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Auf die Spitze. Die Petition „Rettet das Staatsballett“ zählt bereits rund 18 500 Unterschriften. Und das Ensemble steht offenbar geschlossen dahinter.

© Carlos Quezada

Streit am Berliner Staatsballett: Eine Rebellion auf Zehenspitzen

Seit Choreografin Sasha Waltz in Berlin das Staatsballett modernisieren soll, formiert sich der Widerstand – und den Ballerinen läuft die Zeit davon.

Ballettskandal in Berlin! Tim Renner, einst Mitglied der Punkband Quälende Geräusche, Rammstein-Miterfinder und Pop-Professor, ist zur „Nussknacker“-Premiere gar nicht erst erschienen. Vielleicht hatte er, auch bekannt als Staatssekretär für kulturelle Angelegenheiten des Landes Berlin, Angst vor quälenden Geräuschen. Sasha Waltz vermied es ebenso, das Ensemble auf der Bühne zu sehen, das nun bald ihr Ensemble werden soll.

So stand der Regierende Bürgermeister Michael Müller schließlich ganz allein im Konzert der Pfiffe und Buhs. Feindliche Spruchbänder wurden gezeigt, schon draußen vor der Deutschen Oper. Es kam auch zu verbalen Übergriffen, etwa so: „Renner, du Penner!“ oder „Waltz weg, Malakhow back!“

Nicht schön, gar nicht schön.

Aber welche Zwischenrufe bei welchem Ballettskandal der Geschichte waren jemals feinsinnig? „Gebt ihr bald Ruhe, ihr Nutten aus dem 16. Arrondissement?“, rief einst vom Rang des Pariser Théâtre des Champs-Élysées ein Komponist in eine miauende und grunzende allgemeine Unruhe. Das Publikum lachte schon, bevor der Vorhang hochging, denn es sollte etwas Neues sehen. Nun brüllte das 16. Arrondissement, das Viertel der Reichsten, zurück: „Ihr seid reif für die Annexion!“ Das wiederum zielte auf die Herkunft des zwischenrufenden Komponisten, er stammte aus dem Elsass.

Der Aufruhr dauerte drei Tage - dann war "Tannhäuser" durchgefallen

Nicht schön, gar nicht schön. Die Uraufführung von Strawinskys Ballett „Le Sacre du Printemps“ am 29. Mai 1913 ging unter im Tumult.

Oder nehmen wir Richard Wagners Pariser „Tannhäuser“-Premiere 1861. Jede Oper, die damals in der Kunsthauptstadt der Welt zur Aufführung kam, hatte ein Ballett am Beginn des zweiten Aktes. Aber meine nicht, ich bin Richard Wagner, sagte Wagner. Der Jockey-Club, das organisierte Pariser Schnöseltum, hatte seine Pfeifen lange vor dem 13. März 1861 gekauft. Es erschien ohnehin meist erst zum Beginn des zweiten Aktes. Der Aufruhr dauerte drei Tage. Dann war der „Tannhäuser“ durchgefallen.

So etwas kann passieren, wenn man sich in unfreundlicher Absicht einem Ballett nähert.

Die Petition „Rettet das Staatsballett!“ zählt inzwischen rund 18 500 Unterschriften, darunter sind namhafte Künstler aus dem In- und Ausland. Es gibt auch eine englische, französische, russische, spanische, italienische und japanische Version. Da formiert sich eine Art von weltweitem Widerstand. Der Tanz ist zwar stumm, aber seine Sprache ist international.

Und das alles, weil Berlins Regierender und sein Kulturstaatssekretär die gefeierte Choreografin Sasha Waltz und den schwedischen Ballettdirektor Johannes Öhman zur künftigen Doppelspitze des Staatsballetts ernannt haben?

Der Blick der Ballerinen Nadja Saidakowa und Elinor Jagodnik bestätigt diese Vermutung auf kälteste Weise.

Aber das können doch unmöglich 18 500 Sasha-Waltz-Feinde sein? An dieser Stelle lächeln die Tänzerinnen ein die Dummheit der Frage verzeihendes hauchzartes Natürlich-Nicht. Auch sie selbst würden gern mit Sasha Waltz arbeiten. Bloß nicht immer. Denn man stamme von verschiedenen Sternen. In den Berliner Sophiensälen begann der Ruhm der Neuerfinderin des Tanztheaters Sasha Waltz, sie hatte immer wieder gedroht, die Stadt wegen ungenügender Unterstützung zu verlassen. Das Problem wäre also teilgelöst.

Im Augenblick kommen Nadja Saidakowa und Elinor Jagodnik von der Vormittagsprobe. Mittagspause für zwei real existierende Feen, die den Boden schon berufshalber gewöhnlich nur mit den Zehenspitzen berühren, die nirgends anstoßen, deren Bewegungen nichts davon ahnen lassen, dass fast alle Dinge und Verhältnisse Ecken und Kanten besitzen. Ihre bloße Existenz scheint ein Widerruf der Schwerkraft. Biegsamer, anschmiegsamer ist niemand, wenn es sein muss, aber jetzt ist davon nichts übrig. Zwei Stahlfedern. Und die Auskunft lautet: Nein!

"Im ersten Jahr habe ich nur geweint"

Am Abend zuvor hat Elinor Jagodnik wieder im „Nussknacker“ getanzt, vor ausverkauftem Haus wie fast bei jedem klassischen Ballett. Das schafft der moderne Tanz längst nicht. Ein Tag Pause, dann hat „Giselle“-Wiederaufnahme, das Ballett, das Nadja Saidakowa als kleines Mädchen in einer Stadt im tiefsten Ural im Fernsehen sah, und danach war alles entschieden: So wollte sie auch tanzen können. Bei der Französin Elinor Jagodnik war es „Schwanensee“ an der Pariser Oper. Und es war noch viel mehr, für beide: Es war das Ende ihrer Kindheit.

„Im ersten Jahr habe ich nur geweint“, sagt Elinor Jagodnik. Zu ihrem größten Glück, zu ihrem größten Unglück hatte die nationale Ballettschule in Marseille die 12-Jährige genommen. An jedem Freitagabend flog sie nach Hause, nach Paris, und wollte gar nicht erst schlafen gehen, denn die verschlafene Zeit würde ihr fehlen am Zuhausesein. „Du warst zwölf? Ich war neun!“, fällt die erste Solotänzerin des Staatsballetts ein. Nadja Saidakowas Schule stand in Perm, Ural. Ein anderer Name für das gefühlte Sibirien. Und kein Flugzeug brachte sie am Wochenende nach Hause. Es gab kein Wochenende.

Immerhin haben sie selbst gewollt, was sie kaum aushielten. Ist es denn möglich, dass Selbst- und Fremdbestimmung so bis zur Ununterscheidbarkeit ineinanderfallen? Die kindliche Biografie eines Punks sah gewöhnlich anders aus: Ich weiß, was ich nicht will - schon falsch, noch einmal: Ich weiß, dass ich gar nichts will, aber das will ich mit ganzer Kraft!

Wie großartig! Wie befreiend!

Natürlich tragen auch Nadja Saidakowa und Elinor Jagodnik eine Punk-Seele in sich, eine immer wieder unterdrückte Punk-Seele. Der Unterschied ist nur: Sie könnten Punk tanzen, Tim Renner aber niemals „Schwanensee“. Und Sasha Waltz könnte es auch nicht. Assémblees! Attitude! Coup de Pied! Croisé! Developpé! Je-té! Nie gehört?

Es ist ganz einfach: Assembleés ist eine Art Jeté. Beim Jeté schnellt ein Bein nach vorn, zur Seite oder nach hinten und fällt auf denselben Fuß zurück, während das andere Bein gebeugt wird. Das hochgeschnellte Bein muss selbstverständlich auf der gleichen Stelle aufkommen. Beim Assemblées ist das genauso, nur dass sich beide Beine in der Luft treffen und nachher in die 5. Position zurückfallen. Alles klar?

"Das ist, als würde man einen Tennistrainer zum Fußballcoach machen"

Schon berufshalber scheinen sie den Boden nur mit Zehenspitzen zu berühren
Schon berufshalber scheinen sie den Boden nur mit Zehenspitzen zu berühren

© Berliner Staatsballett

Die Berufung von Waltz und Öhman sei „leider zu vergleichen mit der Ernennung eines Tennistrainers zu einem Fußballtrainer oder eines Kunstmuseumsdirektors zu einem Chefdirigenten“, heißt es in der Petition des Staatsballetts. Vielleicht möchten Nadja Saidakowa und Elinor Jagodnik diese, nun ja, etwas unfreundliche Formulierung gern zurücknehmen?

Die Ballerinen schnellen in den Stahlfeder-Modus zurück. Nein, möchten sie nicht.

Ein wenig relativieren?

Nein, das möchten sie auch nicht.

Es braucht eine Weile, bis man begreift, dass die Formulierungen der Petition eher Kinder der Höflichkeit sind. Elinor Jagodnik wird jetzt deutlicher. Es wäre so, als würden die Berliner Philharmoniker künftig nur noch Jazz spielen. Nicht, dass sie das nicht könnten. Nicht, dass ihnen das keinen Spaß machen würde. Aber dafür brauche man kein Sinfonieorchester. Und vor allem: Dafür müsse man auch keins bezahlen.

Nadja Saidakowa und Elinor Jagodnik blicken ihr Gegenüber erwartungsvoll an. Müssen sie wirklich erklären, wer sie sind? Ein Weltspitzen-Ensemble wie die Philharmoniker. Ihre Instrumente sind ihre Körper, es sind verletzliche und zudem sehr vergängliche Instrumente. Sie können nicht wie ein Orchestermusiker noch mit 60 darauf spielen. Keine Laufbahn ist kürzer als die eines Tänzers. Vielleicht darum bekommen sie nur Ein-Jahres-Verträge. Und welcher Weg liegt hinter ihnen, bis sie ihn endlich haben.

600 bewerben sich - zwei werden genommen

Wissen Sie, wie viele Tänzer und Tänzerinnen sich jedes Jahr bewerben?, fragt Elinor Jagodnik, um die Zahl im selben Atemzug zu nennen: fast 600 - von denen vielleicht zwei, drei genommen werden!

Es ist eine gnadenlose Selektion, Runde um Runde. Selektion? Die Französin hält inne, sie weiß, dass dieses Wort im Deutschen noch einen mörderischen Beiklang hat, und doch, es trifft die Kälte des Vorgangs. Jede trägt eine große Nummer auf der Brust und hat nur vor einem Angst: dass diese Nummer genannt wird, vielleicht gleich, vielleicht erst nach zwei Stunden, wenn von mehr als hundert Tänzerinnen nur noch eine Handvoll übrig ist. Die Zahl am Trikot zu hören heißt: Danke für Ihre Mitwirkung und alles Gute für die Zukunft! Elinor Jagodnik war die 96. Sie tanzte immer weiter, und am Ende war sie eine von 12. Das hieß zwar „bestens geeignet“, ja ganz hervorragend geeignet, aber noch immer nicht „genommen“. Doch die Finalistin Elinor Jagodnik hatte Glück an jenem 8. Januar 2006.

Wenn die Ballerinen über Tim Renner sprechen, dann nie ohne ein sich maliziös schlängelndes Lächeln im Mundwinkel: Wir seien ein Markenprodukt, aber noch entwicklungsfähig, habe Renner beim ersten Gespräch gesagt, wir würden uns aber weigern, unser Produkt zu verbessern! Die erste Solotänzerin des Staatsballetts und die Gruppentänzerin sehen sich mit hochironischem Erstaunen an.

Produkt! Der Sound der Verwertung. Dass selbst ein Kulturstaatssekretär nur Marketingdeutsch spricht, war überraschend, ebenso wie die Tatsache, dass dieses erste Gespräch nach der Berufung der neuen Intendanz stattfand, nicht vorher. Das ging aber nicht anders, Müller und Renner mussten sich beeilen. Wer garantierte ihnen denn, dass sie nach der Berlin-Wahl noch Regierender Bürgermeister und Kulturstaatssekretär sein würden?

Der Mitgründer der Punkband Quälende Geräusche scheint wirklich zu glauben, dass das Ballett eine Reserve gegenüber dem zeitgenössischen Tanz hegt. Aber niemand, der gestern und heute von den großen Ballettschulen kommt, hat nur klassisches Ballett gelernt, im Gegenteil. Die erste Solotänzerin des Staatsballetts und die Gruppentänzerin beginnen einen Diskurs darüber, wie sich die modernen Stile in Perm und Marseille unterschieden.

Auf Sasha Waltz' Konzept warten die Tänzer noch

Die designierte Intendantin ist ihrem designierten Ensemble bis heute nicht begegnet. Ein Treffen war schon verabredet, als die Tänzer erfuhren, dass sie ihre Fragen am Vortag schriftlich abgeben sollten. Schriftlich? Am Vortag? Aber was sollten sie denn fragen, bevor sie das Waltz-Konzept kannten. Also schlugen sie vor, dass nicht sie vorher Fragen abgeben, sondern Sasha Waltz ihr Konzept. Aber sie bekamen keins, wegen Nichtexistenz vermuten die Tänzer, und sie sagten die Zusammenkunft wegen unzureichender Vorbereitung ab.

Was war denn das? Ein Verhältnis zu Gehorsam und Autorität wie in einer Punkband. Sind Tänzer nicht von Natur aus stumm? Sind Ballerinen und Ballerinos nicht Soldaten, die keinen Schritt machen, der nicht vorgeschrieben ist? Sie marschieren grundsätzlich nur auf Befehl, bloß eben auf Zehenspitzen.

Und nun sprachen die plötzlich in der Öffentlichkeit. Und dann noch aus 80 Mündern wie mit einer Stimme. Das haben sie schon im letzten Jahr getan, als sie mit der Auffassung auffielen, auch Tänzer bräuchten einen eigenen Haustarifvertrag, und zur Bekräftigung Vorstellungen ausfallen ließen.

Das ungehorsame Ensemble, das einfach Termine absagt, bekam einen tadelnden Brief von Sasha Waltz und Johannes Öhman, über den es herzlich lachen musste. Darin hieß es, künftig werden 50 Prozent der Produktionen auf das klassische Ballett „wie Schneewittchen, Schwanensee “ entfallen. Dass ihre künftigen Intendanten das Avantgarde-„Schneewittchen“ offenbar für ein klassisches Ballett halten, bestätigt ihre schlimmsten Befürchtungen.

Aufwärmen? Extremsport!

Nadja Saidakowa hat schon viele Ballettdirektoren erlebt, Elinor Jagodnik nicht ganz so viele, aber beide wissen: „Ein so großes und gutes Ensemble wie das unsere braucht jemanden, der alle Stile kennt, der unser gesamtes Können fordert. Wir könnten die Besten bekommen!“ Beide schauen sich an, im Einverständnis über die Namen, die sie jetzt nicht nennen werden.

Ja, sie gehören zu den Weltbesten ihres Fachs. Die Philharmoniker wählen ihren Chefdirigenten selbst, und sie, die Virtuosen auf zwei Beinen, haben nicht einmal den Anhauch einer Mitsprache?

Sie werden gehen, wenn Sasha Waltz kommt. Nicht aus Trotz, nicht aus Geringschätzung der Künstlerin Sasha Waltz, die den „Sacre“ 2013 aus Anlass des 100. Jubiläums der skandalumwitterten Uraufführung in St. Petersburg inszeniert hat. Sondern weil sie eine Verpflichtung haben gegenüber dem harten Weg, der hinter ihnen liegt, und der kurzen Zeit, die vor ihnen liegt.

Der Tag beginnt jeden Morgen um zehn Uhr mit dem allgemeinen Aufwärmen für alle. Aufwärmen? Extremsport! Um aber in einer Sasha-Waltz-Choreografie zu tanzen, könnten sie künftig auch den halben Tag auf der Couch liegen bleiben. Nur wären sie dann bald nicht mehr die, die sie waren. Und vor allem nicht mehr Weltspitze, körperlich.

Wer Nadja Saidakowa und Elinor Jagodnik tanzen sieht, weiß, dass es so etwas geben muss wie ein Weitergabe-Apriori. Wir sind nur Zwischenglieder. Wir geben etwas weiter von Generation zu Generation, etwas, das lange vor uns da war und noch lange nach uns sein wird, wenn wir nicht versagen. Es ist eine der schönsten Versöhnungen mit unserer Endlichkeit. Der Punk weiß davon nichts. Der Punk kam etwas nach Tim Renner zur Welt, und vielleicht wird er noch vor ihm verschwinden. Das spricht nicht gegen den Punk, jede Generation erfindet ihren eigenen.

Und nein, das klassische russische Ballett und der zeitgenössische Tanz sind keine Gegensätze. An jenem 29. Mai 1913, als ein missvergnügter Zuhörer sein „Gebt ihr bald Ruhe, ihr Nutten aus dem 16. Arrondissement?“ in das Théâtre des Champs-Élysées rief, kam der zeitgenössische Tanz zur Welt. Mit „Le Sacre du printemps“ von Igor Strawinsky stand das Tor in alle Zukünfte plötzlich weit offen.

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