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Auf Distanz. Viele Istanbuler meiden öffentliche Plätze und belebte Straßen, die U-Bahn nehmen selbst die Mutigeren kaum noch. Der Terror hat sie und die Stadt voneinander entfernt. Foto: Ozan Kose/AFP

© AFP

Türkei: Wie Istanbul mit der Terrorangst umgeht

Bomben, Morde, Putsch: Die Gewalt hat Istanbul fest im Griff. Bihter Dincel kämpft gegen die Tränen – auf der Bühne. Für die Zuschauer ist das Therapie. Denn offiziell darf es ihre Furcht nicht geben. Unser Blendle-Tipp.

Seit neun Monaten ist Deniz in ihrer Angst gefangen, als sie die Schlaftabletten aus dem Schrank holt. Noch einmal tritt sie ans Fenster und blickt über ihre Geranien hinaus auf die Straße, während sie die Tabletten aus der Flasche in die Hand schüttet. „Ich hätte so gerne dein Gesicht gesehen und deine kleinen Hände“, sagt sie zu dem Kind in ihrem Bauch. Dann schluchzt sie auf und schlägt mit der Faust an den Fensterrahmen.

„Aber weißt du denn nicht, was uns auf dieser Welt erwartet?“, schreit sie. „Wie soll ich es ertragen, jeden Tag an diesem Fenster zu warten, ob du lebend nach Hause kommst?“ Nein, alleine schaffe sie es nicht, seufzt sie und hebt die Hand mit den Tabletten in Richtung Mund. Im Zuschauerraum wird geschluchzt. Da klingelt auf der Bühne ein Telefon, und Deniz hält inne.

Auf diesen Moment freue sie sich den ganzen Abend, hat Bihter Dincel erzählt, als sie zwei Stunden zuvor die Schlaftabletten in den Schrank legte. Eine Stunde und zwanzig Minuten lang wird sie mit ihrem Publikum geweint, gelacht, gesungen und noch mehr geweint haben, wenn das Telefon zum Finale klingelt und scheinbar eine Botschaft der Hoffnung überbringt.

Und dann dauert es nicht mehr lange, bis die Zuschauer nach dem Schlussapplaus zur Bühne drängen, um sich mit tränennassen Gesichtern bei der Schauspielerin zu bedanken und sie fest zu umarmen. „Wir machen hier jeden Abend eine Katharsis durch“, erzählt Dincel. „Denn einerseits stochern wir in unserem Schmerz, andererseits tut es allen gut, den Schmerz und die Angst mit anderen zu teilen und gemeinsam zu erleben.“

Die Angst ist in Istanbul ein ständiger Begleiter

Angst und Schmerz sind überall in Istanbul, dieser Stadt im Schatten des Terrors. Ein halbes Dutzend schwere Terroranschläge mit hunderten Opfern hat die Stadt im letzten Jahr erlitten: den Bombenanschlag auf Touristen in der Altstadt, seit dem die Besucher fernbleiben; die Anschläge auf die Fußgängerzone, den Flughafen und ein Fußballstadion; den Putschversuch, bei dem Kampfjets über die Innenstadt flogen; und den mörderischen Angriff auf eine Disko in der Neujahrsnacht.

Der Terror lauert immer und überall, das haben die Istanbuler erleben müssen – beim Fußball, Shopping, Reisen, Bummeln und beim Tanzen. Die Angst ist seither ein ständiger Begleiter in der U-Bahn, auf der Fähre und im Bus über die Bosporusbrücke.

Offiziell existiert diese Angst nicht einmal. Die Regierung gibt markige Durchhalteparolen aus, die Zeitungen berichten über die Feigheit der Terroristen und den Heldenmut der Türken, nur die Furcht wird öffentlich totgeschwiegen. Undenkbar in Istanbul, dass eine blumenbedeckte Gedenkstätte noch Wochen später an einen Anschlag erinnern würde wie auf dem Berliner Breitscheidplatz. Hier läuft der Flugbetrieb auf dem Airport...

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