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Die Bühne, die Schauspieler, ein Baum. Und viel Text. Das Stück "Urteile" von Christine Umpfenbach ist auf das Wesentliche reduziert.

© Thomas Dashuber

Reportage: Ein Theaterstück für die NSU-Opfer: Von der Last des falschen Lebens

Ihre Schauspieler sollen sich zurücknehmen, das Bühnenbild niemanden ablenken. Christine Umpfenbachs Theaterstück „Urteile“ dokumentiert das Leiden der Familien von NSU-Opfern. Nicht weit entfernt vom Münchner Gericht, wo zeitgleich der Prozess stattfindet

Sie nimmt täglich eine Sorge mit in den Schlaf, die Angst, dass ihr Projekt die Wunden der Angehörigen wieder aufreißen könnte. Noch ein paar Tage bis zur Premiere. Christine Umpfenbach, 42 Jahre, Regisseurin am Residenztheater München, sitzt unbeweglich auf einem Stuhl in einer ganz schwarz gehaltenen Halle, die Hacken fest in den Boden gestemmt, der Rücken krumm, ihr konzentrierter Blick wandert hin und her zwischen dem Manuskript in ihren Händen und zwei Männern auf der Bühne.

Die Männer, die Schauspieler Gunther Eckes und Paul Wolff-Plottegg, erzählen, wie sie nach Deutschland kamen, berichten von ihren Berufen, ihren Familien – und von einem Mord, der alles verändert. Sie erinnern sich daran, wie sie auf Knien und mit einem Spachtel das getrocknete Blut des Toten wegkratzen. Wie die Polizei ihnen verbietet, zur Leiche zu gehen. Wie nach dem Mord und dem Verdacht, die Familie habe es selbst getan, in der Stammkneipe alle aufstehen und gehen. Wie die Tochter nur wegen des Namens keine Arbeit bekommt. Wie in der Familie viele krank werden, depressiv, nicht mehr in der Lage, den Alltag zu bewältigen.

„Urteile“ – so heißt Christine Umpfenbachs dokumentarisches Theaterprojekt über die Opfer und Angehörigen der größten Mordserie in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zehn Tote zwischen September 2000 und April 2007, darunter acht türkischstämmige Händler und ein griechischer Kleinunternehmer, Opfer des selbst ernannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Erst im November 2011 kommt heraus, dass mutmaßlich Neonazis die Täter waren. Das Theaterstück basiert vor allem auf Interviews, die Umpfenbach mit Angehörigen, Freunden und Arbeitskollegen der Opfer geführt hat, aber auch mit Journalisten, Anwälten, Politikern. Nur was die Polizei sagte, durfte sie nicht verwenden.

"Ich habe große Verantwortung"

Ihr Stück handelt von den unzähligen Erniedrigungen, rassistischen Ausgrenzungen und alltäglichen Diskriminierungen, denen die Angehörigen nach den Morden ausgesetzt waren. Und es wird erzählt, wie dadurch ein allgemeines Urteil gesellschaftsfähig wurde: „Gute Leute haben einen solchen Mord ja gar nicht verdient.“ Christine Umpfenbach sitzt jetzt auf einer Holzbank vor der Probenhalle in München und schweigt für einen Moment. Ihr Gesicht ist offen, freundlich, sie ist eine ruhige, charmante Frau. Aber man sieht ihr an, an den Augen, dass es in ihrem Kopf rattert, immerzu, weil sie nichts Falsches sagen möchte, nichts, was die Opfer verletzen könnte oder zu intim wäre. Sie sagt schließlich: „Ich habe eine große Verantwortung den Angehörigen gegenüber, weil ich sie kennengelernt habe und sie mir Vertrauen geschenkt haben.“

Christine Umpfenbach, die Regisseurin des dokumentarischen Theaterstücks "Urteile". Sie sagt über ihre Art von Theater: "Ich habe gelernt, dem dokumentarischen Material zu vertrauen."
Christine Umpfenbach, die Regisseurin des dokumentarischen Theaterstücks "Urteile". Sie sagt über ihre Art von Theater: "Ich habe gelernt, dem dokumentarischen Material zu vertrauen."

© Thomas Dashuber

Am 6. Mai 2013 begann in München vor dem Oberlandesgericht das NSU-Verfahren, vergangene Woche wurde der 100. Prozesstag bewältigt. Am 10. April wird „Urteile“ in München uraufgeführt. Christine Umpfenbach konzentriert sich in ihrem Stück auf München, wo es zwei Morde gab. Am 29. August 2001 wird Habil Kilic in seinem Obst- und Gemüseladen in München Ramersdorf, am 15. Juni 2005 Theodorus Boulgaridis in seinem Geschäft für Schlüsseldienste in München Westend erschossen. Als Tatmotiv wird „organisierte Kriminalität“ vermutet, nach dem Mord an dem Griechen Boulgaridis titelt eine Zeitung: „Türken-Mafia schlug wieder zu.“ Viele Jahre durften die Familien nicht mit reinem Gewissen trauern. Immer lag die Last über ihrem Leben, dass vielleicht doch irgendwer aus der Verwandtschaft der Täter sein könnte. Diese Geschichte der Verletzungen und des Vertrauensverlustes, ist die Bürde, die sich die Regisseurin und ihr Team auferlegt haben. In der Münchner Sonne erzählt Umpfenbach vom Zweifel und der Geduld, die sie haben musste. Es hat Zeit gebraucht, bis Angehörige bereit waren, aktiv an dem Stück mitzuarbeiten. Sie haben Textfassungen bekommen und gelesen, sie haben sie alle gemeinsam besprochen, ohnehin dürfen die Familien zu jeder Probe kommen, wenn sie wollen. Umpfenbachs Plan war, dass die Hinterbliebenen an der Entstehung des Stückes Teil haben und es mitprägen.

Sie wollte nach New York

Letztens kam der Cousin von Theodoros Boulgaridis vorbei, um die Schauspieler einen pontischen Tanz zu lehren, den Boulgaridis so gerne getanzt hat, und der im Stück eine Rolle spielt. Gunther Eckes und Paul Wolff-Plottegg spielten ihm dann den Teil vor, in dem der Cousin vorkommt. „Ein unglaublich wichtiger, emotionaler Augenblick für ihn und für uns alle“, sagt Umpfenbach. Alle hatten Tränen in den Augen. Vielleicht muss man die Geschichte von Christine Umpfenbach erzählen, damit klar wird, warum gerade sie, selbst in München Ramersdorf aufgewachsen, das Vertrauen der Familien gewinnen konnte. Sie kommt aus keiner Theaterfamilie. Der Vater ist Bauingenieur, die Mutter Verkäuferin, später Abitur auf dem zweiten Bildungsweg. Die Tochter, wettkampfgeschulte Leichtathletin, will unbedingt raus aus München und nach Amerika. Am liebsten New York, Chicago, große weite Welt! Stattdessen, sie ist 16, führt sie ein Schüleraustausch in ein kleines Dorf nach Wisconsin, zwölf Meilen von der nächsten großen Stadt entfernt. Sie fühlt sich gefangen. Sie sagt, sie werde nie vergessen, wie sie am Flughafen ankommt und die amerikanische Gastfamilie am Ende der Rolltreppe sieht: „Die beiden Töchter kreischen vor Freude, sind geschminkt über beide Ohren, Luftballons in den Händen.“ Sie selbst hört Punkrock, Bad Brains oder Fugazi, trägt möglichst alte Klamotten, versteht nicht, warum man um fünf Uhr morgens aufsteht, um sich die Haare zu curlen. Sie will zurück nach Hause, aber sie bleibt, kämpft sich sozusagen aus der Familie raus in eine andere, ein kleiner Skandal. Die neue Familie ist eher mittellos, der Vater schwarz, die Mutter weiß. Er, Bauunternehmer, bekommt keine Aufträge. Umpfenbach sieht erstmals, was „versteckter und offensichtlicher Rassismus“ ist.

Christine Umpfenbach (Mitte) bei der Arbeit. Links die Schauspieler Demet Gül, Paul Wolff-Plottegg und Gunther Eckes.
Christine Umpfenbach (Mitte) bei der Arbeit. Links die Schauspieler Demet Gül, Paul Wolff-Plottegg und Gunther Eckes.

© Thomas Dashuber

Ausgrenzung wird später ein Leitmotiv in ihren Stücken sein. Nach der Rückkehr aus den USA will sie erst recht raus aus dem artigen München. Sie geht wie fast alle ihre Freunde nach dem Abitur nach Berlin. 1991 sieht sie „Die Räuber“ von Frank Castorf an der Volksbühne. Ein Stück, das sie, wie sie heute sagt, „wegbläst“. Es war „aufregendes Theater, wild, politisch, trotzdem humorvoll, intelligent, mehr Konzert als bildungsbürgerlich langweiliges Theater. Ich wollte mehr davon“. In Berlin geht sie bewusst in den Osten der Stadt, nicht an die Hochschule der Künste, sondern an die Kunsthochschule Weißensee, jobbt bei einer sozialen Jugendeinrichtung in Kreuzberg, SO 36, Mittagstisch mit anschließendem Theater für Kinder, hospitiert an der Volksbühne bei Frank Castorf und Andreas Kriegenburg, zeichnet Bühnenbilder. Jetzt, in München, Jahre später, lacht sie, als sie sich erinnert. Irgendwie ist sie intuitiv an Orte gegangen, an denen sie für ihr Leben lernte. Für ihre Art von Theater. In Weißensee diskutieren sie leidenschaftlich die Frage: Was ist Kunst? Sie sagt: „Die Ostler hatten damals eine einfache, sehr klare Idee. Es ging nicht so sehr ums Wie, sondern eher um das Was. Die Westler dagegen haben das Wie betont, Materialien, Ästhetik, das war oft wichtiger als die Idee.“

Obdachlosentheater in Berlin

Die kommende Premiere im Münchner Marstall, einer alten Backsteinhalle mit der Aura einer Kathedrale, wird zeigen, dass auch dieses Projekt Umpfenbachs auf das Wesentliche reduziert ist. Auf den Text. Über ein Leuchtband werden die Zuschauer mit den nötigen weiteren Fakten versorgt, auf der Bühne sind nur die Schauspieler und ein verzweigter Baum. Die drei Schauspieler, neben Gunther Eckes und Paul Wolff-Plottegg spielt noch Demet Gül mit, bekannt aus dem Kinofilm „Almanya: Willkommen in Deutschland“, haben die schwerste Aufgabe. <Sie müssen sich, das verlangt Umpfenbachs Konzept, total zurücknehmen: Mimik, Gestik, das ganze Handwerkzeug, womit man einer Figur einen Charakter gibt: verboten. Selbst das Sprechtempo, die Wortbetonung der Figuren, die sie spielen, haben sich die Schauspieler akribisch angeeignet. In Berlin bewirbt sich Umpfenbach Ende der Neunzigerjahre mit einer Kommilitonin auf die Leitung des Obdachlosentheaters „Ratten“ an der Volksbühne. Das Konzept, mit dem sie überzeugen, ist so simpel wie einleuchtend. Obdachlosentheater muss raus aus den hochgeschossigen Salons der Volksbühne, runter auf die Straße, um authentisch zu sein. Sie spielen unter dem „Neuen Kreuzberger Zentrum“ (NKZ) am Kottbuser Tor oder in den Jannowitz-Bögen.

Als sie später für eine Zeit in Wismar Theater macht, sieht sie eine Stadt, die im Kern saniert und restauriert ist, aber drum herum leer und verfallen. Diese Beobachtungen sind Kern ihrer Idee für das Stück „Let’s go west!“, gespielt von Laien, Betroffenen, die vom Glanz der Restauration nichts hatten, sondern arbeitslos geworden waren. In „Gleis11“, einem anderen Projekt, lässt sie wieder die sprechen, die nie gesprochen haben. Gastarbeiter. Auch dieses Stück ist ein Erinnerungsmonument, erschaffen aus den Erzählungen der Menschen. Heute sagt sie. „Ich habe gelernt, dem dokumentarischen Material zu vertrauen. Nichts dazu tun, nur das rohe Material, das hat mich elektrisiert. Eine Sehnsucht nach dem Echten.“ Umpfenbachs Sehnsucht ist im Theater von heute keineswegs mehr in einer Nische versteckt. In Berlin zum Beispiel gibt es seit einigen Jahren das erfolgreiche „Rimini-Protokoll“, eine Künstlergruppe, die Theater-, Performance und Hörspielprojekte umsetzt, und dabei immer den dokumentarischen Ansatz verfolgt.

Christine Umpfenbach
Christine Umpfenbach

© Thomas Dashuber

Das dokumentarische Theater hat eine lange und gesellschaftspolitisch bedeutende Geschichte. Das Konzept des szenischen Tribunals, ein gesellschaftspolitischer Marktplatz, wo die Zeitgenossenschaft sozusagen zur Zeitzeugenschaft wird, hat Erwin Piscator in der Weimarer Republik ins Theater eingeführt. Alfred Döblin schrieb über Piscator, er sei „episch, nicht lyrisch entflammt“. Später, nach seiner Rückkehr aus dem Exil, führt Piscator in der Volksbühne Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ auf. Auch der NSU-Prozess ist episch, er wird wohl bis 2015 dauern. Allein deshalb schon erinnert „Urteile“ an ein weiteres historisches Dokumentarstück, an „Die Ermittlung“ von Peter Weiss. Es entstand 1965 aus den Protokollen des ersten Frankfurter Auschwitzprozesses und wurde in 15 west- und ostdeutschen Theatern gleichzeitig aufgeführt. Theater in Deutschland, sagen junge Theaterleute von heute, werde überwiegend unter ästhetischen Kategorien bewertet. Über Umpfenbach und ihr Projekt ist zu hören: „In einem so lebensleeren, satten, in Formalismen dahinästhetisierenden Theaterbetrieb ist eine solche Theatermacherin erfrischend.“ Christine Umpfenbach macht sich über das klassische Feuilleton und seine Kritiker kaum Gedanken. Sie sagt, alles, was sie auf die Bühne bringe, müsse für sich sprechen. Es habe gesellschaftspolitischen Anspruch. „Aber es ist Kunst.“

Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel.
Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel.

© Kai-Uwe Heinrich

Sechsmal gehen Umpfenbach und ihr Theaterteam in den NSU-Prozess am Oberlandesgericht, 2,5 Kilometer oder 30 Minuten Fußmarsch von ihrem künftigen Spielort entfernt. Alle empfinden den Prozess als „ein ganz eigenes Schauspiel, surreales Theater“. Sie erleben, wie eine Zeugin auf dem Gerichtsflur neben „den Nazis“ steht und Kaffee trinkt. Daneben die Angehörigen der Opfer.
Die rassistischen Strukturen in der Gesellschaft und den Institutionen sind Umpfenbachs Kernthema. Es geht ihr, wie sie sagt, „um das Exemplarische, nicht um biografische Einzelheiten“.
Und die Angst, von der sie sprach, die Angst, die Angehörigen mit dem Stück wieder in die Öffentlichkeit zu zerren und erneut zu verletzen? Christine Umpfenbach schweigt lange, dann lächelt sie, und sagt< schon viel entspannter: „Ich begegne dieser Angst einfach jeden Tag. Aber ich war von Anfang an davon überzeugt, dass dieses Projekt richtig ist.“
"Urteile. Ein dokumentarisches Theaterprojekt für die Opfer des NSU in München." Premiere am 10. April, 20 Uhr, Im Marstall.

Der Autor ist Redakteur für besondere Aufgaben im Tagesspiegel.

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