zum Hauptinhalt
Beim Fußball lernen die Kinder den Unterschied zwischen dem "bad touch" und dem "good touch".

© Tobias Dammers

Projekt für Frauenrechte in Kenia: Die Opfer brechen ihr Schweigen - dank Fußball

Winnie ist neun Jahre alt, als sie im Slum in Kenia vergewaltigt wird. Zwei Jahre sagt sie nichts. Erst im Fußballcamp lernt sie, dass Mädchen Gewalt nicht hinnehmen müssen. Und steckt ihrem Trainer einen Zettel zu.

Winnie Adhiambo kann kein Aids heilen. Ihr Nachbar hat es ausprobiert, es half nichts. Er hatte Sex mit ihr, mehrmals. Winnie war damals neun. Viele Männer in ihrem Slum glauben, durch Sex mit einer Jungfrau verschwindet der HI-Virus wieder. Der Nachbar hatte sie in seine Hütte gelockt, sie sollte ihm mit dem Gaskocher helfen. Seine Hütte ist düster. Es gibt keinen Strom, keine Fenster, kein Licht. Nur kräftige Männerhände, die Winnie in der Dunkelheit festhalten. Der Nachbar missbraucht sie.

Jetzt, zwei Jahre später, flitzt Winnie über den staubigen Fußballplatz der Pandipieri-Grundschule in Kisumu. Zwei Tore, keine Netze, hartgestampfter Sandboden. Kisumu liegt tief im Westen Kenias, fernab der Touristenzentren und Safari-Parks. 30 Grad, 16-Uhr-Sonne, kaum Bäume. Winnie kommt nur selten an den Ball. Die anderen Kinder sind flinker. Sie hat ihre Schuluniform gegen ein weiß-violettes Fußballtrikot mit Löwen-Emblem getauscht. Die Haare sind kurz geschoren, sie spielt barfuß. Ein Zehennagel ist eingerissen.

Sie hat Angst vor dem Lachen der Freundinnen

Winnie schreit auf dem Spielfeld weniger als die anderen, krakeelt nicht. Sie geht jetzt in die vierte Klasse, ist ein stilles Kind. Ein schüchternes, unauffälliges Mädchen. So wirkt sie. Der Missbrauch ist ihr Geheimnis, von dem die anderen Kinder nichts ahnen. Sie will nicht „die Besudelte“ sein. Die „Missbrauchte“. Sie hat Angst vor dem Lachen der Freundinnen, Angst vor Kinderfingern, die auf sie zeigen, Angst vor dem Stigma. Deswegen heißt Winnie Adhiambo auch nicht wirklich so. So heißt sie nur in dieser Geschichte.

Trotzdem hat sie eine Entscheidung getroffen. Winnie hat ihr Geheimnis auf einen Schmierzettel gekritzelt und ihrem Trainer heimlich in die Hand gedrückt. Ein Zettel mit dünnen Linien, sie hat ihn aus einem Schulheft ausgerissen. „I was raped“, steht da. Ich bin vergewaltigt worden. Es ist das erste Mal, dass sie sich jemandem öffnet – ihre Mutter interessiert sich nicht für die Geschichte.

Für ihren Trainer, für unzählige NGOs in der Stadt und selbst für die große UNO in der Hauptstadt Nairobi ist Winnies Vertrauen ein riesiger Erfolg. Sie alle sind Teil eines NGO-Bündnisses, einer Allianz von Organisationen, die ein Pilotprojekt gegen Missbrauch, Vergewaltigungen und Gewalt gegen Frauen in Kenia aufbaut. Und Winnies Vertrauen zeigt: Das Projekt funktioniert. „Fußball ist der Magnet“, sagt Alice Wekesa vom British Council, einer Sub-Behörde des britischen Entwicklungsministeriums. Von Nairobi aus koordiniert Wekesa das Projekt. In ganz Kenia sind rund 2000 Kinder direkt beteiligt. „Mit Fußball bringen wir sie zusammen. Und über den Fußball erreichen unsere Trainer dann die Jungen und Mädchen und vermitteln gewaltlose, gleichberechtigte Prinzipien.“

Die Schüler lernen, wie man Mädchen behandeln darf – und wie nicht. Mit dem Fußball-Projekt soll erreicht werden, dass Gewalt gegen Frauen nicht mehr toleriert wird.
Die Schüler lernen, wie man Mädchen behandeln darf – und wie nicht. Mit dem Fußball-Projekt soll erreicht werden, dass Gewalt gegen Frauen nicht mehr toleriert wird.

© Tobias Dammers

Die Idee: Jungen und Mädchen spielen zusammen Fußball, lernen dabei, sich gegenseitig zu respektieren und bekommen gleichzeitig - in den sogenannten „Ausbildungssessions“ - theoretischen Input: Was ist Gewalt? Was ist Vergewaltigung? Warum sollen Männer Frauen nicht schlagen? Was kann ich dagegen tun? Wer ist besonders gefährdet? Aufklärung, Sensibilisierung und Spaß durch Fußball.

Jungen sollen lernen, ihre Maskulinität nicht mehr durch Schläge auszudrücken. Mädchen - häufig potenzielle Opfer - sollen ihre Rechte kennenlernen. Alle sollen sensibilisiert werden und melden, wenn Eltern, Fremde oder Lehrer übergriffig werden oder zuschlagen. Das klappt nicht immer. Ein paar Meter neben dem Fußballfeld, gut sichtbar durch die offenen Fenster eines Klassenzimmers, drischt ein Lehrer mit einer grünen Bambusgerte auf drei Schüler ein. Ein Trainer zuckt die Achseln, die Kinder schauen kaum hin. Ein Lehrer, das ist eine Autoritätsperson, ein Vorbild. Da stellt man keine Fragen.

Umarmen: Ja. Brüste begrapschen: Nein.

Draußen, auf dem staubigen Platz, ist Winnie endlich an den Ball gekommen. Eigentlich war es eher zufällig. Ein riskanter Fehlpass des gegnerischen Torwarts. Egal. Sie dribbelt in den Strafraum, könnte schießen, aber ein Junge des anderen Teams drängt sie ab. Spielunterbrechung. „Sehr gut“, ruft Levi, der Trainer, auf Englisch. „Seht ihr? Das war eine gute Berührung. Kein Problem, wenn ein Junge das bei einem Mädchen macht.“ Good touch, bad touch. Alle nicken, Winnie nickt. Das ist die heutige Lektion: Gute Berührung, schlechte Berührung zwischen Männern und Frauen. Was darf man? Was darf man nicht? Freundlich umarmen: ja. Brüste begrapschen: nein. Körpereinsatz beim Fußball: ja. Schlagen und Treten: nein. „Weil es ja auch wehtut“, stellt ein Junge aus Winnies Mannschaft fest.

„Infolge der Gewaltakte verarmen Frauen, Familien, Gesellschaften und ganze Nationen“, schreiben die Vereinten Nationen. Nyambura Ngugi vom UN Frauen Department hat sogar ganz genau nachgerechnet. „Rund 400 Millionen Euro kostet Gewalt gegen Frauen Kenia pro Jahr.“ Vor ihr liegt ein dicker Ordner mit Statistiken. Sie schlägt nicht nach, sie kennt die Zahlen auswendig. „Durch Verluste in der Produktivität, durch kleine Geschäfte, die Bankrott gehen, durch Schulabbrüche. 400 Millionen Euro ist ein riesiger Betrag für die Wirtschaft eines Low-Middle-Income-Landes. Es ist ein nationales Desaster.“

Das Ziel: eine neue Generation

In Kisumu, Winnie Adhiambos Stadt, stemmt sich Kevin Obware gegen dieses nationale Desaster. Es ist eine Herkulesaufgabe, elf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche - mindestens. Kevin Obware ist der Projektmanager und Mädchen für alles im Fußball-Programm. Ein kräftiger Mann, und wenn er lacht, klafft zwischen den Schneidezähnen eine breite Lücke. 47 Trainer hören auf seine Anweisungen. Innerhalb eines Satzes wechselt er fließend zwischen Englisch, Swahili und Lokaldialekt. Typ Immer-Optimist. „Unsere Mission ist simpel“, sagt er, „unsere Gesellschaft, unsere Tradition toleriert Gewalt gegen Frauen. Das ändern wir. Wir bilden eine neue Generation.“

Bei Kevin Obware laufen die Hoffnungen der NGO-Allianz zusammen. Als er die Organisationen aufzählen will, kommt er durcheinander. Es sind zu viele. Das British Council ist dabei, die panafrikanische NGO Acord, viele lokale Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, Fußballclubs aus der kenianischen Liga und sogar der englischen Premier League. Das Budget, knapp zwei Millionen Euro, stammt hauptsächlich aus englischen Entwicklungshilfegeldern. Drei Jahre lang mit Fußball gegen Gewalt. „Ziemlich innovativ in Kenia“, sagt Kevin Obware.

Während Winnie auf dem Spielfeld den „good touch“ lernt, werden die Fragen im Klassenraum komplizierter. Am Morgen wird die Gruppe geteilt, manchmal auch zwischen Jungen und Mädchen. Eine Hälfte fängt mit dem Fußball an, die anderen 20 gehen im Sitzkreis Regeln durch. Später wird getauscht. „Wenn eine Frau vergewaltigt wird, darf sie sich dann waschen?“, fragt ein Mädchen. Kniffliges Thema. Aber die Trainer sind geschult, haben etliche Seminare besucht. „Kein Waschen“, sagen sie. „Die Klamotten kommen in eine Tüte, dann geht es sofort zum Krankenhaus, dann zur Polizei. Sonst sind die Beweise weg. Alles klar?“

Armut, Drogen, Gewalt - wer kann, wohnt nicht hier

Die Botschaften des Projekts sind einfach, einprägsam. Aber nicht selbstverständlich. Die meisten Jungen wissen nicht einmal, dass es falsch ist, ein Mädchen einfach anzufassen, sagt Obware. „Und viele Mädchen ahnen nicht, dass Jungen dafür bestraft werden können.“ Die Traditionen des ansässigen Luo-Stamms, zu dem auch Winnie Adhiambo gehört, fußen auf polygamen Prinzipien und auf Regeln, die Frauen kaum Landbesitz erlauben. Sie sind abhängig von Männern, ökonomisch und gesellschaftlich.

Nach dem Fußballtraining geht Winnie zu Fuß nach Hause. Sie ist nicht mehr barfuß, sie trägt jetzt ihre roten Flip-Flops. So wie in der Schule und an jedem Tag. Sie wohnt in Nyalenda, einem Wellblech-Slum im Süden Kisumus. Es riecht nach kokelndem Müll, räudigen Hunden und einem akuten Abwasserproblem. Armut, Kriminalität, Drogen, Gewalt: Wer kann, der wohnt nicht in Nyalenda. Winnie und ihre Mutter können nicht anders.

Laut dem kenianischen Gesundheitsreport erfahren in Kisumu und Umgebung mehr als vier von zehn Frauen in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt. Mehr als im Landesdurchschnitt, deutlich mehr als im weltweiten Vergleich. Und vermutlich sind es noch viel mehr. „Sie leiden in Stille“, sagt der Frauenrechtler Steve Omondi. Mädchen oder Frauen, die niemals zur Polizei gegangen sind, die niemals nach Hilfe gerufen habe.

Auf dem Papier ist Kenias Sexualstrafrecht sehr streng

Auch deswegen ist Winnie Adhiambo ein Erfolg des Fußball-Pilotprojekts. Bis vor wenigen Wochen war Winnies Fall weder gemeldet noch registriert. Bis sie Vertrauen gefasst hatte und ihr Geheimnis auf einen Schmierzettel schrieb. „Wir helfen ihr, Gerechtigkeit zu bekommen. Die Leute müssen reden, sie müssen es herausschreien“, sagt Kevin Obware, der Koordinator. Winnies Fall ist ihm ein persönliches Anliegen. Bald soll auch die offizielle Anzeige gemacht werden. Dann könnten endlich Polizei und Justiz loslegen. Und Kenia hat eigentlich ein scharfes Sexualstrafrecht. Lebenslang für Missbrauch, mindestens 15 Jahre für Vergewaltigung.

Eigentlich. Denn genau wegen der Polizei und der Justiz bleiben viele Opfer - in Kenia werden sie „Überlebende“ genannt - stumm. Es ist ein langer Weg zur Gerechtigkeit, und ein teurer, frustrierender. Dutzende Polizisten, Dorfvorsteher, Zeugen, Anwälte und Richter säumen ihn. Dutzende von Rädchen, die ineinander greifen müssen. Kevin Obware würde nicht zugeben, dass etwas schiefläuft. Er ist vorsichtig. Einen beleidigten Polizeichef oder pikierten Politiker kann er sich nicht leisten. Das würde seine Aufgabe noch schwieriger machen.

Andere sind da deutlicher. Katastrophale Kommunikation, Korruption, Inkompetenz. Manchmal dauere es Monate oder sogar Jahre bis zur ersten Anhörung, schildert der unabhängige kenianische „Bund der Anwälte für Frauen“ die Praxis.

Die Ministerin sieht kein Problem

Monate und Jahre, die auch Winnies Nachbar nutzen kann. Nach einer Anzeige darf er - so will es das Gesetz - maximal 24 Stunden in Untersuchungshaft sitzen. Danach muss es entweder sofort zum Prozess kommen oder er wird bis dahin freigelassen. In den Monaten bis zum Prozessbeginn würde er dann wieder neben Winnie wohnen. Er könnte Zeugen und Polizeibeamte schmieren oder untertauchen. Winnie Adhiambo ahnt davon nichts.

Einen Kilometer von Winnies Pandipieri-Grundschule entfernt und acht Stockwerke höher, in einer anderen Welt mit Klimaanlagen und Vorzimmerdamen, sitzt Jennipher Kere auf ihrer pompösen Bürocouch. Sie ist die Ministerin für Gender und Sport von Kisumu County. „A big woman“ wie die Leute sagen, eine wichtige Frau. Knapp zwei Stunden muss man warten, um vorgelassen zu werden. „Die Kette der Justiz funktioniert“, sagt sie dann. „Wir trainieren unser Personal und andere Ministerien. Und in einem Komitee bringen wir alle zusammen: Polizei, Justiz, Gender, Gesundheit. Wir können jeden Fall bis zum Gericht nachverfolgen. Ein Anruf reicht.“ Sie winkt mit dem Handy. Zehn Fälle von Missbrauch und Vergewaltigung seien es pro Monat in der Stadt, sagt sie. Mehr, wenn man die entfernteren Dörfer dazurechnet. Zehn Fälle pro Monat. Winnie wäre damit eine tragische Ausnahme.

Im Herzen von Kisumu, in der Stadt, in der so selten Sex-Übergriffe stattfinden sollen, gibt es ein spezielles Behandlungszentrum für Missbrauchs- und Vergewaltigungsopfer. Das Recovery Center. Zehn Vorfälle pro Monat? „Lächerlich“, sagt John Benche, der Sozialarbeiter des Centers. „In durchschnittlichen Wochen kommen allein 35 neue Fälle zu uns.“ Pro Woche, nicht pro Monat. Inklusive Dunkelziffer schätzt Benche die Missbrauchs- und Vergewaltigungsfälle auf über 200 pro Woche. 800 im Monat. Über 9000 im Jahr. Ganz abgesehen von „bloßen“ Schlägen und Gewalt.

Erst zwei Jahre später wird sie auf HIV und Hepatitis getestet

Wenige Tage später ist auch Winnie Adhiambo im Recovery Center. Das Projekt sorgt jetzt für ihre medizinische Versorgung - zwei Jahre nach der Vergewaltigung. Sie sitzt auf einer Arztliege, ihre roten Flip-Flops baumeln in der Luft. Das sterile, weiße Papier raschelt, Winnie umklammert ihren Arm. Sie hat Angst vor diesem spitzen Ding, mit dem der Arzt ihr in die Haut piksen will. Ein Mitarbeiter vom Kinderamt begleitet sie, Winnie soll auf Krankheiten getestet werden: HIV, Hepatitis-B, Syphilis, weitere Geschlechtskrankheiten. Dazu braucht der Arzt eine Blutprobe. Die Spritze muss sein.

Hier sind sie nicht gut auf die Regierung zu sprechen. Diese finanziert das Center zwar mit, ohne ausländische Gelder wären die Ärzte aber hilflos. Dank amerikanischer Spenden werden Medikamente unentgeltlich ausgegeben. Auch die für Winnie. Sie kosten 70 Euro pro Monat. Mehr als eine Monatsmiete in Winnies Slum. Ohne ausländische Hilfe gehe gar nichts, sagt John Benche, ohne sie würde „die HIV-Rate geradezu explodieren“, da ist Benche sich sicher.

Der Arzt bringt Winnies Ergebnisse. Sie sind gut. Kein HIV, kein Hepatitis. Die kleine Infektion lässt sich therapieren und wird wieder ganz verschwinden. Zumindest körperlich wird Winnie keine Folgeschäden haben. Die Begleiterin vom Kinderamt strahlt und umarmt das Mädchen. „Alles wird gut, Winnie! Was sagst du?“

„Super“, sagt Winnie und versteckt ihre Hände in der Schuluniform.

„Darf ich im Auto vorne sitzen?“

Sie darf.

Tobias Dammers

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false