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Protest in Hong Kongs Finanzdistrikt

© REUTERS

Proteste in Hong Kong: Keine andere Wahl

Ihr Gegner ist kein einfacher, ihr Ziel ambitioniert. Die Bewegung für Demokratie in Hongkong demonstriert friedlich. Für das Recht, den nächsten Regierungschef selbst zu bestimmen. Ohne Einfluss aus Peking.

Er wirkt wie ein Revoluzzer wider Willen. Benny Tai ist schmächtig, er redet leise und bedächtig. Seine rechte Hand ist mit einer Schiene ruhig gestellt – eine Sehnenentzündung vom vielen Texten und Tippen zur Vorbereitung der Proteste gegen China, „Occupy Central“. Ihr Anführer ist, abgesehen von einer gelben Schleife auf der Brust, dem Zeichen der Bewegung, ganz in Schwarz gekleidet. Den Kopf hat er kahl geschoren. Eine in die Tat umgesetzte chinesische Redewendung: „Nichts mehr zu schneiden“ sage man, wenn einer nichts mehr geben könne, wenn keine Zugeständnisse mehr möglich schienen.

Tai sitzt in einem Café im Finanzdistrikt von Hongkong. Drei Studentinnen befragen den 50-jährigen Jura-Professor über die geplanten Aktionen. Seit Tagen demonstrieren bereits vor allem Studenten und Schüler. Am 1. Oktober, Chinas Nationalfeiertag, will die Demokratiebewegung im Land eine große Kampagne zivilen Ungehorsams starten. Ihr Ziel: das allgemeine, freie Wahlrecht durchsetzen, das China 1997 in Aussicht gestellt hatte, als Großbritannien die vormalige Kronkolonie zurückgab.

Hoffnung, Angst und Skepsis

Die Studentin Jane würde am liebsten mitmachen: „Die freie Wahl unseres Stadtoberhaupts wäre ein Meilenstein für Hongkongs Demokratie. Dafür müssen wir bereit sein, etwas zu riskieren.“ Ihrer Freundin Ceci droht Stress mit den Eltern, wenn sie an den Protesten teilnimmt. „Die warnen mich, ich dürfe nicht meine Zukunft riskieren.“ Hillary findet die Proteste zwar richtig, sagt aber: „Die können Peking nicht zum Einlenken zwingen.“

Mit ihrer Hoffnung, den Ängsten und der Skepsis repräsentieren die drei die zwiespältigen Gefühle, mit denen Asiens Finanzmetropole auf diesen 1. Oktober blickt. Doch obwohl sie sich nicht einig sind, ob man an den Protesten teilnehmen sollte oder nicht, dabei sein wollen sie in jedem Fall. „Als Reporter“, um in den Uni-Medien davon zu berichten.

Benny Tai fühlt sich inspiriert von amerikanischen Vorbildern wie „Occupy Wall Street“ und den Methoden gewaltfreien Ungehorsams, mit denen Martin Luther King gegen die Rassentrennung kämpfte. Er müsse das Vorgehen aber an die kulturellen Gegebenheiten Chinas anpassen. Die Machtprobe zwischen Hongkongs Demokratiebewegung und Peking sei vor allem ein Kampf um die öffentliche Meinung. Die Bürger leben vom finanziellen Erfolg der Stadt, sie sind stolz auf deren Spitzenstellung in Asien. Wer Gewalt anwende, das Geschäftsleben störe und so wirtschaftlichen Schaden anrichte oder Chaos auslöse, verliere die Sympathien.

Protest am Feiertag

Tai betont, es sei nicht sein Ziel, den Finanzdistrikt „Central“ durch „Occupy“ zu lähmen. Die Bewegung habe gezielt zwei Feiertage für den Protest gewählt. Er und seine Mitstreiter wollen festgenommen werden. Sie nehmen persönliche Nachteile auf sich, um „sichtbar zu machen, dass hier Unrecht geschieht“.

Mit dem Unrecht meint Tai die Einschränkung des Wahlrechts durch Peking. Sie kommt freilich im Gewand des Fortschritts daher. Bisher schlug ein Wahlkomitee aus 1200 zumeist China-treuen Bürgern den „Chief Executive“, das Stadtoberhaupt, vor. Schon das sei ein Fortschritt gegenüber der Kolonialzeit gewesen, als der britische Gouverneur das Sagen hatte, erläutert Gordon Leung, Vizeminister für Verfassungsfragen und die Beziehungen zum Festland in der Stadtregierung. Und nun, 17 Jahre nach Hongkongs Wiedereingliederung in China, biete Peking die versprochenen allgemeinen Wahlen nach der Formel „one man, one vote“ für die Kür des nächsten Chief Executive 2017 an. Das sei die erste freie Wahl in der Geschichte der Stadt.

Mit den kürzlich veröffentlichten Richtlinien schränkt China die Auswahl freilich gleich wieder ein: Antreten dürfen nur zwei bis drei Kandidaten, die das von Peking kontrollierte Wahlkomitee absegnet. Das entspreche der „historischen Erfahrung mit Hongkongs Bedürfnissen“, sagt Leung. Nach dem Abzug der Briten habe das Wahlkomitee den Chief Executive zunächst ohne Gegenkandidaten gewählt. 2005 gab es einen, 2012 zwei.

"Ich will nicht sterben, ohne gekämpft zu haben"

Einen „schmutzigen Trick“ hatte das kurz zuvor Martin Lee genannt. Der 70-Jährige gehört zu den Ikonen der Demokratiebewegung und ist eine internationale Autorität. Bill Clinton fragte ihn um Rat, ehe er Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO unterstützte. Die Freiheitsstatue und eine Büste Winston Churchills schmücken Lees Büro im Admiralty Center. Er habe gejubelt, als er die „Joint Declaration“ der Briten und Chinesen über die Zukunft Hongkongs von 1985 las, sagt Lee. Unter der Formel „ein Land, zwei Systeme“ würde die Stadt ihre Freiheiten behalten und volle Demokratie gewinnen.

Lee zieht das „Basic Law“, das Grundgesetz Hongkongs, aus der Schublade seines Schreibtischs. Darin wurden die Zusagen ausbuchstabiert. „Hier, Artikel 26: Alle Bürger haben das Recht zu wählen und zu kandidieren.“ Doch seither habe Peking „die Torpfosten immer wieder verschoben“. 1997 haben sie „uns auf 2007 vertröstet. 2004 hieß es erneut: noch nicht. 2007 folgte ein Nein für freie Wahlen 2012. Jetzt bieten sie die allgemeine Wahl an – unter der Bedingung, dass es keine freie Kandidatenaufstellung gibt.“ Das sei doch wie in Nordkorea oder im Iran. Auch dort haben die Bürger eine Stimme, die Machthaber bestimmen aber die Kandidatenlisten. „Wenn wir diese Demokratie nach chinesischer Lesart akzeptieren, wird es sich nie mehr ändern“, fürchtet Lee. Deshalb wird er sich den Protesten anschließen und notfalls ins Gefängnis gehen. Er glaubt nicht, dass Peking unter Druck nachgibt. „Aber ich will nicht sterben, ohne gekämpft zu haben.“

Die "Mutlosigkeit" der Stadtregierung

Wie es politisch weitergeht, hängt vom Legislative Council ab, dem Stadtrat. Er muss das Wahlgesetz mit Zwei-Drittel- Mehrheit verabschieden und kann – in der Theorie – Pekings Vorschlag ablehnen oder ändern. Auch der Rat wird bisher nicht frei gewählt. So weit soll es erst 2020 kommen, die Wahl des Chief Executive 2017 gilt als Probelauf. Auch im Rat haben die China-Loyalisten die Mehrheit. Ihnen fehlen aber fünf Stimmen zur Zwei-Drittel-Mehrheit. Wenn die Vertreter der Demokratiebewegung zusammenhalten, können sie die Verabschiedung der Pekinger Version des Wahlrechts verhindern. Das hätte freilich zur Folge, dass die Bürger ihr Stimmrecht wieder nicht bekommen. Bei einem Nein zu Pekings Vorschlag würde weiterhin das Wahlkomitee den Chief Executive bestimmen.

Nach dieser Vorgabe Pekings ist die öffentliche Meinung in Hongkong gespalten. Laut der jüngsten Umfrage der Universität wünschen 48 Prozent der Bürger, dass Pekings Vorschlag abgelehnt wird, 39 Prozent sind für die Annahme. Benny Tai schimpft über die „Mutlosigkeit“ der Stadtregierung. Sie müsste die Interessen der Bürger verteidigen, sich also Peking entgegenstellen. Sie habe auch das Initiativrecht, Gesetzesentwürfe zu verändern. Aber da beiße sich die Katze in den Schwanz, sagt Tai: Solange der Chief Executive von einem mehrheitlich Peking-treuen Komitee bestimmt werde, ordne er sich den Machthabern in China unter. Erst wenn die Bürger ihn frei wählen dürfen, werde er sich nach deren Wünschen richten.

Es wird wohl ein langer Kampf. Zehn Jahre, vielleicht mehr

Tai ist eine kontroverse Figur in Hongkong. Er genießt zwar viele Sympathien. „Ich stehe auf Ihrer Seite“, flüstert etwa die Bedienung, als sie den Tee bringt. Ein Geschäftsmann stoppt auf dem Weg zum Ausgang kurz und wünscht Tai mit britischem Akzent „Good luck!“ Die Gegner eines offenen Machtkampfes mit China aber hassen Tai. „Ein Dummkopf“ sei er, schimpft ein anderer Geschäftsmann. Tai mache alle Chancen auf einen Ausbau der Sonderstellung Hongkongs zunichte und liefere Peking den Vorwand, hart durchzugreifen.

Milder urteilt Soziologie-Professor Lau Siu-kai, dessen Institut in den Hügeln am nordöstlichen Stadtrand liegt. Der Vorwurf der Demokratiebewegung sei berechtigt, Peking verweigere die versprochene volle Demokratie. Man müsse aber zugleich sehen, dass China im Umgang mit Hongkong beträchtliche Risiken eingehe. Keine Stadt auf dem Festland genieße ähnliche Freiräume: völlige Meinungsfreiheit, unbeschränkten Zugang zum Internet, unzensierte Medien, ein unabhängiges Gerichtswesen.

Lau hält es für weiser, sich auf die „Wahl mit begrenzten Möglichkeiten“ einzulassen und dann an der Liberalisierung der Kandidatenkür zu arbeiten. Bei mehreren Kandidaten werden sich, selbst wenn sie vorgegeben sind, allmählich Wahlkämpfe entwickeln, die zu echten Alternativen führen.

Peking wird nicht rasch nachgeben

In einem sind sich alle einig: Peking wird nicht rasch nachgeben. So stellt sich Tai auf einen langen Kampf ein, „vielleicht zehn Jahre, vielleicht mehr“. Er ist gespannt, wie viele Menschen ihre Furcht überwinden und sich dem Protest am 1. Oktober anschließen.

Die Organisatoren werden die Genehmigung für eine traditionsreiche Demonstrationsroute beantragen, die gut drei Kilometer misst: vom Victoria Park, wo Hongkongs Bürger an jedem 4. Juni der Opfer des Massakers auf Pekings Tiananmen-Platz gedenken, nach Chater Garden, einer Betonfläche mit Skulpturen und offenen Wasserbecken im Herzen des Finanzdistrikts. Über dem Platz ragen mächtige Bankentürme wie steinerne Wächter in den Himmel.

Die Stadtverwaltung werde die Entscheidung bis zuletzt hinauszögern, erwartet Tai. Marschieren werden sie in jedem Fall und sich dann dort, wo die Polizei den Weg blockiert, auf den Boden setzen und wegtragen lassen. „Mit 1000 Leuten werden die in wenigen Stunden fertig.“ Hongkongs Polizei sei hochprofessionell. Wasserwerfer und Tränengas habe sie seit Jahren nicht eingesetzt, auch das sei ein Unterschied zum Festland. „Wenn wir aber 10 000 oder mehr sind, wird es für die Obrigkeit schwierig.“ Man brauche vier Polizisten, um einen Demonstranten wegzutragen. Hongkong habe nur einige tausend Polizisten.

Chinas Drohung, bei Chaos Sicherheitskräfte vom Festland einzusetzen, fürchtet Tai nicht. Das werde nicht geschehen. Dafür seien zu viele internationale Medien in der Stadt. Peking wolle einen Gesichtsverlust vermeiden.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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