zum Hauptinhalt
Er habe "nur Schweizer Tiere, fremde Rassen gibt es bei mir nicht", sagt Bergbauer Samuel Graber. Seine Berggemeinde ist auf den kantonalen Finanzausgleich angewiesen.

© Thomas Hodel

Schweizer Angst: Unter uns

„Die kaufen unsere Häuser, Wiesen und Wälder.“ In dem kleinen Schweizer Dorf Horrenbach-Buchen haben sie Angst vor den Ausländern. Deshalb haben sie kürzlich gegen die Zuwanderung gestimmt. Mit 93,6 Prozent. Das ist Landesrekord.

Der Bergbauer steht vor seinem Hof, mit beiden Beinen fest auf der schneebedeckten Erde. Der Misthaufen dampft, im Stall stehen zwölf Kühe. „Mein Hof liegt auf einer Kuppe, von vorne kommt der Wind, von hinten kommt der Wind“, sagt Samuel Graber und krault sich den grauen Bart. Dann dreht sich der 53-Jährige um und öffnet das Tor zum Stall. Das helle Fell der Tiere glänzt, nur ein dunkles ist zu sehen. „Ich habe Simmentaler Kühe, Reinzucht“, sagt Graber, stapft an den Trögen vorbei. „Nur Schweizer Tiere, fremde Rassen gibt es bei mir nicht.“

Horrenbach-Buchen im Berner Oberland. Die Gemeinde, 1712 erstmals urkundlich erwähnt und an der höchsten Stelle 1954 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, kann seit dem 9. Februar 2014 einen nationalen Schweizer Rekord für sich reklamieren. Es ist ein Rekord, der Samuel Graber und fast alle anderen 260 Bewohner des armen, abgeschiedenen Landstrichs mit Stolz erfüllt: Bei der Volksabstimmung gegen die „Masseneinwanderung“ gingen 125 Bürger zur Urne, 117 von ihnen sagten Ja, das sind 93,6 Prozent, nur acht votierten mit Nein.

Das Resultat kam zustande, obwohl hier oben nur zwei Ausländer leben. Nirgendwo sonst in dem kleinen, reichen Land im Herzen Europas mit acht Millionen Einwohnern fand die Anti-EU-Initiative der rechtsnationalen Schweizerischen Volkspartei (SVP) so viel Zuspruch wie in Horrenbach-Buchen. Nirgendwo sonst in Helvetiens Gemeinden glauben vergleichsweise so viele Menschen, dass man die Zuwanderung aus der Europäischen Union begrenzen soll. Als Folge der Initiative droht dem Abkommen der Eidgenossen mit der EU zur Personenfreizügigkeit das Aus.

In Brüssel, Berlin und Paris lösten die Schweizer einen Sturm der Entrüstung aus – die EU setzte Verhandlungen mit dem Nicht-EU-Mitglied Schweiz über Förderprogramme auf Eis. Samuel Graber hält das für eine leere Drohung. „Die EU wird nicht eine ihrer besten Milchkühe schlachten“, knurrt der Bauer und fragt: „Die Schweiz zahlt doch kräftig in die EU-Kasse ein? Oder?“ Sonnenstrahlen fallen schräg auf den Graber-Hof. Die Luft ist klar. Die Berner Alpen schimmern in ihrem Winterkleid. In der Ferne ragt das Stockhorn in die Höhe.

Neben dem alten Graber baut sich der Jungbauer auf. Roger Graber stützt sich mit einer Hand auf die Mistgabel, führt mit der anderen Hand eine Zigarette an den Mund. „Ja, sicher, ich habe auch für die Initiative gestimmt“, sagt Roger. Der Vater nickt zufrieden. Derweil tischt die Frau des Bergbauern Kaffee in Gläsern auf. Und eine Flasche Schnaps. Selbst gebrannt.

Für den alten Graber markieren die 93,6 Prozent Zustimmung für die SVP auch einen persönlichen Triumph. „Ich politisiere für die SVP im Berner Kantonsrat“, sagt er, und seine Stimme klingt hart. Die Tonlage erinnert an den nationalen Anführer der SVP, den Zürcher Milliardär Christoph Blocher. Graber und Blocher, beide geben die gleichen Parolen aus: Die Schweiz den Schweizern. 80 000 Migranten pro Jahr? Nein.

Graber und Blocher, beide haben einen Migrationshintergrund. Grabers Vorfahren kamen 1648 aus Südtirol ins Berner Oberland. Blochers Familie stammt väterlicherseits aus Württemberg, der erste Blocher überquerte bei Basel die Grenze in die Eidgenossenschaft. „Jene, die damals in die Schweiz kamen, waren weder kriminell, noch kamen sie in solchen Mengen“, sagte Blocher in einem Interview.

Mitten in Horrenbach-Buchen wartet Urs Wandfluh, der Gemeindeverwalter. Wandfluhs Wollmütze reicht bis an die Nase, in dem schmalen Gesicht steht ein grauer Bart. „Haben Sie gut zu uns hergefunden?“, fragt der Gemeindeverwalter etwas besorgt. Zwei Straßen führen nach Horrenbach-Buchen: Die Staatsstraße Steffisburg-Homberg-Teuffenthal und die Route Schwarzenegg-Eriz-Innerhorrenbach. An vielen Stellen verengen sich die Bergpisten auf zwei bis drei Meter. Unkundige Fahrer wagen nur Schritttempo.

Wandfluh zeigt auf ein weißes Haus mit Holzverkleidung. „Da haben wir unsere Gemeindeverwaltung drin“, sagt er. Vom Gemeindehaus liegen die nächste Bushaltestelle und das nächste Geschäft rund eine Stunde Fußmarsch entfernt. „Wir leben hier einsam“, sagt Wandfluh und schaut auf die leere Dorfstraße. Früher unterrichtete ein Dorflehrer die Kinder aus Horrenbach-Buchen in dem Gemeindehaus, die Schule musste schließen. Zu wenige Schüler.

Laut Gemeindechronik schrumpft die Bevölkerung seit Jahrzehnten. Im Jahr 1930 lebten noch 360 Männer, Frauen und Kinder auf den Höfen. Heute sind es 100 Menschen weniger. Viele Männer verdienen ihren Unterhalt als Bauern, bei der Milchsammelstelle, im Sägewerk oder auch mit den wenigen Touristen, die sich hierher verirren. Die Frauen führen den Haushalt, einige haben unten im Tal einen Job gefunden.

"Wir sind nicht fremdenfeindlich", sagt die Irin.

Schön, aber arm. Bald würden die Ausländer auch in einem Ort wie Horrenbach-Buchen Höfe, Wälder, Wiesen aufkaufen, wenn man sie ließe, fürchten die Einheimischen - und sorgen schon mal vor.
Schön, aber arm. Bald würden die Ausländer auch in einem Ort wie Horrenbach-Buchen Höfe, Wälder, Wiesen aufkaufen, wenn man sie ließe, fürchten die Einheimischen - und sorgen schon mal vor.

© Thomas Hodel

Während in den meisten Teilen des Kantons die Wirtschaft ordentlich läuft, gilt Horrenbach-Buchen als arm: Die Berggemeinde bezog 2011 rund 2200 Schweizer Franken (knapp 1800 Euro) für jeden ihrer Einwohner aus dem kantonalen Finanzausgleich – kein anderer Ort in Bern beanspruchte die Solidarität der anderen so stark wie Horrenbach-Buchen.

Urs Wandfluh geht nun über den weißen Schneematsch zum Gemeindehaus. „Wir haben genug Ausländer, irgendwann müssen wir die Handbremse ziehen“, sagt er ruhig, fast ein wenig scheu. Warum aber stellt sich ausgerechnet Horrenbach-Buchen, eine Gemeinde mit einem Ausländeranteil von nur einem Prozent, so stramm hinter die SVP-Pläne? Wandfluh glaubt die Antwort zu kennen: „Die Ausländer werden irgendwann kommen, dann kaufen sie unsere Häuser, Wiesen und Wälder. Das wollen wir nicht.“ Das Ja zur SVP – für die Menschen in Horrenbach-Buchen ist es Vorbeugung gegen drohendes Unheil. Man wappnet sich früh.

Im ehemaligen Schulhaus wartet Hans Saurer. Der Bergbauer, wettergegerbtes Gesicht, Schnäuzer, harter Händedruck, machte auch sein Kreuz für die SVP-Initiative. „Wir auf dem Land stimmen eher bürgerlich ab“, sagt der 50-Jährige. Saurers Freundin kommt aus Deutschland, Merzig im Saarland. Das Paar sieht sich nur am Wochenende. Während der Woche lebt und arbeitet die deutsche Freundin im Tal. Saurer war ganz früher mit einer Schwedin liiert. Dann heiratete er eine Schweizerin. Doch die verließ Horrenbach-Buchen wieder. Es war zu einsam. Jetzt lebt Saurer mit seiner alten Mutter auf dem Hof, rund einen halben Kilometer von seinem nächsten Nachbarn entfernt. Saurers Vater starb sechs Tage nach der Abstimmung gegen die „Masseneinwanderung“. Der alte Saurer wurde 92 Jahre. Der junge Saurer lässt keinen Zweifel an der SVP-Initiative aufkommen: Die kleine Schweiz könne so große „Massen“ von Ausländern nicht stemmen. Einer von vier Einwohnern sei Ausländer. Zu viel. Dann aber gibt Saurer zu: „Wir hier oben müssen keine Angst vor den Ausländern haben. Zu uns kommen sie ja nicht.“

Doch vor gut 15 Jahren wären beinahe viele Ausländer gekommen. Der Kanton Bern plante damals ein Asylbewerberheim mitten in Horrenbach-Buchen. Die Einheimischen wurden nicht gefragt. Doch nachdem die zuständigen Beamten sich in der Gemeinde umgesehen hatten, nahmen sie schnell Abstand von ihrer Idee. Den Fremden sei Horrenbach nicht zuzumuten – es liege zu weit in den Bergen.

Die Abgeschiedenheit schreckte Christine Clare nicht ab. Sie zog vor fünf Jahren ins Dorf, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im alten Schulhaus. Ihre Vorfahren flüchteten im 19. Jahrhundert aus Irland. Die große Hungernot auf der Insel, die damals unter britischer Herrschaft litt, zwang Christine Clares Ahnen zum Verlassen der Heimat. Sie landeten schließlich in der Schweiz.

Christine Clare gehört zu der winzigen Minderheit, die gegen die SVP-Initiative votierte. „Toleranz macht glücklich“, sagt sie und streicht ihr langes, braunes Haar aus dem Gesicht. Christine Clare reist leidenschaftlich gerne um die Welt, sie arbeitete ein Jahr lang auf einer Kaffeeplantage in Nicaragua. Heute ist sie in der Klinik Soteria in Bern beschäftigt. Dort, in dem „milieutherapeutischen Zentrum für junge Menschen in psychotischen Krisen“, hat sie viele Deutsche als Kollegen. Die Deutschen, so versichert sie, „sind alle sehr nett“. Die lustigste Kollegin kommt aus Österreich. „Ohne die Ausländer, ohne die Deutschen, würden Teile der Schweizer Wirtschaft zusammenbrechen“, da ist sich Christine Clare sicher.

Wieso konnte sich die SVP mit ihrer „Abschottungsinitiative“ dennoch durchsetzen? Die SVP sei präsent vor Ort, sagt Christine Clare. Die Partei nehme die Ängste der Menschen ernst. „Auch wenn die Ängste nicht begründet sind. Das Ja für die Initiative war für viele Menschen eine emotionale Entscheidung.“ Doch eins stellt sie klar: „Wir hier in Horrenbach-Buchen sind nicht fremdenfeindlich.“

Neben Christine Clare sitzt ihr Ehemann, der Künstler Heinrich Gartentor. Dunkle Hose, dunkles Hemd, dunkle Brille, die Haare leicht zerzaust. Gartentor erzählt eine sehr persönliche Geschichte. „Mein Bruder leidet unter multipler Sklerose. Er hat einen Pfleger aus der Slowakei, der ist rund um die Uhr erreichbar“, berichtet er. „Wenn der Pfleger aus der Slowakei, einem EU-Land, nicht mehr kommen darf, wäre das das Todesurteil für meinen Bruder.“ Denn die Schweizer schrecken vor dem harten Beruf des Pflegers zurück.

Draußen auf der Dorfstraße toben Kinder, darunter ein dreijähriger Junge. Er hat schwarze Haare, braune Haut. „Das ist mein Sohn“, sagt Moya Toca, geborene Siegenthaler. Die Frau wuchs in Horrenbach auf, sie zeigt ihr Elternhaus. Das wuchtige hölzerne Gebäude mit drei Etagen stammt aus dem Jahr 1847.

Moya ist mit einem dunkelhäutigen Kubaner verheiratet. Ihr Ehemann erhielt die Schweizer Staatsbürgerschaft, arbeitet in einer Weinhandlung in Thun. „Nein, mein Mann will nicht über die SVP-Initiative reden“, lässt Moya wissen. „Das Thema Ausländer ist zu sensibel für ihn.“ Moya muss zurück ins Haus. Bevor sie geht, gibt sie noch einen Tipp. „Der Holländer“, sagt sie, „ist ein echter Ausländer, vielleicht will der ja was sagen.“ Der Weg zum Holländer führt durch ein tiefes Tal mit einem reißenden Bach, an Höfen vorbei, dann hoch hinauf auf einen bewaldeten Hügel. Hinter einem Bretterzaun steht das Chalet des Holländers. Links neben der Tür prangt ein Schild mit dem Wort: „Paradijs“. Vor anderthalb Jahren zogen der Holländer und seine Schweizer Frau hier ein. Beide arbeiten als Therapeuten in einer Rehaklinik, unten im Tal.

Der Holländer heißt Rufus Deurwaarder und besitzt die niederländische Staatsbürgerschaft – er ist einer der beiden Ausländer in Horrenbach-Buchen. Wie fühlt er sich jetzt in einem Ort, in dem beinahe alle Einwohner die Zahl der Fremden begrenzen wollen? „Ich fühle mich gut. In Deutschland, Frankreich und auch in den Niederlanden hätten die Menschen genauso abgestimmt wie hier in der Schweiz“, sagt Rufus im behäbigen Berner Tonfall. Dann schaut der Mann aus den Niederlanden aus dem großen Fenster auf die schneebedeckten Berge, die Bäume und Wiesen.

Die Sonne sinkt. „Horrenbach ist jetzt meine Heimat“, versichert Rufus. „Ich hätte auch mit Ja gestimmt.“

Erschienen auf der Dritten Seite. Weitere Reportagen finden Sie hier.

Jan Dirk Herbermann

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false