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Viele Türken protestierten gegen die Suspendierung tausender Lehrer, mehr als 60.000 Beamte wurden ganz entlassen. Die Polizei beendete die Demonstrationen gewaltsam.

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Tausende Beamte in der Türkei entlassen: Erdogan macht wieder Jagd auf seine Kritiker

Der türkische Präsident greift durch und hat erneut tausende Beamte entlassen. So wie Hakan Öztürk, ein Lehrer, der über Nacht zum Staatsfeind wurde - und Wohlstand, Ansehen und seine Krankenversicherung verlor.

Auf der neu gebauten Straße rottet sich eine kleine Hundemeute gegenüber der Fleischerei zusammen. Zwei Frauen, in dicke Mäntel und Kopftücher gewickelt, schieben ihre Einkäufe den Hügel hinauf, vorbei an den kastenförmigen, fünfgeschossigen Häusern. Es ist ein Istanbuler Vorort, der aussieht wie viele andere. In dem sich abspielt, was tausende Familien in der Türkei gerade durchleben. Nur zu genau beschreiben darf man ihn nicht. Hakan Öztürk* will auf keinen Fall erkannt werden. Die Geschichte, die er zu erzählen hat, hört die Regierung nicht gern. Und Öztürk hat erfahren müssen, wie wenig in seinem Land ausreicht, um als Staatsfeind zu gelten.

In einem der Häuser sitzt Öztürk neben seiner Frau Fatma am niedrigen Couchtisch. Die Wohnung ist neu eingerichtet, sehr ordentlich. Die Öztürks bezeichnen sich selbst als konservativ, siezen einander. Auf dem Boden Spielzeug, Schulbücher liegen aufgeklappt auf dem Tisch, die Kinder sind in der Küche. Fatma Öztürk spielt mit ihrem Telefon, während ihr Mann die Papiere zusammensucht, die ihr Leben aus der Bahn geworfen haben. Sie dokumentieren das Ende von Wohlstand, Ansehen – und Krankenversicherung. „Über Nacht wurden wir zu Aussätzigen gemacht“, sagt sie.

Seit Juli kann Erdogan am Parlament vorbei regieren

Hakan Öztürk war Lehrer, genau wie seine Frau. Seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 steht er auf der Liste derjenigen, denen die Regierung Beihilfe zum Umsturz vorwirft. Beide seien Anhänger des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen, den der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan beschuldigt, als Drahtzieher hinter dem gescheiterten Putsch zu stehen. Noch im August wurden beide vom Dienst suspendiert, Anfang September per Notfalldekret entlassen. Eine Begründung der Schulleitung oder einen richterlichen Beschluss gab es nicht. Von ihrer Entlassung erfuhren beide im Internet. „Unsere Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht. Das war alles“, sagt Hakan Öztürk.

Der Ausnahmezustand in der Türkei wurde am 21. Juli verkündet, seitdem kann Erdogan am Parlament vorbeiregieren. Ziel seiner Rache sind nicht mehr nur vermeintliche Gülen-Anhänger. Mehr als 41 000 Menschen sind verhaftet worden, darunter auch zahlreiche Intellektuelle, Journalisten und andere Akademiker. Universitäten, Schulen und Vereine wurden über Nacht geschlossen.

Längst belastet das rigorose Vorgehen der türkischen Regierung auch die Beziehungen zur Europäischen Union – und zu Deutschland. Rund 40 Nato-Soldaten der türkischen Armee haben in Deutschland Asyl beantragt.

Der Besuch von Angela Merkel bei Recep Tayyip Erdogan am Donnerstag wurde intensiv verfolgt.
Der Besuch von Angela Merkel bei Recep Tayyip Erdogan am Donnerstag wurde intensiv verfolgt.

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Obwohl viele der entscheidenden Fragen zur Putschnacht noch offen sind, ist klar, dass Erdogan den missglückten Staatsstreich nicht allein dazu verwendet, das durchaus gefährliche Netzwerk seines ehemaligen Verbündeten Gülen auszuschalten. Der Präsident nutzt die Gelegenheit, gleich alle unliebsamen Kritiker loszuwerden. Schnell weitete man die von Erdogan angekündigten „Säuberungen“ auch auf die pro-kurdische Opposition und die Linke aus. Mehr als 125 000 Beamte des öffentlichen Dienstes wurden suspendiert, darunter Militärs, Polizeibeamte, Richter, Staatsanwälte und eben Lehrer, aber auch Krankenhauspersonal. Mehr als 60 000 wurden offiziell ganz entlassen. Mehrmals hat Erdogan seinen Schwur erneuert, das Netzwerk des Predigers Gülen „ausrotten“ zu wollen. Der Ausnahmezustand ist Alltag geworden.

„Wir haben keine Möglichkeit, uns zu verteidigen“, sagt Hakan Öztürk und seine Frau pocht mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte. Es ist der einzige Ausdruck des Unmuts, den sie sich zugesteht: „Wir waren doch auch gegen diesen schrecklichen Putsch, gegen diese Verräter. Wir waren nicht einmal politisch aktiv!“

Was eigentlich gegen sie vorliegt, wissen sie nicht, können nur raten. Beide waren Mitglieder in der konservativen Bildungsgewerkschaft Aktif Egitim-Sen, die eng mit der Gülen-Bewegung verbunden gewesen sein soll. 2014 unterhielt Hakan Öztürk ein Konto bei der mittlerweile als „gülenistisch“ bekannten Bank Asya. „Ich vermute, dass wir deswegen entlassen wurden, aber sicher bin ich nicht“, sagt Öztürk. Die Bank und die Gewerkschaft waren damals völlig legal.

Es ist fast unmöglich einen neuen Job zu finden

Die Freiheit ist ihnen geblieben, doch ihr sozialer Abstieg beginnt gerade erst. Noch erhalten die Öztürks Unterstützung von Eltern und Schwiegereltern, um die ersten Monate ohne Gehalt zu überbrücken. Lange, sagt Öztürk, werde das aber nicht mehr funktionieren. „Das Ersparte ist auch bei unseren Familien fast aufgebraucht.“ Die kleine Eigentumswohnung am Stadtrand ist noch nicht abbezahlt. Und einen neuen Job findet er nicht.

Schulen, ob staatlich oder privat, stellen ihn nicht ein, weil er als Verräter gilt. Eltern sind nicht länger gewillt, ihre Kinder von einem „Terroristen“ unterrichten zu lassen, obwohl Öztürk als Nachhilfelehrer vor dem Putsch sehr gefragt war. Andere haben Angst, als Komplizen dargestellt zu werden, wenn sie ihn als Tutor beschäftigen. „Ich war ein guter Lehrer“, sagt Öztürk über sich. Nun bekommt er nicht einmal mehr eine Stelle als Tagelöhner in einer Textilfabrik: „Jedes Mal werde ich gefragt: Warum haben Sie die Lehrertätigkeit aufgegeben, warum in aller Welt wollen sie in einer Fabrik arbeiten?“ Sein Name steht auf einer Liste, die im Internet jeder einsehen kann. Es hätte keinen Sinn, zu lügen.

Hakan und Fatma Öztürk benutzen - soweit möglich - Bargeld. Auf ihrem gemeinsamen Konto liegen nur noch kleine Beträge, aus Angst, es könnte konfisziert werden. Sie wissen von Richtern, die seit ihrer plötzlichen Entlassung aus eben diesem Grund auf Geldspenden ehemaliger Kollegen angewiesen sind. Hungernde Richter, sagt Fatma Öztürk. „Das ist in der Türkei jetzt Realität.“

Untereinander solidarisch zu bleiben, sei schwierig. Viele der ebenfalls entlassenen Lehrerkollegen haben Angst, sich gegenseitig anzurufen oder gar zu treffen, um Informationen auszutauschen. „Dann könnte die AKP-Regierung wieder argumentieren, dass wir eine kriminelle Gruppierung sind und dass wir zusammenarbeiten“, sagt Fatma Öztürk und ihr Mann nickt. Auf Facebook-Gruppen wie „Opfer der Notfalldekrete“ bleiben sie dennoch mit anderen Betroffenen in Kontakt, wenn auch nur passiv. „Ich teile dort nichts, schon aus Angst“, sagt Fatma Öztürk. „Aber es hilft zu wissen, dass es nicht nur uns so geht.“

In der Türkei ist eine Art politischer Hexenjagd in Gang

Selbst in ihrer Wohnung flüstert sie. Tonaufnahmen stimmt sie nicht zu und auch ihren Namen, den ihres Viertels oder ihrer Schule will sie nicht einmal als kurzen Hinweis im Notizbuch vermerkt wissen. Wie viele andere in der Türkei traut sie sich nicht mehr, mit Bekannten am Telefon über ihre Lage zu sprechen, die Regierung zu kritisieren. „Man weiß ja nie, wer zuhört“, sagt sie.

In der Türkei ist eine Art politischer Hexenjagd in Gang. Die Behörden fordern die Bevölkerung auf, Gülenisten und andere mögliche Staatsgegner bei der Polizei zu melden und stellen dafür Telefonnummern, E-Mailadressen und Online-Portale zur Verfügung. Die Denunziationskultur ist außer Kontrolle geraten. Türkische Medien berichten, ein Mann solle seine Freundin als „Gülenistin“ angezeigt haben, nachdem sie seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte. Trotzdem glauben viele, dass Erdogans Weg der richtige ist. Dazu gehören auch die Eltern der Öztürks. „Sie sagen, dass die Regierung schon wissen wird, was sie tut“, sagt Hakan Öztürk. „Sie klammern sich immer noch an den Glauben, dass die Politiker dem Volk dienen und ihm gegenüber niemals ungerecht sind.“ Oft brach deshalb in den vergangenen Monaten Streit aus. Einige Familienmitglieder haben sich ganz abgewendet. Hakan Öztürk weiß, dass viele seiner suspendierten Kollegen ähnliche Erfahrungen gemacht haben. „Die Risse verlaufen zwischen Geschwistern oder Eltern und ihren Kindern.“

Anfang Dezember - die vorgeschriebenen 99 Tage Frist nach ihrer Entlassung - wurde auch die Sozialversicherung der Öztürks abgemeldet. Damit haben sie und ihre Kinder kein Recht mehr auf die staatliche Krankenversorgung. Eine Privatversicherung kommt finanziell nicht infrage. „Der Stress hat sich auch auf meine Gesundheit ausgewirkt“, sagt Fatma Öztürk. „Es geht mir nicht gut.“ Doch zum Arzt kann sie nicht. Ein Verwandter, der Mediziner ist, springt zumindest bei kleinen gesundheitlichen Beschwerden ein.

Nun, da die Sozialversicherung gekündigt ist, fürchten die Öztürks auch um ihre Rentenansprüche. „Es gibt niemanden, der uns Auskunft gibt“, sagt Hakan Öztürk. Er weiß noch nicht einmal, ob er das Land verlassen dürfte, ob ihre Pässe noch gültig sind.

Zehntausende erleiden "zivilen Tod", sagen Menschenrechtler

Nicht einmal einen Anwalt können sie konsultieren. Hakan Öztürk erzählt, dass viele Juristen sich davor scheuen - oder sich aus Überzeugung weigern -, angebliche Gülenisten zu verteidigen. Übrig blieben unseriöse Geschäftemacher: „Diese Anwälte verlangen hunderttausende Lira, das können wir uns nicht leisten“, sagt Öztürk.

Menschenrechtsgruppen haben das Vorgehen der AKP-Regierung im Ausnahmezustand als unverhältnismäßig und rechtswidrig kritisiert. „Wenn die Regierung gerichtlich gegen Individuen vorgehen will, muss sie sich auf individuelle Beweise berufen“, sagt Andrew Gardner, Türkeiexperte bei Amnesty International. „Aber was wir sehen, sind pauschale Anschuldigungen, gegen die die Betroffenen nicht einmal sinnvolle Berufung einlegen können. Das verstößt gegen die Menschenrechte.“

Nur einige tausend der seit Juli Entlassenen durften in der Zwischenzeit in den Dienst zurückkehren, darunter auch mehr als 6000 Lehrer. Der Großteil aber bleibt ohne Arbeit - und sozial isoliert. „Es ist zunehmend so, dass zehntausende Menschen in der Türkei eine Art zivilen Tod erleiden“, sagt Gardner.

Fatma Öztürk verlässt die Wohnung nur noch selten, weil sie es nicht erträgt, wenn Bekannte sie nicht mehr grüßen, und Eltern ihrer ehemaligen Schüler die Straßenseite wechseln.

Aus Mitleid erlässt der Direktor ihnen die Schulgebühren

„Die fast vollständige Isolation ist viel schlimmer für mich als die plötzliche Arbeitslosigkeit“, sagt sie. „Vorher hatten wir ständig Besuch. Freunde, Kollegen und Nachbarn kamen oft auf einen Tee vorbei, unsere Wohnung war immer voller Leute.“ Fatma Öztürk hält inne, sieht ihren Mann an, der grimmig auf einen Punkt am Boden starrt. „Die meisten haben uns fallen lassen, manche haben Angst anzurufen. Alle fürchten, mit uns in Verbindung gebracht zu werden.“ Ihre schulpflichtigen Kinder haben die Öztürks von der staatlichen Schule im Viertel abgemeldet, aus Angst, sie könnten von ihren Klassenkameraden gemobbt oder von den Lehrern benachteiligt werden. Jetzt gehen sie an eine Privatschule in einem entfernteren Teil Istanbuls, deren Direktor dem Lehrerpaar das Schulgeld aus Mitleid erlassen hat.

Am 24. November wird in der Türkei der Tag des Lehrers gefeiert. Für Fatma Öztürk ist das jedes Jahr etwas Besonderes. Eigentlich. Dieses Jahr habe sie nur von vier Leuten Glückwünsche erhalten: „Ich fühle mich wie lebendig begraben.“ Mehr als alles andere wünscht sich die Lehrerin, wieder vor einer Klasse stehen zu dürfen. Sie hat nicht mehr viel Hoffnung.

*Namen geändert

Constanze Letsch

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