion saß, als Jesse Owens den 200-Meter-Lauf gewann.

Aus der Provinz, aus Erfurt waren wir 1931 zugezogen, zuerst in ein Holzhaus in Wannsee – mein Vater, er war Rechtsanwalt, offenbar aus beruflicher Not; mir, dem „Kleinen“ unter vier Geschwistern, wurde die Pleite mit wenig Mühe als Triumph verkauft: S-Bahn! U-Bahn! Zweistöckige Omnibusse! Viertgrößte Stadt der Welt! Der Potsdamer Platz mit der ersten Verkehrsampel des Kontinents! Und die Glienicker Brücke an schönen Sonntagabenden die Bühne einer deutschen Premiere: Die Scheinwerfer der heimkehrenden Ausflügler bildeten eine Lichterkette! Da pilgerten wir hin und staunten. Und natürlich merkte ich nichts davon, dass es Krawalle gab und das Unheil sich zusammenbraute.

Mit der Schule hatte ich noch in Erfurt begonnen - nun musste ich in die Volksschule Schlachtensee fahren, auch ein Abenteuer: mit der S-Bahn, die auf dieser Strecke noch mit Dampflokomotiven betrieben wurde. Meine Geschwister wurden regelmäßig zu Fuß (zweimal eine Stunde) nach Schlachtensee geschickt, weil in der dortigen Tengelmann-Filiale die Wurst mehrere Pfennig billiger war.

Aber kann es sein, dass ein Siebenjähriger sich noch an den Tag der „Machtergreifung“ erinnert, den 30. Januar 1933? Nun, die Umstände waren danach: Mit den Eltern sitze ich in der Abenddämmerung im Café „Onkel Toms Hütte“. Ein Zeitungsverkäufer kommt herein mit dem „8-Uhr-Abendblatt“, und das meldet in riesigen Frakturlettern „Hitler Reichskanzler“. Die Leute gaffen. Sie murmeln. Die ersten gehen. Einer schreit auf. Von meinem Vater ist mir aus jenen Wochen nur erinnerlich, dass er empört war, wenn seine „Tägliche Rundschau“ immer häufiger mit leeren Seiten erschien (zensiert, wie ich viel später lernte) und dass später der Reichstagsbrand ihn zu düsteren Kommentaren trieb.

Ein unendliches Gerangel und Geschimpfe

1934 bezog ich das Grunewald-Gymnasium (die Walter-Rathenau-Schule von heute). Das sei, so hörte man, eine von Deutschlands feinsten Adressen. In die Klasse über mir ging Nicolaus Sombart, Sohn des weltberühmten National-Ökonomen Werner Sombart; eine Klasse tiefer wurde 1935 Friedrich-Karl Flick eingeschult, der in den achtziger Jahren als fünffacher Milliardär und großzügiger Verteiler von Parteispenden Schlagzeilen machte. Mit beiden war ich in den letzten Schuljahren befreundet; wiedergesehen habe ich sie nicht.

Unsere „Sexta“ war ungewöhnlich zusammengesetzt: neben vier jüdischen Mitschülern die fünf jungen Herren von Alten, von Bernuth, von Caprivi, von Loebell und von Tschammer und Osten. Der war der Sohn des „Reichssportführers“ und wurde prompt zum Klassensprecher „ernannt“ (so lief das damals). Ein mutiger Oberstudiendirektor verwies ihn nach einem Jahr der Schule, weil er ein Lümmel war.

1936: Olympia - „Fest der Völker“, von den Nazis furios inszeniert, Aufregungen ohne Zahl. Zweimal in der Woche musste meine Klasse im Olympiastadion mit tausend anderen Schülern üben, wie man auf dem Rasen die Olympischen Ringe darstellt und sie durch koordiniertes Schreiten in Drehung versetzt - ein unendliches Gerangel und Geschimpfe an ihren sechs Kreuzungspunkten. Und bei der Eröffnung war ich krank.

Ein Mittagessen für die gesamte Familie durfte 50 Pfennig kosten

Mit Logiergästen stopften wir unsere Wohnung voll, Goebbels (nicht nur Reichspropagandaminister, sondern auch Gauleiter von Berlin) hatte dazu aufgerufen, eine Agentur besah und vermittelte, wir schliefen zu fünft im Wohnzimmer auf der Erde. Das Geld war willkommen: Ein typisches Mittagessen für die gesamte Familie durfte 50 Pfennig kosten („Bruchreis“ aus dem Billigladen, eine Dose Tomatenpüree, Palmin).

Nicht stark trafen uns daher die „kleinen Einschränkungen“, die Goebbels „im Interesse einer reibungslosen Versorgung unserer vielen ausländischen Gäste“ verfügt hatte: „Vorübergehend“ sollten die Berliner die Butter nur noch in begrenzter Menge, Schlagsahne aber überhaupt nicht mehr kaufen können. (Das blieb so bis etwa 1950.)

Der Star von Olympia war schon vor den Spielen Jesse Owens. Aus einem Sonderheft der „Berliner Illustrirten“ hatte er uns angelacht, der nette Schwarze - berühmt und als Favorit gehandelt, denn im Vorjahr hatte er in weniger als einer Stunde vier Weltrekorde aufgestellt: über Yards-Distanzen, über 200 Meter und im Weitsprung mit den sagenhaften 8,13 Metern. Ja, der würde siegen! Und das sollte er! Die Nazi-Predigt von der Überlegenheit der „weißen“, zumal der „arischen“ Rasse hatte uns noch nicht erreicht.

Am Gymnasium versuchten wir zu laufen wie Jesse Owens

So siegte er! In der Zeitung sahen wir die Fotos von seinen Läufen, bald auch in der Wochenschau: mit weitem Vorsprung, fast aufrecht und mit souveräner Lässigkeit - ein Unikum unter den Sprintern, ein Weltmeister der Eleganz. Den Laufstil hat sein Trainer so beschrieben: „Jesse schwebte gleichsam über die Piste. Sein Oberkörper blieb praktisch unbewegt. Eine volle Kaffeetasse hätte er beim Lauf auf dem Kopf balancieren können.“

Und was geschah in den Pausen auf dem Schulhof des Grunewald-Gymnasiums? Im Dutzend versuchten wir zu laufen „wie Jesse Owens“! Ich, seit Jahren ins Laufen verliebt, erwarb mir den Ruf, einer der besten Nachahmer zu sein - und träumte unverzüglich von künftigen Olympiasiegen. (Nun, zum besten Läufer der Schule brachte ich es und zu 11,5 über 100 Meter, wahrscheinlich schlampig gestoppt.)

Und dann kam der 5. August. Einer unserer Logiergäste hatte eine Eintrittskarte frei und nahm mich ins Olympiastadion mit. Ich war außer mir - über diesen gewaltigen Anblick! Und natürlich über den 200-Meter-Endlauf um 18 Uhr: Jesse Owens leibhaftig! Da flog er, da triumphierte er! Das Stadion tobte. Ich und alle vor mir und neben mir sprangen auf. Und ich muss wohl geheult haben vor Begeisterung. Die 100 Meter hatte Owens schon zwei Tage zuvor gewonnen, den Weitsprung gewann er selbstverständlich auch, und natürlich rannte er die amerikanische 4x100-Meter-Staffel in den Weltrekord. In der Schule jubelten wir! Etwas anderes erwartet hatten wir nicht.

Dass Hitler ihm nach dem Sieg nicht die Hand geschüttelt hat, ist unbestritten - strittig aber, ob das protokollarisch korrekt oder eine Geste der Verachtung war. Das Erste gilt heute als wahrscheinlicher. Owens selber schrieb darüber 1970: „Hitler didnt snub me“, er brüskierte mich nicht - „it was Roosevelt who snubbed me.“ Der amerikanische Präsident nämlich hatte ihm kein Glückwunschtelegramm geschickt und ihm einen Empfang im Weißen Haus verweigert - dem Schwarzen, igitt!

Jesse Owens hatte seine glücklichsten Tage in Berlin

1938 lebte Jesse Owens noch mal auf in Leni Riefenstahls Olympiafilmen, und brillant setzte sie ihn in Szene. In Deutschland wurde es dann still um ihn. In der Presse tauchte er erst lange nach dem Krieg wieder auf - und alles, was man las, war traurig. Schon bald nach seinen Olympia-Triumphen hatte er ja mit Schauläufen Geld verdienen müssen: gegen örtliche Sportler, denen er zehn oder zwanzig Meter Vorsprung gab; ja gegen Windhunde, Rennpferde und Motorräder. Erst 1955 ernannte Präsident Eisenhower ihn zum „Botschafter des Sports“, und Präsident Ford verlieh ihm 1976 die Freiheitsmedaille. Dreimal hat Jesse Owens noch Berlin besucht - und jedes Mal versicherte er, hier habe er die glücklichsten Tage seines Lebens erlebt. 1980 ist er gestorben, 66 Jahre alt.

1960 war er noch einmal durch die Sportteile etlicher deutscher Zeitungen gegeistert. Da hatte Armin Hary den 100-Meter-Weltrekord mit 10,0 nach Deutschland geholt - und wie selbstverständlich spekulierten die Experten: Ob dieser Jesse Owens, der seine 10,2 Sekunden auf einer Aschenbahn gelaufen war, auf der nun üblichen, leicht federnden Tartanbahn nicht auch den Hary noch geschlagen haben würde? (Die viel raffinierter gewordenen Trainingsmethoden, die Ernährungsfinessen noch gar nicht gerechnet.) Wie gern spekulierte ich mit! Seit den Triumphen des Usain Bolt sind solche Gedankenspiele verschwunden. Ja, der hätte am Ende sogar Jesse Owens besiegt. Nur beim Rennen so herrlich anzusehen ist seit Owens keiner mehr.

Was mich aber immer noch an 1936 denken lässt, ist eines mehr. Als politisch engagierter Journalist und als einer der langsam wegsterbenden Zeitzeugen grüble ich: Wie kam es, dass 1936 die halbe Welt begeistert in dieses Hitler-Deutschland strömte? Warum wurden die Olympischen Spiele in Berlin nicht boykottiert? Gab es nicht 1980 den Boykott von dreißig Staaten, darunter den USA, gegen Olympia in Moskau, weil die Sowjetunion in Afghanistan eingefallen war?

Die jüdischen Mitschüler kamen nach den Sommerferien nicht wieder

Und Hitler: Hatte der nicht schon 1924 in „Mein Kampf“ seine Hassgesänge auf die Juden angestimmt - ließ er sie nicht seit 1933 drangsalieren? Und die „Konzentrationslager“ für Tausende von politischen Gegnern! Und 1935 die „Nürnberger Gesetze“, die die Eheschließung zwischen Juden und „Ariern“ als Rassenschande einstuften und mit Zuchthaus bedrohten!

Ach nein: Sie kamen alle. Und gar die französischen Sportler - wie zogen sie zur festlichen Eröffnung ins Olympiastadion ein? Mit hundertfachem Hitlergruß! Die Zeitungen waren voll davon, die Wochenschau zeigte es begeistert, Leni Riefenstahl hielt es in ihren Olympiafilmen fest.

Die meisten Medaillen gewann Deutschland auch noch, erstmals in der Olympiageschichte; vor den USA. Wir Elfjährigen waren vollends überwältigt: Deutschland der Sieger - Jesse Owens unser Held! So wichtig wie ihn fanden wir den Hitler nicht.

Dass unsere vier jüdischen Mitschüler nach den Sommerferien nicht wiederkamen, irritierte uns durchaus. Aber der Klassenlehrer konnte uns beruhigen: „Sie gehen jetzt auf Privatschulen“, sagte er. Und damals stimmte das auch. Was alles bald nicht mehr stimmen würde, davon ahnten wir nichts.

Mich rief die Wehrmacht 1943 weg aus Berlin. Von Bomben war es schon zerrupft. Gewohnt habe ich in Berlin nie wieder.

Meine engste Verbindung besteht darin, dass ich mit einer Vollblutberlinerin verheiratet bin, und das seit einem halben Jahrhundert. Sie ist in Berlin geboren und musste 1953 Steine klopfen auf der Stalinallee (die Karl-Marx-Allee von heute). Als wir am 9. November 1989 die Berliner jubelnd auf die Mauer klettern sahen, haben wir gemeinsam geheult, und zu Weihnachten 1989 sind wir Hand in Hand durchs Brandenburger Tor gegangen. Wir nahmen es gleichsam wieder in Besitz, unser Berlin.

Und natürlich registriere ich es gern: Berlin, das sich von 1938 bis 1941 als eine Art Hauptstadt der Welt betrachtete und damit ein grässliches Ende nahm - es kommt ja wieder.

Wolf Schneider:

Der Autor leitete von 1979 bis 1995 die Henri-Nannen-Journalistenschule und schrieb etliche Sachbücher, darunter Standardwerke wie „Deutsch fürs Leben“. Schneider arbeitete u. a. für die „Süddeutsche Zeitung“, war Verlagsleiter des „Stern“, Chefredakteur der „Welt“ und Moderator der NDR-Talkshow.

Wolf Schneider

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