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Blick in die Zukunft. Hamburg nimmt im Rennen um die Spiele mit alten Plänen neuen Anlauf. Auf dem „Kleinen Grasbrook“ soll im Hafen das Olympiagelände entstehen.

© Computeranimation: Gerkan, Marg und Partner (gmp), Büro Gärtner und Christ/dpa

Olympische Spiele in Hamburg: Dem letzten Bewohner der Insel "Kleine Grasbrook" droht der Umzug

Bei seiner Olympiabewerbung setzt Hamburg auf den „Kleinen Grasbrook“. Wo jetzt noch Bananen entladen werden, soll ein neues Quartier entstehen. Dann aber müsste auch der letzte verbliebene Einwohner umziehen.

Wenn Ralf Vaust in Hamburg am Wochenende spazieren geht, dann trifft er manchmal Touristen. Sie laufen an seinem Haus vorbei, immer die Straße entlang, links die Schutzmauer gegen Sturmflut, rechts die Norderelbe. Irgendwann endet die Straße an einer Schranke. Von dort hat man einen schönen Blick auf die Elbphilharmonie. Oder auf die Queen Mary 2, das größte Kreuzfahrtschiff der Welt, das gelegentlich in Hamburg Station macht. Der man hier so nahe kommen kann, dass sie nicht mehr als Ganzes auf ein Foto passt. Schöne Wohnlage, die Ralf Vaust da hat.

Nachbarn trifft er auf seinen Spaziergängen nicht, denn er hat keine mehr. Die letzte ist vor einigen Jahren gestorben. Nun sind Vaust und seine Frau die einzigen Bewohner in diesem Teil der Stadt, aber darum geht es hier nicht. Besonders viele Nachbarn hatten sie ohnehin nie, denn sie wohnen im Industriegebiet. Seit mehr als 35 Jahren. Auf dem „Kleinen Grasbrook“, ein östlicher Teil des Hamburger Hafens, nicht weit entfernt vom Hauptbahnhof. Auf dieser Insel zu wohnen war schon immer die Ausnahme.

Worum es geht, ist, dass Familie Vaust wahrscheinlich die erste wäre, die für die Olympischen Spiele in Hamburg umsiedeln müsste. Wo sie heute wohnt, soll 2024 eine Grünfläche zu finden sein, soll eine Fähre Sportler und Zuschauer auf den Grasbrook bringen. Das ist zumindest der aktuelle Planungsstand. Einige hundert Meter weiter entstünde das olympische Dorf, daran angrenzend das Olympiastadion mit 70 000 Plätzen sowie zwei weitere Sporthallen. Wo heute noch Hafen ist, wäre dann Sport. Und anschließend soll Wohnraum für rund 6000 Menschen entstehen. Olympic-City, ein neuer Stadtteil. Geht das so ohne Weiteres?

Zuckersäcke, 80 Kilo. Die haben sie früher per Hand bewegt

Theoretisch geht das natürlich. Praktisch offenbar nicht so leicht, da hat auch Ralf Vaust mittlerweile seine Erfahrungen gemacht. Doch er wirkt gelassen. Vaust geht stramm auf die 80 zu, irgendwann wird man offenbar entspannter. Vaust ist alter Hafenarbeiter, angefangen hat er in der Zeit, als sie die Ladung der Schiffe noch von Hand löschten. Rinderviertel auf die Schulter und los. Zuckersäcke, 80 Kilogramm, ein Mann links, ein Mann rechts, und ab. Später kümmerte er sich um die Gabelstapler des Unternehmens und kam so an die Betriebswohnung am Rand des Firmengeländes. Unten die Werkstatt, darüber die Wohnung. Vaust: alter Arbeiteradel. Gewerkschafter, SPD-Wähler, Elbsegler auf dem Kopf, die Hose aus breitem Cord. Bereit zum Umzug? Wenigstens diesmal? Ach, ja.

Es ist ja nicht das erste Mal, dass der Kleine Grasbrook umgebaut werden soll. Im Jahr 2003 verlor Hamburg im deutschen Olympia-Vorentscheid gegen Leipzig, die Spiele fanden letztlich in London statt. Hätten sie in Hamburg stattgefunden: Ralf Vaust wäre schon längst nicht mehr da, wo er heute noch ist. Stattdessen stünde da heute ein Olympiastadion. War nichts. Ein paar Jahre später wurde über den Bau einer mehrere hundert Meter langen Wohnbrücke diskutiert, die die nördliche Hafencity mit dem Kleinen Grasbrook hätte verbinden sollen. Das Projekt „Living Bridge“ scheiterte. Noch ein paar Jahre später gab es Überlegungen für einen Neubau der in die Jahre gekommenen Hamburger Universität. Wieder sollten die Bagger auf der Insel rollen, wieder scheiterte der Plan.

Und jetzt also Olympia, zweiter Versuch. Streng genommen tun die Hamburger Stadtplaner das, was sie in den vergangenen Jahren schon öfter versucht haben. Sie nennen es den „Sprung über die Elbe“. Der Versuch, die südlichen Stadtteile stärker an den Stadtkern im Norden anzuschließen, den Hafen dabei ein Stück zur Seite zu schieben und Wohnfläche zu gewinnen. Ob nun mit Brücken, Unis oder Sportwettbewerben – die Idee scheint immer die gleiche zu sein.

Was Berlin und Hamburg bei der Bewerbung unterscheidet

Vielleicht ist das ein Unterschied zwischen der Berliner und der Hamburger Olympiabewerbung: In Berlin begriff man die Olympischen Spiele als Imagekampagne. Für die Zeit, wenn sich mit den Geschichten von Mauerfall, geteilter Stadt und guten Partys keine Touristen mehr in die Stadt locken lassen. In Hamburg werden Olympische Spiele als Werkzeug zur Stadtentwicklung verstanden. Als Hilfsmittel, die alten Pläne endlich einmal umzusetzen. Das klingt dann gelegentlich so, als wäre da eine Brache in bester Hamburger Stadtlage, die man nur bebauen müsste.

Aber so richtig brach liegt das hier gar nicht. An einem Dienstagnachmittag ist die Fläche, wo in neun Jahren das Olympiastadion stehen soll, sogar ganz schön voll. Voller Autos, die von hier verschifft werden. Außerdem Maschinen, Schwergut und Südfrüchte. Bananendampfer legen hier an, Hamburg ist der wichtigste deutsche Hafen für den Import von Früchten aus Übersee. Gut 1000 Menschen arbeiten hier, das Gelände gehört der Hamburger Hafenbehörde, einer Anstalt öffentlichen Rechts. Den ansässigen Unternehmen wurde zugesagt, dass sie gleichwertige Ersatzflächen bekommen werden, Details müssen noch verhandelt werden.

Natürlich geht es um Geld

Natürlich geht es um Geld. Um die Frage, wie viel der Umzug kosten wird. Zahlen wird wohl die Stadt, das steht zumindest in einer Absichtserklärung vom Anfang des Jahres. Die Summe aber ist unklar, wie insgesamt nicht klar ist, wie viel die Spiele in Hamburg am Ende kosten würden. Neue Schulden will die Stadt nicht aufnehmen, stattdessen die Flächen im Olympiaviertel anschließend verkaufen. Am Ende also eine schwarze Null?

In der Vergangenheit wurde öfter die Summe von 6,5 Milliarden Euro genannt, von denen der Bund den Großteil zahlen würde. Andere Schätzungen gehen von einem zweistelligen Milliardenbetrag aus. Zumindest bei den laufenden Kosten der Bewerbung springt der Bund schon jetzt ein: mit 30 Millionen Euro, wie der Haushaltsausschuss des Bundestages vor Kurzem entschied. Das entspricht rund der Hälfte der kolportierten Bewerbungskosten. Die ersten zehn Millionen könnten schon im Juni überwiesen werden. Die andere Hälfte sollen die Hamburger Wirtschaft und die Stadt beisteuern. Verbindliche Zahlen gibt es da aber noch keine.

Von den prognostizierten Gesamtkosten jedoch dürfte auch abhängen, wie die Hamburger Bürger bei einem Referendum Ende des Jahres abstimmen werden. Als Termin war bisher der 29. November geplant. Aber auch die Hamburger Olympia-Kritiker machen längst mobil und planen zwei Volksinitiativen. Sie drängen auf eine Verschiebung des Referendums, irgendwann 2016. Auf jeden Fall nicht, bevor nicht die Kostenfrage geklärt ist. Und selbst wenn sie das wäre: In der Vergangenheit lagen die endgültigen Kosten bei Olympischen Sommerspielen immer weit über den geschätzten. Um knapp 180 Prozent, wie eine Studie der Universität Oxford vor drei Jahren ergab. Und dennoch, oder vielleicht auch deswegen: Das letzte Wort haben in Hamburg die Bürger, wie ein Sprecher der Innenbehörde sagt. Lehnen sie die Spiele in Hamburg ab, dann wird die Stadt ihre Bewerbung zurückziehen.

Arbeiteradel. Als Ralf Vaust im Hafen anfing, löschten sie die Ladung der Schiffe noch von Hand. Vom „Kleinen Grasbrook“ hätte er schon einmal wegziehen sollen. Und jetzt? Ach ja.
Arbeiteradel. Als Ralf Vaust im Hafen anfing, löschten sie die Ladung der Schiffe noch von Hand. Vom „Kleinen Grasbrook“ hätte er schon einmal wegziehen sollen. Und jetzt? Ach ja.

© Tiemo Rink

Also eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Dazu gehört auch die Frage, wohin die Unternehmen vom Kleinen Grasbrook denn umziehen sollen. Erste Details will der Hamburger Senat in der kommenden Woche auf einer Infoveranstaltung präsentieren. Wenn es nach der Hamburger Hafen und Logistik (HHLA) geht, wird es allmählich Zeit für verbindliche Absprachen. So ein Umzug ist schließlich nicht von heute auf morgen erledigt.

Unterwegs mit dem HHLA-Sprecher, sieht der Laie auf dem Kleinen Grasbrook vor allem asphaltierte Flächen und Lagerhallen. An den Kaimauern stehen Kräne, die Bananenpaletten aus einem Schiff laden.Ein paar Kilometer weiter westlich sitzt Gunther Bonz in der fünften Etage eines Verwaltungsgebäudes, von dem aus man einen schönen Blick auf den Hafen hat. Wo, wenn es nach Bonz geht, bald die 400 Meter langen Schiffe liegen werden, für die die Elbe ausgebaut werden muss. Bonz ist Präsident des Unternehmensverbands Hafen Hamburg. Er spricht für die im Hafen ansässigen Firmen, und das durchaus deutlich. Wie zum Beispiel vor einigen Jahren, als er vorschlug, den gegen die Elberweiterung klagenden Umweltschutzverbänden die staatlichen Zuwendungen zu streichen.

Über Kosten will er eigentlich gar nicht reden

Bonz ist für die Olympischen Spiele, aber nicht zulasten der Hafenunternehmen. Und er hat schon mal zu rechnen angefangen. In einem Interview hielt Bonz für den Umzug der Unternehmen vom Kleinen Grasbrook eine Summe von fünf bis sieben Milliarden Euro für realistisch. Allein für den Umzug, die Kosten für den Bau eines neuen Stadtteils samt Sportstätten kämen obendrauf. Bonz kann recht ausführlich aufzählen, was da alles an Kosten anfallen dürfte, aber der Clou geht anders. Über die Kosten will er eigentlich gar nicht reden.

„Man sollte nicht versuchen, die Sache aus sich heraus zu rechnen. Über einen reinen Verkauf der Flächen des Olympiageländes im Nachhinein werden sich die Spiele in Hamburg niemals rechnen können“, sagt er. Bonz will über die „Vision“ Olympia reden. Über die Möglichkeit, einen neuen Stadtteil und Infrastruktur zu schaffen. Der sich auf lange Sicht zigfach rechnet. Hat doch schon mal geklappt, sagt er. Damals, als ab dem Jahr 1883 die heute hoch berühmte Speicherstadt in einem Viertel entstand, in dem bis dahin Menschen lebten. 26 000 von ihnen mussten für die Neubauten umziehen. So war das damals, warum nicht heute auch so über Olympia denken, schlägt Bonz vor. Was er nicht sagt: Damals regierte der Kaiser. Mit Volksabstimmung war da nicht viel.

Welche Art von Wohnungen durch die Spiele entstehen könnten

Anders als heute, und damit zurück auf den Kleinen Grasbrook. Hinein in die „Zwitterzone“, wie Thomas Runge das Firmengelände von „Prahl Barsoe“ nennt. Wo sie zwar von Bauarbeiten betroffen wären, aber bisher keine Entschädigung in Aussicht gestellt bekommen haben. Ein Mittelständler im Hafen, in den Lagerhallen des Nachbarn soll das Pressezentrum entstehen, in ihren eigenen Lagerhallen soll nichts entstehen. Runge ist Betriebsleiter, sein Werdegang sei früher typisch gewesen im Hamburger Hafen, sagt er, heute undenkbar.

Er wollte mal Lehrer werden, fing dann aber an mit einem Aushilfsjob im Hafen und blieb. Runge hat keine Ausbildung, kein abgeschlossenes Studium. Aber den Posten als Betriebsleiter. Olympia im Hafen? Für ihn gibt es zwei Sichtweisen, nein, eigentlich sogar drei: „Als Privatmensch finde ich das toll – Olympische Spiele direkt vor der Tür.“

Entscheidender ist für ihn aber die berufliche Sichtweise. Täglich fahren von seinem Hof rund 150 LKWs. Die sollen bitte nicht im Stau stehen. Doch Stau wird es wohl geben, wenn vor dem Werkstor demnächst ein neuer Stadtteil aus dem Boden gestampft werden soll. Stau ist sehr schlecht für eine Branche, in der es vor allem darum geht, dass Dinge von A nach B transportiert werden. Und das bitte möglichst schnell.

Man kann die Sache mit dem „Sprung über die Elbe“ nämlich auch anders sehen. Man kann sich fragen, ob es nicht gute Gründe dafür gibt, dass Wohngegend und Hafengegend in den meisten Fällen voneinander getrennt liegen. Der Hafen stinkt, macht Lärm und hält sich selten an Nachtruhe.

Teuer wohnen, wo Schiffe entladen werden?

Wer hier wohnt, sollte das akzeptieren können, findet Runge. Werden die Menschen dazu bereit sein, die nach den Spielen Wohnungen im olympischen Dorf beziehen sollen? Zu Billigpreisen werden sie ihre Wohnungen nicht bekommen können. Erst recht nicht, wenn mit dem Verkauf der Flächen die Olympia-Kosten wieder eingespielt werden sollen. Hamburg ist eine Teure-Mieten-Stadt. Die Wohnungen in Olympic-City werden aller Voraussicht nach zu den teuersten Wohnungen der ganzen Stadt gehören. Erst recht, weil der Senat angekündigt hat, einen Teil von ihnen als Sozialwohnung an Ärmere zu vergeben. Die Kosten dafür müssten aufgeschlagen werden auf die frei verkäuflichen Wohnungen. Mal angenommen, da zahlen also irgendwann irgendwelche Leute ein Heidengeld für eine Wohnung in Bestlage, direkt am Wasser. Und ein paar hundert Meter weiter werden Schiffe entladen.

Wenn ein Container in ein Schiff geladen wird, dann macht es Klonk beim Bodenkontakt, sagt Herr Runge. Wenn ein Container auf einen Container gestapelt wird, dann macht es wieder Klonk. Wenn ein Schiff Platz für 10 000 Container hat, dann ist das kein außergewöhnlich großes Schiff. 10 000 Mal Klonk, mindestens. Wie viele davon erträgt ein Wohnungseigentümer in der Nachbarschaft, bevor er durchdreht? Lärmschutzklagen schreibt? Emissionen misst? Anwälte in die Spur setzt?

Blick in die Zukunft. Hamburg nimmt im Rennen um die Spiele mit alten Plänen neuen Anlauf. Auf dem „Kleinen Grasbrook“ soll im Hafen das Olympiagelände entstehen.
Blick in die Zukunft. Hamburg nimmt im Rennen um die Spiele mit alten Plänen neuen Anlauf. Auf dem „Kleinen Grasbrook“ soll im Hafen das Olympiagelände entstehen.

© Computeranimation: Gerkan, Marg und Partner (gmp), Büro Gärtner und Christ/dpa

Sind das die Fragen, die sich am Ende stellen werden, jenseits von irgendwelchen Schallschutzwänden, die die neuen Anwohner vom Lärm der alten schützen sollen? Ein juristisches Klein-Klein unter streitenden Nachbarn? Runge sieht die Sache grundsätzlicher: „Natürlich ist das ein Verdrängungswettbewerb.“ Alte Arbeit gegen neue Arbeit. Hafenkultur gegen Bürokultur, sagt Runge, und besonders große Chancen hätten die Alteingesessenen da nicht.

Irgendwann zum Ende des Jahres wird die Hamburger Bevölkerung über die Bewerbung abstimmen.

Ralf Vaust hat sich schon entschieden. Er ist dafür.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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