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Viele Demonstranten in Hongkong haben es sich inzwischen auf den Straßen gemütlich gemacht.

© Bobby Yip/Reuters

Studentenproteste in Hongkong: Die vernünftige Revolution

Seit Wochen demonstrieren die Studenten in Hongkong. Für freie Wahlen. Gegen China. Doch jetzt bereitet die Polizei sich auf die Räumung vor. Und viele Bürger sind vom Dauerstau genervt. Hinter den Barrikaden wissen sie: Jede Minute kann es vorbei sein.

Am Samstagmorgen gegen 10.30 Uhr sind kaum Studenten auf der Straße. Die meisten schlafen noch in ihren Zelten, die auf den Fahrspuren und unter der Brücke der Harcourt Road stehen. Doch Kobe Chan ist bereits auf seinem Posten. Wenn plötzlich ein Räumkommando der Polizei käme, müsste es zuerst an ihm und seiner verschweißten Barrikade vorbei.

Der schmächtige Mann blinzelt etwas übernächtigt aus seinem schwarzem Kapuzenpulli hervor. Nein, Angst hat er nicht. Doch wahnsinnig müde ist er. Das Leben auf der Straße fordere seine ganze Energie. Wie lange er schon dabei ist? „Fast von Anfang an.“ Also seit jenem letzten Sonntag im September, den alle in der Zeltstadt immer nur „that day“ nennen. Der Wendepunkt, der aus einer friedlichen Demonstration eine Massenbewegung machte. Sofort nach Dienstschluss in der Modeboutique, in der er arbeitet, eilte Kobe Chan an diesem Tag zur Harcourt Road. Genau 51 Tage ist das jetzt her.

Wie lange er und die anderen noch auf der Straße ausharren werden, wissen sie nicht. Innenministerin Carrie Lam hat die Demonstranten vergangene Woche wissen lassen, dass sie besser aufgeben sollten. Hongkongs High Court hat die Auflösung des Camps bereits genehmigt. Die Polizei bereite sich auf eine Räumung des Areals vor. Jeden Tag könnte es so weit sein.

Vorzeitig aufgeben? Kommt nicht in Frage

Die vierspurige Harcourt Road mitten im Finanzdistrikt ist einer der wichtigsten Knotenpunkte Hongkongs. Das Regierungsgebäude liegt hier, in einem neuen Park, der durch aufgeschüttetes Land dem Meer abgerungen wurde. Die Straßen führen zu einem Tunnel, der aus dem Finanzviertel zum chinesisch geprägten Stadtteil Kowloon hinüberführt. Normalerweise. Doch seit etlichen Wochen ist der Verkehrsfluss wegen des Protestcamps unterbrochen. Es gibt noch zwei weitere, kleinere Blockaden, doch die Zeltstadt unmittelbar vor dem Amtssitz von Regierungschef Chun-ying Leung ist die wichtigste.

Vorzeitig aufzugeben, kommt für die Demonstranten aber nicht infrage. So sehr Kobe Chan sein Bett auch vermisst. Dass sie schon so lange ausgehalten haben, erfüllt sie schon allein mit Stolz. Anfangs war nur ein Sitzstreik geplant, den der Rechtsprofessor Benny Tai von der Hongkong University und zwei seiner Kollegen gemeinsam mit der Schülerorganisation Scholarism und deren Anführer Joshua Wong zum chinesischen Staatsfeiertag am 1. Oktober organisierten. Rund um den Regierungssitz wollten sie ein Zeichen setzen und forderten: Gebt uns endlich ein freies, demokratisches Wahlrecht, so wie ihr es 1997 bei der Übergabe der britischen Kronkolonie an China versprochen habt!

Der Regierungschef verweigert das Gespräch

„One country, two systems“ hatte China damals auf 50 Jahre hinaus zugesichert – ein Land, zwei unterschiedliche Systeme. Doch statt einem frei gewählten Präsidenten regiert seither ein chinesischer Statthalter. Der gegenwärtige Regierungschef der Sonderverwaltungszone ist in Hongkong umstritten. Treu auf Pekinger Linie, versucht er die Studenten mürbe zu machen, und verweigert jedes Gespräch. Die Verhandlungen überlässt er seiner steifen Vizechefin, Innenministerin Carrie Lam.

Kobe Chan schlief gemeinsam mit den Studenten die ersten Wochen auf der Straße. Anfangs hatten sie nicht mal Luftmatratzen, trotzdem dachte niemand daran, nach Hause zu gehen. Seine Mutter habe sich zwar schreckliche Sorgen gemacht, aber Kobe sagte, „ihr habt mich gelehrt nicht aufzugeben, bevor man nicht alles versucht hat. Ich bleibe“. Anfangs hatten sie nur ein paar Cracker und Wasser, gespendet von Sympathisanten. Geschlafen haben sie auch kaum. „Es war so aufregend. Und so friedlich.“

Plötzlich hielt man in Hongkong zusammen

In Hongkong, dieser hektischen Stadt, in der sich oft nicht mal Nachbarn mit Namen kennen, geschweige denn gegenseitig helfen, hielt man plötzlich zusammen. Dieses Erlebnis, sagt Kobe Chan, war für ihn das Schönste. Tausende protestierten mit ihnen, sie kamen aus allen Schichten, Altersstufen, und den entlegensten Vororten. Nach ein paar Tagen rief er seine Eltern in ihrem Vorort an und bat sie, ihn im Protestcamp zu besuchen. „Und bringt den kleinen Bruder mit.“ Der 12-Jährige sollte das auch sehen. Wie wildfremde Menschen Kisten voll Essen spenden, Medizin, Regenschirme. Musiker spielten Gitarre, Kinder tanzten im Park.

Als Kobe Chan eine Abmahnung seines Chefs bekam, musste er doch irgendwann wieder in seiner Modeboutique auftauchen. Doch nach der Arbeit kommt er Abend für Abend her, wie etwa noch 500 andere mit ihm, er schläft im Lager und hält morgens Wache. Anfangs fürchteten sie sich, in Zelten zu schlafen. Aus Angst, von der Polizei oder Gegnern der Bewegung überrumpelt zu werden. „Jeden Tag kommen Leute, die uns nicht verstehen und uns beschimpfen“, sagt Kobe. Besonders unangenehm seien die Pöbler, die sie nur die „blauen Schleifen“ nennen. Die Studenten vermuten, dass diese Unruhestifter, die gern in Gruppen auftreten, von der Regierung aufgestachelt wurden.

Massive Absperrungen

Kobe Chan wechselt sich bei seinen Wachen ab mit einem Mittvierziger, den sie im Camp nur „Onkel“ nennen, weil er zu den Ältesten zählt. Er schläft mit seinem Sohn im Zelt, einem 15-Jährigen, der die Schule in den letzten Wochen meist geschwänzt hat. Außerdem gehört noch ein 16-Jähriger zu ihrem Team, der aber jeden Morgen pünktlich um 8 Uhr zum Unterricht aufbricht. Eine schwach besetzte Truppe. Doch die Absperrungen sind massiv.

Fünf schwer befestigte Sperren sichern die Harcourt Road. Die verdanken sie einer missglückten Aktion der Polizei. Die Beamten hatten einzelne Barrikaden aufgestellt, um die Demonstranten aufzuhalten. Doch da die Gitter nicht gesichert waren, schleppten die Protestierenden sie davon und schmiedeten sie zusammen.

Kobe Chan ruft einen Freund an, Victor Ng. Wenige Minuten später kommt ein freundlicher Junge mit beiger Chinohose und grauem Kapuzenpulli, behängt mit zwei Walkie Talkies. 18 Jahre ist er alt, nicht besonders groß, spindeldürr, Pilzkopfhaarschnitt. Als die Polizei Tränengas einsetzte, habe Victor in vorderster Reihe gestanden, erzählt Kobe Chan. „Absolut furchtlos.“ Er habe gleich mehrere Ladungen abbekommen. Als er da immer noch nicht aufgab, sei er geschlagen worden. „Doch irgendwie fühlte ich mich sicher“, sagt Victor Ng. Er grinst. Sein Selbstbewusstsein und seine freundliche Art machten ihn zum Chef der „defensive troups“, rund 50 Leuten, die er „brothers“ nennt.

Angst vor dem Militär

„In den ersten Tagen hatten wir echt Angst, dass die Chinesen Militär schicken“, erzählt Victor Ng. Er und Chan erinnern sich, dass die Polizei an jenem Sonntag mit dieser Menschenmenge niemals gerechnet hätte und von der Situation offenbar völlig überfordert war. Am frühen Abend feuerten die Einsatzkräfte 87 Geschosse mit Tränengas ab – ohne jede Warnung. Die Polizei hoffte, den Willen der Demonstranten zu brechen – und erreichte nur das Gegenteil: „Ich glaube, selbst Peking konnte danach nur sagen: You fucked it up“, sagt Kobe. Ganz mies gelaufen.

Das Brillantfeuerwerk zu Ehren Chinas am 1. Oktober wurde daraufhin abgesagt, immerhin. Die Studenten forderten von der Regierung Gespräche, doch bis die Innenministerin ein paar Studentenvertreter zum ergebnislosen Austausch empfing, sollten fast vier Wochen vergehen.

Die Regeln der Demonstranten: no cash, no violence, no fights

Aus Sorge vor einem Militäreinsatz machten sich die Demonstranten daran, das Camp an allen Zugängen der Harcourt Road massiv zu befestigen. Victor Ngs Ruf als Anführer hatte sich bald herumgesprochen, eines Tages rief ihn ein Mann an, der sich als „Ex-Soldat“ vorstellte und seine Hilfe anbot. Victor Ng. willigte ein, ihn zu treffen – und wundert sich noch heute über den Auftritt des mysteriösen Helfers. Ein großer, muskelbepackter Mann mit fremdländischem Akzent, aber Kantonesisch sprechend, kam auf ihn und die Barrikaden zu und zeigte ihm, wie man Eisenstangen verschweißt. Mehrmals half der Mann zwei Stunden am Tag, dann verschwand er wieder. Wer der Mann war, wissen sie bis heute nicht.

„Versuch mal, das hochzuheben“, sagt Victor stolz und klopft auf ein Eisenungetüm, das neben dem Regierungssitz steht. Ungefähr acht Meter lang und fünf Meter tief ist das Konstrukt, aber bei Bedarf kann er es mit sieben Leuten hochheben und der Polizei in den Weg schieben. Außerdem hat Ng inzwischen Kontakte zu Bauarbeitern geknüpft, die ihm angeboten hätten, bei Bedarf eine Ladung Beton vor den Regierungspalast zu kippen. Doch so weit will er nicht gehen. Er will auch keine Wände mit Graffiti beschmieren. Sie zapfen nicht mal mehr die Elektrizität vom Regierungsgebäude an, wie in den Anfangstagen. Inzwischen haben sie Generatoren. Für die Kühlschränke und ihre Computer. Am größten Stand der Zeltstadt liegt das sogenannte G1-Lager, wo 80 Leute arbeiten. Hier werden Spenden gesammelt, man bekommt Essen, aber auch warme Decken und Fleecepullover gegen die beginnende Herbstkälte, außerdem Schreibmaterial und Bücher zu „Online Journalism“ oder „Lawyers in Practice“. Sogar der Müll wird getrennt. Vermutlich ist es die vernünftigste Revolution aller Zeiten.

Kunst aus Regenschirmen

Drei Regeln haben sich die Demonstranten auferlegt: „No cash, no violence, no fights.“ Man will keine Angriffsfläche bieten. Die Eltern sollen später nicht sagen, dass die Studenten ihnen mit ihrem Protest auf der Tasche gelegen hätten. Die Politiker sollen nicht behaupten können, sie hätten Gemeingut geschädigt. Und die Polizei soll sich nicht provoziert fühlen. Stattdessen drücken die Demonstranten ihr Anliegen durch Kunst aus: An den Straßenlaternen haben sie übergroße Regenschirme aus Plastik installiert. Ganz neu ist der Garten der Demokratie, den sie auf den Grüninseln neben der Straße gepflanzt haben. Gegenüber der „Lennon Wall“, einer riesigen Hauswand, die über und über mit Post-It-Zetteln beklebt ist, Sympathiebekundungen aus aller Welt, findet sich eine Kunstgalerie mit Karikaturen. Und auch „der Sarg“ für Regierungschef Leung steht da. In rot. Unweit davon hängt ein Transparent: „Wärt ihr nicht so arrogant, wären wir längst weg.“

Weiter für freie Wahlen kämpfen

Vor allem viele Autofahrer in Hongkong hoffen, dass die Jugend die Hauptstraße bald wieder freigibt, damit die Staus ein Ende nehmen. Und große Gegenwehr wollen die meisten Studenten auch nicht leisten. Sie vermuten, dass die Regierung nun erst mal eines der kleineren Camps räumen wird. Als Test. Danach wage man sich wohl auch an das große Lager im Zentrum.

Egal, wie es ausgeht. Die Studenten wollen weiter für Demokratie und freie Wahlen kämpfen. „Bisher waren wir ja immer auf dem Platz und konnten außerhalb kaum agieren“, sagt George Wong, ein sehniger, ausgesucht höflicher Mann . „Wenn wir geräumt werden, können wir unsere unmittelbare Umgebung, die Familien und sozialen Netzwerke besser motivieren.“ Die größte Errungenschaft dieser Revolution sei doch, wie sehr sich Hongkong in wenigen Wochen verändert habe. Überall werde über Reformen diskutiert. Dann verabschiedet sich Wong, lässt sich vor seinem Zelt nieder und wartet. Darauf, dass die Polizei ihn wegtragen wird.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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