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Bundespräsident Joachim Gauck auf der Trauerfeier im Kölner Dom für Opfer des Germanwings-Absturzes.

© AFP

Trauerfeier für die Germanwings-Opfer in Köln: Ein Blick ins Innere

Rund 1400 Menschen gedachten am Freitag im Kölner Dom der Toten von Flug 4U 9525. Vor dreieinhalb Wochen war der Airbus in den Alpen zerschellt. Bei der Trauerfeier fragen die Redner nach dem Warum. Anzubieten haben sie nur den Trost des Glaubens

Und dann ist endlich Stille. Bis auf das Geräusch von über tausend Menschen, die sich zum Beginn der Messe dunkel und schweigend aus dem hölzernen Kirchengestühl erheben. Eine bemerkenswerte, unerhörte Stille ist es, in die um zwölf Uhr am Freitagmittag die Sonne durch die Kirchenfenster in den knapp 15 Grad kalten Dom fällt. Eine durchdringend wirkende Stille nach dreieinhalb Wochen Geräusch, seitdem am 24. März der Germanwings-Flug 4U 9525 an einer Felswand zerschellte. Es ist eine Stille, in der alles enthalten ist – so wie alle Farben in weißem Licht.

Nachdem das Geläut der Glocken verklungen ist, breitet sie sich im Kirchenschiff aus. Sie legt sich über Angehörige, über Katastrophenhelfer, über Kölner Bürger, über den Bundespräsidenten Joachim Gauck, über die Bundeskanzlerin Angela Merkel, über Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, über den Innenminister von Spanien und den Staatsminister für Verkehr aus Frankreich, die alle in den Kölner Dom gekommen sind, um des Flugzeugunglücks in den französischen Alpen zu gedenken.

Am Ende werden viele geweint haben, sie werden bewegt sein und irgendwie geläutert, und auch ein bisschen erstaunt darüber, dass jetzt, nach diesen Wochen, zu diesem Thema noch Wesentliches zu sagen ist. Vielleicht, weil die Teilnehmer und die Redner hier auf etwas bestehen, das in den dreieinhalb Wochen nach dem Absturz selten zu haben war.

Noch früh am Morgen hatten sich nichts ahnende Touristen mit ausgebreiteten Armen vor dem Domportal fotografiert, als die Stadt Köln Anlauf nahm für diesen Trauerakt. Da waren längst die Übertragungswagen um die Domplatte postiert und die Gullydeckel versiegelt, denn der Trauerakt ist selbst ein Risiko, Sicherheitsstufe 1. „Ich glaube, Merkel kommt durch einen Seiteneingang“, sagt jemand, dann wird die Domplatte abgeriegelt. Sogar der Kapitalismus ist kurzzeitig ausgesetzt, die digitalen Werbetafeln um den Dom zeigen heute nur die Flugnummer 4U 9525, das Datum des Absturzes vom 24. März und eine schwarze Schleife.

"Trost und Halt"

Während zwei Stunden waren gut 1400 Leute eingetroffen, die alle einzeln durch die Sicherheitsschleusen mussten, so dass der Tisch an der Taschenüberprüfung mit den aussortierten Wasserflaschen bald einer Flughafenkontrolle glich. Im Domgässchen neben den Kleiderständern von „Signora Moden“ ließen sich Geistliche kontrollieren, während im Café Reichard gegenüber wie immer die silbernen Kännchen mit Kakao gefüllt wurden. Es war die spezielle Kölner Gleichzeitigkeit von Höherem und Normalität.

Dann übertönt das „Requiem aeternam“ von Gabriel Fauré im Dom dreieinhalb Wochen Fassungslosigkeit, Wochen des Verlusts, der Nachfragen, des Trauerns, des unablässigen Redens, Schreibens und Sendens. Dreieinhalb Wochen, während derer das Land nicht zur Ruhe kam, das Reden über den Absturz nie aussetzte, über Sicherheit, Depressionen und Anstand.

„Trost und Halt“ sagt Domdechant Robert Kleine, wolle man heute geben. Und tatsächlich sind ja die Kirchen Orte, um das Paradox zwischen öffentlicher Bekundung und privatem Empfinden aufzulösen. Sie sind da für die Ränder des Lebens, die Taufen und die Todesfälle, für die öffentlichen Bekenntnisse zu Glauben und Ehe und für die innere Einkehr. Und diese Veranstaltung zielt auf das Innere.

Vielleicht sind die Journalisten deshalb im Seitenschiff hinter einer Säule platziert, damit sie nicht vergessen, dass es diesmal überhaupt nicht darum gehen soll, etwas zu sehen. Damit sie gar nicht auf die Idee kommen, sich die Bilder von Angehörigen einzuprägen, denen mit dem Fotoverbot Anonymität garantiert werden sollte.

Viele von ihnen sehen also später gar nicht die bewegendste Szene dieses Gottesdienstes. Sie hören allein die Worte, als Sarah, eine Angehörige, die ihre Schwester verloren hat, stellvertretend den Trauernden ein Gesicht gibt. „Herr, ich bitte dich: Trockne unsere Tränen, stärke die schönen Erinnerungen und schenke uns allen neuen Lebensmut!“ Zu hören ist die Stimme einer Weinenden: „Lieber Gott, gib unseren verunglückten Verwandten und Freunden ein neues Zuhause und pass immer auf sie auf.“

Gedenken auch an den Täter

 In Trauer vereint. Draußen wird der ökumenische Gottesdienst auf Großleinwänden übertragen. In der Menschenmenge werden Fürbitten für die Angehörigen gesprochen. Notfallseelsorger berichten im Gottesdienst über ihre Arbeit mit den Hinterbliebenen.
In Trauer vereint. Draußen wird der ökumenische Gottesdienst auf Großleinwänden übertragen. In der Menschenmenge werden Fürbitten für die Angehörigen gesprochen. Notfallseelsorger berichten im Gottesdienst über ihre Arbeit mit den Hinterbliebenen.

© dpa

Es wurde ja viel öffentlich gedacht in den letzten Wochen. Bei einer Schweigeminute in Nordrhein-Westfalen wurde in den Schulen der Unterricht unterbrochen, die Arbeit im Henkel-Konzern und bei Bayer sowie die Bilanz-Pressekonferenz des TÜV Rheinland. An der Düsseldorfer Oper wurde gedacht, der Nahverkehr in Essen, Mühlheim und Bonn stand eine Minute still, während der WDR ein schwarzes Bild sendete.

Die Versammelten, die hier in der ersten Reihe sitzen, kennen sich schon aus anderen Trauer- und Gedenkveranstaltungen. Einige waren in Frankreich in Le Vernet zusammen, wohin mit sieben Bussen auch Angehörige gebracht wurden. Daniela Schadt hatte bei der nicht-öffentlichen Gedenkveranstaltung in Haltern geweint, Hannelore Kraft war auch da, Joachim Gauck hat dort schon viele der Angehörigen umarmt.

Unsere gewählten Stellvertreter, nun auch stellvertretend Trauernde, haben in dieser Sache ein Vielfaches der Strecke zwischen Barcelona und Düsseldorf zurückgelegt. Einigen kam es vor, als gäbe es von allem zu viel. Ein Unbehagen war entstanden, über die seltsame Eigendynamik dieser Geschichte, bei der man ja gar nicht so viel Berührendes sehen konnte – die Häutungen der Seele sind unsichtbar – sondern stattdessen die unbedingte Sehnsucht des Publikums danach spürte, berührt zu werden. War das nicht eine seltsame Verdrehung, die echte Betroffenheit eben verhinderte? Merkwürdige Unsicherheiten haben sich in die Wahrnehmung darüber geschlichen, was angemessen ist und was nicht.

Was also könne dieser ökumenische Gedenkgottesdienst im Kölner Dom leisten? Gibt es hier womöglich eine Antwort auf die Frage nach dem Warum? Die Präses der Evangelischen Kirche, Annette Kurschus, gibt das Thema nach oben weiter. „Gott selbst muss einstehen für das, was geschehen ist und was er hat geschehen lassen.“ Kein Mensch, kein Luftfahrtexperte und kein Psychologe, auch keine Bischöfin und kein Kardinal könnten über den nun aufgerissenen Abgrund eine Brücke schlagen. „Das Unbegreifliche muss ausgehalten werden“, aber die Menschen, die reichten jetzt einander die Hände und rückten zusammen. Vielleicht liegt schon darin etwas Trost. Und Trost ist auch eine Antwort.

Die Eltern des Copiloten sind nicht gekommen

Das „Pie Jesu“ von Gabriel Fauré, das Luiza Fatyol nun singt, Solistin an der Deutschen Oper am Rhein, ist bewegend. Auch ohne das Wissen darum, dass sie bei dem Absturz zwei ihrer Kollegen verloren hat. Dann tritt Rainer Maria Woelki ans Mikrofon, Erzbischof von Köln.

Er ist sich gar nicht so sicher, ob überhaupt alle beten können, die hier sind, „wenn Sie überhaupt an Gott glauben“. Woelki hat „keine theoretische Antwort auf das schreckliche Unglück“ – er verweist zum Trost auf die Eindeutigkeiten seiner Kirche: „Wohin sonst sollen wir gehen?“ Und: „Die Liebe ist stärker als der Tod, glauben wir Christen.“ Gott bewahre „das Andenken – an unsere Angehörigen und dereinst auch an uns selbst. Ganz sicher.“

Das hat er anzubieten. Die Sicherheiten des Glaubens. Für Woelki ist der Himmel, „wo Christus zur Rechten Gottes sitzt.“ Aber wenn man nicht glaubt, dann sitzt im Himmel rechts vom Piloten bloß der Copilot.

Die Eltern des Copiloten sind wohl trotz Einladung nicht gekommen. Es hatte eine Debatte darüber gegeben, ob man auch für ihn eine Kerze anzünden solle. Und ja, auf den Stufen zum Altar flackern 150 Kerzen. Auch weil Woelki vorher klar gestellt hatte, dass es Gott sei, der schließlich über ihn richten müsse.

Johannes Rau hatte im Jahr 2002 in Erfurt Worte gefunden für Robert Steinhäuser, durch dessen Willen am Gutenberg-Gymnasium Mitschüler gestorben waren. Er sagte damals direkt an die Eltern gerichtet: „Was immer ein Mensch getan hat, er bleibt ein Mensch.“

Horst Köhler hatte 2009 in Winnenden Worte gefunden für Tim Kretschmer, der an seiner Schule Menschen getötet hatte. Und Joachim Gauck ist es nun, der schließlich den Copiloten von Flug 4U 9525 erwähnt, ohne ihn jedoch beim Namen zu nennen. „Wir wissen nicht, wie es im Innern des Copiloten ausgesehen hat, der sich und 149 anderen das Leben nahm.“ Auch seine Angehörigen, sagt Gauck, hätten einen Menschen verloren, „auf eine Weise, für die sie genau so wenig einen Sinn finden, wie all die anderen Hinterbliebenen.“

Die zerrissene Seele der Nation

Die Ursache für dieses Unglück waren ja nach allem, was wir wissen, weder Technik, noch Politik oder Religion, sondern das höchst persönliche Innere des Copiloten selbst. Hatte er doch, anders als die Attentäter von Erfurt oder Winnenden mutmaßlich keine Aggressionen gegen Menschen aus seiner Umwelt, sondern gegen sich selbst.

„Es gibt kein vollkommen kontrollierbares, zu hundertprozentiger Sicherheit führendes Leben“, sagt Gauck, der selbst Pfarrer gewesen ist. „Weder vor technischen Defekten noch vor menschlichem Versagen gibt es absolute Sicherheit – und erst recht nicht vor menschlicher Schuld.“

Warum wirkt eigentlich tröstlich, was Gauck sagt, obwohl es weder neu noch originell ist? Weil das Neue, anders als in den Medien, in den Kirchen keinen Wert an sich hat. Weil man vielmehr das Alte, von dem man hofft, es sei das womöglich Angemessene, immer wieder aussprechen muss. Weil in den Kirchen Wiederholungen Rituale heißen, die ihre eigene Kraft entwickeln. Und „das tiefe Erschrecken … vor den Abgründen der menschlichen Seele“, das Gauck in seiner Rede erwähnt, betraf in den letzten dreieinhalb Wochen ja nicht nur den Copiloten.

Musste man nicht auch seelenlos nennen, wenn sich Journalisten als Notfallhelfer oder Lehrer verkleideten, um an die Empfindungen Angehöriger zu gelangen? Was war los mit der Seele der Nation?

Sie war zerrissen zwischen dem Bedürfnis nach Öffentlichkeit und dem nach Abschirmung. Zwischen der Gier nach immer mehr Details – und dem Bedürfnis, endlich aufzuhören mit der Suche danach. Zwischen dem Wunsch, zu reden, und dem, damit aufzuhören, weil vieles nach Wiederholungen klang.

Schüler des Gymnasiums in Haltern spielt das Thema aus "Schindlers Liste"

Diese Schleifen der Wiederholung, Dinge immer wieder sagen zu müssen, das sind ja die Bewegungen Trauernder, die das Fernsehen stellvertretend sich mitzumachen angewöhnt hat, seitdem am 11. September 2001 die Flugzeuge in New York in der ganzen Welt immer wieder in die Türme flogen.

In der Kirche, bei den Experten für unerklärliche Geschichten, für Schuld und Erlösung, inmitten der Eindeutigkeiten des standfest umbauten Glaubens und der Rituale dieses ökumenischen Gottesdienstes, ist von diesen Irritationen nichts mehr zu spüren. Hier sind die Hinterbliebenen als Gemeinschaft zusammen. Die Fürbitten sprechen Katastrophenhelfer, der Erzbischof Woelki und Präses Annette Kurschus und eben auch Sarah, die Angehörige. Sie bitten für das Wohl der Fluggäste, für die Kraft der Mitarbeiter, für Helfer, für diejenigen, die sich Vorwürfe machen und natürlich die Verwandten der Getöteten. Das Ensemble des Joseph-König-Gymnasiums in Haltern, das so viele Schüler verloren hat, spielt das Thema aus „Schindlers Liste“.

Dann stecken die Menschen die Holzengel ein, die auf ihren Plätzen ausgelegen hatten, geflügelte Wesen, die Kraft vermitteln sollen und strömen aus dem Dom in die Stadt, die Reise geht weiter. Draußen weht ein kalter Wind, die zwei 157 Meter hohen Türme der Kathedrale weisen in den Himmel, der für die einen der Himmel Gottes ist, aber für die anderen im Alltag auch der der Piloten, die sich ganz weltlich zwischen Himmel und Erde bewegen. Unten vor der Treppe zum Dom werden die letzten Bilder auf die Leinwand übertragen, direkt vor dem Hauptbahnhof. An der Seite liegen die Gestecke, Trauer riecht nach Lilien: Da ist der Kranz der Pilotenvereinigung, der der Flugbegleiter, ein Gesteck von Nordrhein-Westfalen, der Stadt Köln, von der Lufthansa und von Germanwings „in deep sorrow“.

Über allem liegt auch schon wieder das Geräusch der Rollkoffer, die pausenlos aus dem Bahnhof herausgezogen werden, weil der Bahnhof auch dann einer ist, wenn die Reise des Lebens für einige stehen bleibt. Am Himmel zeichnen die Voice-Recorder in den Cockpits das Atmen der Piloten auf.

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