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Spur der Steine. Gegen 109 Verdächtige wurden bis jetzt Ermittlungsverfahren eingeleitet.

© Marcus Brandt/dpa

Prozesse nach Gewalt bei G20: Worum in Hamburg jetzt wirklich gekämpft wird

Am Montag ist der erste G20-Randalierer hart gestraft worden. Das Urteil wird die Gräben in Hamburg noch vertiefen.

Es geschieht in der Nacht vor dem ersten Gipfeltag, am nordwestlichen Rand des Schanzenviertels. Die Demonstration „Welcome to hell“ steckt auf ihren letzten Metern fest. Der Zielpunkt, das besetzte Autonomenzentrum Rote Flora, ist schon in Sichtweite, davor noch eine Unterführung, und direkt davor: eine Hundertschaft behelmter Polizisten und zwei Wasserwerfer. Über Lautsprecher verkündet die Staatsmacht, dass hier kein Durchkommen sei, der Aufzug nun aufgelöst. Aus dem Lautsprecher der Demonstranten erwidert eine wütende Frauenstimme, das komme ja überhaupt nicht infrage. Man lasse sich den Weg zur Roten Flora nicht verbieten, die Polizei habe heute schon genug eskaliert! Die erste Flasche fliegt, dann spritzen Wasserwerfer, Polizisten holen mit Schlagstöcken aus, noch mehr Flaschen fliegen.

Zwei dieser leeren Glasflaschen soll Peike S., 21, aus den Niederlanden geworfen haben. Sieben Wochen später, am gestrigen Montagvormittag, muss er sich deswegen in Saal 300 des Hamburger Amtsgerichts verantworten. Seit seiner Festnahme sitzt Peike S. in Untersuchungshaft. Er ist der erste mutmaßliche Randalierer, dem nach dem G-20-Gipfel der Prozess gemacht wird. Mindestens 108 weitere sollen folgen, so viele Ermittlungsverfahren hat die Hamburger Staatsanwaltschaft bis jetzt eröffnet. Das ist wenig im Vergleich zu den mehr als 2000 Straftaten, die die Sonderkommission „Schwarzer Block“ gezählt hat. Die meisten Randalierer sind unerkannt entkommen. Und auch bei den Geschnappten ist oft fraglich, ob die Beweise ausreichen.

Der Mann, der zwei leere Glasflaschen geworfen und damit einen Polizisten getroffen haben soll, einmal am Helm, einmal am Bein, schweigt vor Gericht. Dafür spricht der Polizist. Er sagt, er habe kurz einen Schmerz verspürt, sei jedoch nicht verletzt worden. Also stürmte er los und nahm den Werfer fest. Der habe sich am Boden zur „Embryonalstellung“ verkrümmt und so der Festnahme widersetzt. Klarer Fall, urteilt das Gericht: schwerer Landfriedensbruch, gefährliche Körperverletzung, besonders schwerer Angriff auf Vollstreckungsbeamte und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Macht eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten. Der Staatsanwalt hat weniger gefordert.

Tatsächlich geht es in Hamburg gerade um mehr als die juristische Aufarbeitung von Randale. Seit jenem Wochenende im Juli wird über die Deutungshoheit darüber gestritten, wer während dieses Ausnahmezustands gut und wer böse war, welche Seite Schuld, wer das ganze Desaster zu verantworten hat. Es geht um Karrieren, die des Polizeichefs und auch des Ersten Bürgermeisters. Und es geht um das Fortbestehen der Roten Flora - plus darum, was eine Räumung mit einem ganzen Stadtteil anrichten könnte. Wie viel Straßenkampf dann erst droht.

Was war bei G 20 und was nicht? Um ihr Narrativ der Geschichte durchzusetzen, schreckt keine Seite davor zurück, die Wahrheit zu verdrehen.

Einer, der linke Proteste seit Jahren beobachtet und vor Eskalation beim Gipfel gewarnt hatte, ist Wolfgang Kraushaar. Er ist Politologe und zählt zu Deutschlands renommiertesten Protestforschern. Sein Büro liegt im bürgerlichen Stadtteil Rotherbaum in Alsternähe. „Bei diesem Gipfel gab es nur Verlierer“, sagt er. Allerhöchstens könne man überlegen, wer von den Verlierern am meisten verloren habe. Das sei für ihn Olaf Scholz, der Erste Bürgermeister. Nach dem Grundfehler, den Gipfel mitten in die Stadt zu holen, den falschen Sicherheitsversprechen vorab an die Bürger und dem anschließenden Fehler zu behaupten, es habe keine Polizeigewalt gegeben, sei Scholz nun dabei, den nächsten schweren Fehler zu begehen: Er mache Bürgern die falsche Hoffnung, dass nun die Straftäter zur Rechenschaft gezogen würden, dass damit so etwas wie Gerechtigkeit hergestellt werde. „Auch das wird schiefgehen.“ Erwartungshaltungen würden zwangsläufig enttäuscht, die meisten Täter davonkommen. Das Vertrauen in die Politik nehme so weiter ab. Wolfgang Kraushaar sagt: „Die strafrechtliche Verfolgung hat etwas Kompensatorisches, weil sie von den eigenen Fehlern möglichst ablenken soll.“

Im Rathaus wird sich am Donnerstag der Sonderausschuss des Landesparlaments konstituieren. Er soll untersuchen, ob die Strategie der Polizeiführung klug war und welche Konsequenzen aus Fehlern zu ziehen sind. Dazu gab es bereits eine Sitzung des Innenausschusses. Der Polizeichef und der umstrittene Einsatzleiter Hartmut Dudde ließen zunächst keine Fragen zu, trugen stattdessen ausschweifende Lageeinschätzungen mit längst bekannten Fakten vor, zählten noch einmal auf, welche Staatschefs zum Gipfel eingeladen waren. Die Oppositionsfraktionen fühlten sich hingehalten - und verließen, mit Ausnahme der AfD, den Saal. Selbstkritik gab's keine. Das aggressive Vorpreschen der Polizei zum Start der „Welcome to hell“-Demo? Schläge gegen bis dahin friedliche Autonome? Der Polizist, der mit seinem Kamerastativ auf einen am Boden sitzenden Demonstranten einschlug? Kommen in Duddes Version des Wochenendes nicht vor.

Einige Verfehlungen sind trotzdem schon öffentlich geworden, offizielle Darstellungen wurden widerlegt. Polizisten haben dutzendfach mit Reizgaspistolen auf Demonstranten geschossen, obwohl der Einsatzchef das untersagt hatte. Journalisten wurde zu Unrecht die Akkreditierung entzogen. Andere Reporter wurden von Beamten attackiert, manche mit dem Wasserwerfer angegriffen. In einem Fall wurde die Version der Beamten ausgerechnet durch ein Polizeivideo widerlegt.

Im Schanzenviertel, wo die Krawalle besonders heftig tobten und die Polizei über Stunden abwesend war, sind immer noch Spuren zu sehen. Zerbrochene Fensterscheiben, notdürftig mit Folie überklebt. Die Drogerie, die innen eine halbe Baustelle ist. Der Apple-Store, am schlimmsten Krawallabend binnen Minuten komplett geplündert, hat die Regale aufgefüllt, doch die angezündete Sparkasse kann erst im kommenden Jahr wieder öffnen. Ihr Eingang ist mit Gittern und einem Brett verriegelt. Eine linke Splittergruppe hat ein Poster mit Veranstaltungstipps drangeklebt. Nächster Themenabend: „Was können wir AnarchistInnen von Karl Marx lernen?“

Heißester Anwärter auf die Rolle des Hauptschuldigen ist nach wie vor die Rote Flora, das seit 18 Jahren besetzte Kulturzentrum im Schanzenviertel. Von hier aus wurden Krawallmacher aus ganz Europa zum Gipfel eingeladen, heißt es. Vielleicht wurden auch Straftaten geplant. Viele in der Stadt fordern: Die Rote Flora muss geräumt werden.

Bürgermeister Olaf Scholz, SPD, sagt, es werde definitiv Konsequenzen geben. Die CDU sagt, das sei bloß Wahlkampfgetöse. Nach der Bundestagswahl bleibe ja doch alles beim Alten. Die CDU hat schon immer gefordert, die Flora zu räumen. Nur nicht in den Jahren zwischen 2001 und 2010, als sie die Regierung stellte.

In der Flora selbst passt die Erinnerung an den G-20-Gipfel in zwei Leitz-Ordner. Sie liegen auf einem Holztisch in einem mit Regalen zugestellten Raum. Im ersten Stock des besetzten Altbaus befindet sich das „Archiv der Sozialen Bewegungen“, in dem gesammelt wird, was sonst höchstens der Verfassungsschutz aufbewahrt: Ankündigungen und Erklärungen linker Gruppen, sortiert nach Themengebieten wie „Ökologiebewegung“, „Anti-Repressionsbewegung“, „Sexualität und Herrschaft“. Jetzt eben auch: G 20.

In den Ordnern sind Flugblätter, Broschüren, Aufkleber zusammengetragen. Jedes einzelne Dokument ist, man glaubt es kaum, sorgfältig in Klarsichtfolie eingetütet. Machen so etwas Anarchisten?

Auf einem Flugblatt steht: „Im Wahnsinn der Welt das Richtige tun!“ Auf einem anderen: „In Städten mit Häfen haben die Menschen noch Hoffnung.“

Die Pressesprecher der Roten Flora möchten vorerst nicht mehr sprechen, Interviewanfragen bleiben unbeantwortet.

Ein Mann, der reden will, wartet am südlichen Ende des Schanzenviertels an einer Kreuzung. Das Stück Straße ist durch den Gipfel bundesweit bekannt geworden, hier brannten Barrikaden, in Sichtweite steht das Haus, von dessen Dach Aktivisten Steine warfen, bis das SEK mit Gewehren anrückte. Für die Dauer des Gesprächs möchte der Mann Marwin genannt werden. Er gehört einer linken Gruppe an, die seit Jahren in Hamburg aktiv ist. In der Woche des Gipfels hat Marwin an mehreren Tagen auf der Straße demonstriert. An einer Sitzblockade teilgenommen, später Bauzäune umgeworfen, Mülltonnen auf die Straße gerollt.

Steine auf Polizisten geworfen? „Nein.“

Noch Schlimmeres? „Nein.“

Marwin sagt, man brauche sich nichts vorzumachen. Wer jetzt behaupte, die Randalierer seien bloß krawallsüchtige Jugendliche aus dem Viertel gewesen, keine Linken, der lüge. Und wer sage, die Randalierer hätten nur reagiert und sich gegen die Polizeigewalt gewehrt, der lüge ebenfalls. „Randale hätte es sowieso gegeben.“

Ein bisschen habe die Linke aber doch gewonnen, behauptet er. Der Gipfel habe eine Menge junger Leute politisiert, den Linken zugespielt. „Da wächst jetzt eine neue Generation heran.“ Es seien vor allem Leute, die friedlich waren, aber brutal von Polizisten geschlagen wurden, weil sie im entscheidenden Moment nicht davonliefen. „Manche blieben sogar absichtlich stehen, um nicht verdächtig zu wirken.“

Der zweite vermeintliche Erfolg: „Wir haben gesagt, dass die Stadt einen hohen Preis für diesen Gipfel zahlen wird. So ist es gekommen.“

Vergangene Woche waren Mitglieder der SPD- und Grünen-Fraktion, die gemeinsam den Senat stellen, im Schanzenviertel unterwegs, sprachen mit Anwohnern und Gewerbetreibenden. Erkenntnis: Es gibt in der Schanze kaum einen, der eine Räumung des Kulturzentrums wünscht.

An diesem Dienstag beginnt im Hamburger Amtsgericht der nächste Prozess gegen einen mutmaßlichen G-20-Randalierer. Ein 24-jähriger Pole muss sich wegen Verstoßes gegen das Versammlungs-, Waffen- und Sprengstoffgesetz verantworten. In seinem Rucksack wurden sechs Feuerwerkskörper, ein nicht zugelassenes Reizstoffsprühgerät, zwei Glasmurmeln und eine Taucherbrille gefunden.

Marwin sagt, er wolle sich den ein oder anderen Prozess als Zuschauer anschauen. Solidarisch sein. Der nächste wirklich wichtige Termin sei aber der Samstagabend kommender Woche. Da ist in der Roten Flora ein Solidaritätskonzert der Hip-Hop-Gruppe „Antilopengang“ geplant. Als Zeichen gegen Rechtspopulismus, auch als Zeichen, dass die Rote Flora bleiben soll. Das Konzert wird über Lautsprecher nach draußen übertragen, mehrere Tausend werden kommen. Marwin hofft, dort werde sich erstmals wieder ein G-20-Gefühl einstellen. Wenn es gut läuft, sagt er, werden wieder ein paar Barrikaden gebaut. Wenn es sehr gut läuft, fliegen diesmal keine Steine.

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