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Kopf an Kopf. Beji Caid Essebsis Chancen, die Wahl zu gewinnen, sind gut. Sein größter Rivale heißt Moncef Marzouki. Auch er hat viele Fans. Zum Beispiel diese Damen in der Hafenstadt Bizerte.

© Katharina Eglau

Tunesien vor der Wahl: Frühlings Erwachen

Zum ersten Mal in der Geschichte werden sie einen Präsidenten wählen. Frei. Unabhängig. Viele Tunesier sind begeistert – und verunsichert. Ein Land zwischen Hoffnung und der Angst, eine Chance zu vertun.

Um ihren Kopf hat sie einen roten Schal gebunden. „Lang lebe Tunesien“, steht darauf. Ihr Töchterchen Maja hält sie im Arm. Auch die Kleine trägt einen roten Schal – wie die Mutter. Amal Youssef ist 27 Jahre alt, bei der Jasminrevolution auf dem Boulevard Bourguiba in Tunis war sie vorne mit dabei. Damals, im Januar 2011, gehörte sie zu den mutigen Demokratieaktivistinnen, deren Aufstand Tunesien zur Wiege des Arabischen Frühlings machte. Heute dagegen setzt Amal Youssef auf einen Mann, der sechs Jahrzehnte älter ist als sie: Beji Caid Essebsi, 87-jähriger Ex-Premierminister, Ex-Minister und Ex-Parlamentspräsident.

Seine politische Karriere unter den beiden Autokraten Habib Bourguiba und Zine al Abidine Ben Ali ist so alt wie das unabhängige Tunesien. Trotzdem hat er am kommenden Sonntag bei den ersten Präsidentenwahlen nach dem Arabischen Frühling die besten Chancen, zu gewinnen. Wegen ihm ist Amal Youssef an diesem Tag mit Maja in die „Coupole“ gekommen, den kreisrunden Sportpalast im Viertel Al Menzah, wo 4000 Anhänger Essebsi feiern.

Sie hat Jura studiert - und arbeitet in einem Nagelstudio

Youssef hat Jura studiert und nur weil sie keinen Job als Anwältin fand, arbeitet sie heute in einem Maniküre-Studio. Sie gibt zu, dass sie immer wieder zweifelt, ob sie sich für den richtigen Kandidaten entschieden hat. „Dann frage ich mich, warum wir jungen Leute jetzt auf diesen alten Mann setzen“, sagt sie. Aber es gebe keinen Politiker in der mittleren Generation, der das schlingernde Tunesien zusammenhalten und wieder beruhigen könne. „Ben Alis Diktatur hat den politischen Nachwuchs zerstört“, sagt Youssef. „In unserer Politik klafft ein riesiges Generationenloch.“

In dem Land, das nach der Arabischen Revolution nicht im Chaos versank wie so viele andere, setzen sie deswegen große Hoffnungen auf den nächsten Präsidenten – und auf die ersten freien Wahlen zum Staatsoberhaupt in der Geschichte des Landes. 27 Kandidaten sind angetreten, die meisten sind chancenlos und unbekannt. In den vergangenen Tagen hat ein halbes Dutzend bereits aufgegeben. Nur wenige können vorne mitmischen. Neben Essebsi sind das: sein Hauptrivale, Übergangspräsident Moncef Marzouki sowie der linke Volksfrontpolitiker Hamma Hammami.

Kandidat Mustafa Ben Jaafar dagegen, bisher Präsident von Übergangsparlament und verfassunggebender Versammlung, ist der große politische Verlierer des postrevolutionären Tunesiens. Der 73-Jährige gilt als Vater des neuen Grundgesetzes vom Januar. Er führte seine sozialdemokratische Partei Ettakatol nach den ersten freien Wahlen 2011 in die sogenannte Troika von zwei säkularen Parteien mit der siegreichen islamistischen Ennahda. Während Ennahda nach drei turbulenten Jahren in der neuen Volksvertretung 2014 als zweitstärkste Fraktion mit einem Dämpfer davonkam, der kleine säkulare „Kongress für die Republik (CPR)“ mit Moncef Marzouki an der Spitze sich noch Hoffnung auf das Präsidentenamt machen kann, verlor Ettakatol sämtliche 19 Mandate und ist nun nicht mehr im Parlament.

Anders als 2012 in Ägypten tritt Tunesiens Muslimbruderschaft nicht mit einem eigenen Kandidaten an, obwohl Ennahda bei den Parlamentswahlen vor vier Wochen mit 69 Sitzen in das neue 217-köpfige Plenum einzog. Und so ist die straff organisierte Islamistenpartei, die mindestens ein Viertel aller Stimmen kontrolliert, bei jedem Wahlkampfauftritt wie ein Schatten dabei.

Seine PR-Manager wurden in den USA geschult

Die in den USA geschulten PR-Manager Essebsis intonieren seine Auftritte ironisch mit apokalyptischen Filmszenen. Turbanträger mit Sonnenbrillen, gestikulierende Salafisten in Nahaufnahme, die mit schriller Stimme die Scharia für Tunesien deklamieren – vom Essebsi-Publikum mit höhnischem Gejohle quittiert. Mit dämonischen Bässen untermalte Sequenzen zeigen junge Vermummte, die die schwarze Fahne des IS auf dem Uhrenturm im Stadtzentrum schwenken, dem Wahrzeichen von Tunis.

Essebsi selbst, dessen Nidaa Tounes Partei im Oktober aus dem Stand heraus als stärkste Kraft in das neue Parlament einzog, ist deutlich moderater. Energisch biegt er sich in der „Coupole“ die beiden Mikrofone am Pult zurecht. „Egal welche Ideologie, wir müssen Tunesien einigen, wir müssen zusammenarbeiten, sonst enden wir wie Ägypten und Libyen“, ruft er mit fester Stimme. Sätze, die er in seiner 30-minütigen Wahlkampfrede gleich sechsmal wiederholt. Nidaa Tounes ist ein Sammelbecken alter Regimeanhänger, enttäuschter Linker und von den Salafisten genervter Akademiker, eine Partei, die sich vor allem als Bollwerk gegen die Ennahda-Muslimbrüder versteht. Essebsi aber weiß auch, wie gefährlich seiner Heimat eine noch tiefere innere Spaltung werden könnte und dass er Ennahda wahrscheinlich als Koalitionspartner in einer künftigen Regierung braucht.

Ihr Favorit. Amal Youssef (mit Maja) glaubt an Beji Caid Essebsi.
Ihr Favorit. Amal Youssef (mit Maja) glaubt an Beji Caid Essebsi.

© Katharina Eglau

Und so inszeniert er sich als der neue Übervater Tunesiens, der Einzige unter den Präsidentschaftsbewerbern, der das Beste des tunesischen Erbes, die staatliche Unabhängigkeit 1956 und die demokratische Revolution 2011 in sich vereint. „Ich will aus Tunesien ein modernes Land des 21. Jahrhunderts machen“, sagt er staatsmännisch, verspricht mehr Arbeitsplätze und Investitionen, mehr innere Sicherheit und einen entschiedenen Kampf gegen Terrorismus. Er sei dagegen, alte politische Rechnungen zu begleichen. „Tunesien braucht in den nächsten Jahren alle seine Bürger“, umwirbt er die Skeptischen, die in ihm nicht mehr als das alte Regime im neuen revolutionären Schafspelz sehen.

Wie sich die Kulturschaffenden gegen Islamismus wehren

Beji Caid Essebsi, 87-jähriger Ex-Premierminister, Ex-Minister und Ex-Parlamentspräsident.
Beji Caid Essebsi, 87-jähriger Ex-Premierminister, Ex-Minister und Ex-Parlamentspräsident.

© AFP

So wie die Künstlertruppe des El-Hamra-Theaters im Zentrum von Tunis. „Kreativ sein heißt widerstehen, und widerstehen heißt kreativ sein“, hatten sie zu Zeiten des Diktators Ben Ali stets als trotziges Banner über ihrem Eingang. Zuschauer und Schauspieler verstanden sich als eine Insel des Widerstands. Jetzt fühlen sie sich von neuen Gegnern belagert, von den Islamisten der Ennahda genauso wie von Essebsis Regime-Wendehälsen.

„Was werden Sie tun, wenn ein Künstler verhaftet oder wenn ein Sänger von Salafisten zum Beten gezwungen und verprügelt wird?“, will der bekannte Blogger Azyz Amami an diesem Abend von dem Kandidaten Hamma Hammami auf der Bühne wissen. Hammamis linke Volksfront hatte bei den Parlamentswahlen überraschend stark abgeschnitten. Nun sind 200 Schauspieler, Maler, Musiker und Regisseure zu dem Werkstattgespräch mit dem Kandidaten gekommen, der auf der dunklen Bühne wie ein ergrauter Literaturprofessor wirkt.

Im Foyer des Theaters hängen Plakate früherer Aufführungen und Fotos der angeschlossenen Schauspielschule, deren Nachwuchs aus Ländern wie Burkina Faso, Kamerun und der Elfenbeinküste sowie aus Algerien, Marokko und dem Libanon kommt. Weder das Ben-Ali-Regime vor dem Arabischen Frühling noch die postrevolutionäre Übergangsregierung unter Führung von Ennahda hätten Geld für Kultur lockergemacht, klagen die Kreativen. Im ersten Rang ist die Hälfte der Sitze kaputt, die rotsamtigen Sesselreihen im Parkett kippeln und quietschen. „Kultur ist das beste Gegenmittel gegen islamistische Engstirnigkeit und säkularen Machtmissbrauch“, plädiert Fathi Hadaoui, der als Filmschauspieler in populären Vorabendserien ein Millionenpublikum hat. Kandidat Hammami jedoch lässt sich keine finanziellen Versprechungen entlocken, erzählt stattdessen von den mehr als zwanzig Malen, in denen er verhaftet und gefoltert wurde; als ihn Ernest Hemingways Roman „Der alte Mann und das Meer“ vor der totalen Verzweiflung bewahrte. „Angst verhindert nicht den Tod, aber Angst verhindert das Leben“, schließt er sein Plädoyer für ein demokratisches Tunesien, ein Satz, den das Publikum mit dankbarem Beifall quittiert.

"Wir gewinnen - oder wir gewinnen"

Eine Autostunde von Tunis entfernt, in der Mittelmeerstadt Bizerte, klingt der Wahlkampf so: „Wir gewinnen – oder wir gewinnen“, steht auf dem haushohen Plakat, das im alten Hafen offenbar jeden Zweifel an dem bisherigen Übergangspräsidenten Moncef Marzouki zerstreuen soll. Rund 160 000 Menschen leben in Bizerte – vom Tourismus, von der Fischerei und von der Schifffahrt. Nun ist im Hafen ein Rednerpult aufgebaut, vor dem sich viele Menschen versammelt haben, unter ihnen auffallend viele verschleierte Frauen. Der couragierte Menschenrechtler und Mediziner Marzouki, 69 Jahre alt, gilt als inoffizieller Favorit der Muslimbruderschaft Ennahda, auch wenn deren Führung keine öffentliche Wahlempfehlung abgegeben hat.

Eine Frau im Publikum, Jamila Hassine, hat ihn von ihrem Medizinstudium im südtunesischen Sousse als superkorrekten Professor in Erinnerung, der ansonsten wenig Kontakt mit den Studenten hatte. Heute arbeitet sie als Ärztin im Krankenhaus in Bizerte und ist ganz stolz, wie ihr einstiger Lehrer als Staatschef die Menschen mitzureißen versteht. Statt am Rednerpult zu stehen, läuft Marzouki wie elektrisiert auf und ab. „Sonntag ist ein historischer Tag für Tunesiens Demokratie – nach fünfzig Jahren Diktatur darf es kein Zurück mehr geben zum alten System“, ruft er in die jubelnde Menge. „Traut keinem dieser Leute, die unter Ben Ali gedient haben und jetzt von Freiheit schwadronieren.“ Die Präsidentenwahlen seien nicht nur ein Signal für Tunesien, sondern für die gesamte arabische Welt, mahnt er zum Schluss, bevor ihm seine Bewacher den Weg zurück zum Wagen bahnen. „Der Arabische Frühling wurde in Tunesien geboren – er darf jetzt nicht in Tunesien begraben werden.“

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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