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Die Gründe für Flucht sind in der Geschichte vielfältig, doch das Verhalten der Menschen ist immer gleich.

© picture alliance / dpa

Über die Grenze: Wie man zum Fluchthelfer wird

Der eine half Menschen, aus der DDR zu fliehen – und bekam das Bundesverdienstkreuz. Der andere brachte einen Flüchtling ins Land – und wird dafür angeklagt. Was die beiden Männer gemeinsam haben? Nichts. Außer ihrer Überzeugung.

Wenn Volker G. Heinz nach Ost-Berlin ein- und wieder ausreiste, fehlten hinterher oft einige Bürger aus der Hauptstadt und der Provinz des Arbeiter- und Bauern-Staates. Mit seiner Hilfe über den Checkpoint Charlie geflohen, im Kofferraum eines weißen Mercedes. „Alle meine Flüchtlinge waren meistens junge Leute“, sagt Volker G. Heinz, „wie heute unsere Syrer, unsere Afghanen.“ Er sagt: „Das Verhalten der Flüchtlinge ist immer ähnlich. Die Leute wollen weg.“

Heinz hebt den Kopf, und wenn er über seine eigenen Worte staunen könnte, wäre dieser Moment eine gute Gelegenheit dazu. Heinz hat gerade das Wesen der Flucht über Jahrtausende Menschheitsgeschichte in einem Satz beschrieben. Die Leute wollen weg.

Ist Hilfe immer gleich?

Und er sagt das zu einer Zeit, in der ganz Europa sich entzweit beim Reden über Fluchten, über deren Gründe, deren Legitimität, über das Wesen von Aus- und Einwanderern und den Umgang mit ihnen.

Doch Heinz staunt nicht. Er ist Jahrgang 1943 und ein offenkundig erfolgreicher Rechtsanwalt und Notar a.D. Er hat Lebenserfahrung, und er ist das Rechthaben gewöhnt.

Doch hat er auch recht, wenn aus dem einfachen Satz die Entscheidung wächst, den Wegwollern beim Wegwollen zu helfen, so wie er das als junger Mann getan hat? Ist solche Hilfe über alle Zeiten gleich, gleich gut oder gleich schlecht?

Gesetze brechen - aus Überzeugung

Gar „Christen- oder Sozialisten-, jedenfalls Gewissenspflicht“, wie es ein anderer Mann behauptet, der gerade einen Jungen über die deutsche Grenze geschmuggelt haben soll, ansonsten aber mit Heinz wenig gemein hat: Diether Dehm, Bundestagsabgeordneter der Linken, droht Strafverfolgung, weil er einen Minderjährigen zu seinem Vater nach Deutschland gebracht haben soll. Im Jahr 2015 nahm die Bundespolizei 3370 Schleuser fest, in diesem Jahr waren es bis Ende September 743, die meisten von ihnen Syrer, Deutsche kommen an vierter Stelle. Die Grenzschützer unterscheiden auch nicht zwischen gewerbsmäßigen Schleppern, die Menschen in Lieferwagen pferchen, und Leuten wie Dehm, bei denen Gutwilligkeit im Vordergrund zu stehen scheint.

Er ist, wenn man so will, einer aus der großen Gilde zeitgenössischer Fluchthelfer, Heinz’ Nachfolger gewissermaßen. Doch auch in diesem Punkt scheint die beiden mehr voneinander zu unterscheiden, als sie eint. Ihre größte Gemeinsamkeit mag die Gewissheit sein, dass man Gesetze durchaus brechen kann. Wenn es aus Überzeugung geschieht.

Menschlichkeit lässt sich nicht national einengen und steht international anerkannt in moralischem Erwägen eindeutig über der politischen Kategorie. Menschliches Wohlwollen beinhaltet Erkenntnis. Dies ist sicherlich nicht jedem gegeben.

schreibt NutzerIn joergerdenfre

Seine Geschichte ist schwer verkäuflich

Heinz sitzt in einem großen Raum seines großen Hauses in Berlin-Zehlendorf. Im Nebenzimmer steht der Flügel, draußen im großen Garten spielt der Hund mit irgendetwas, nahebei ist ein See. In der letzten Zeit hat Heinz sich Gedanken gemacht, er hat ein Buch über seine Fluchthelfer-Zeit im Berlin der 60er Jahre geschrieben und über den DDR-Gefängnisaufenthalt, der sich daraus ergab. „Der Preis der Freiheit“ heißt es. Er war gerade auf der Frankfurter Buchmesse deswegen, ist dort durch die Gänge gelaufen und hat bei ausländischen Verlagen nachgefragt, ob sie Interesse an seiner Geschichte hätten. Hatte niemand.

Heinz ist ein anderer geworden

Heinz klingt ernüchtert. Wie jemand, der erkennen muss, dass die einstige Weltgeschichte jetzt wirklich nur noch etwas für die Alten ist und für die schwerverkäuflichen, dicken Historienbücher. Jemand, der bemerkt, dass die Zeiten sich grundlegend und unumkehrbar geändert haben müssen. Die Berliner Mauer, die deutsche Teilung, sie sind endgültig Geschichte geworden.

Heinz selbst ist ja auch ein Anderer geworden. Wer diesen durchweg fein und bedächtig wirkenden Herren betrachtet und ihm zuhört, hat Schwierigkeiten damit, in ihm den jungen Fluchthelfer zu sehen, der von Staatssicherheitsmitarbeitern beobachtet und durch Ost-Berliner U-Bahnhöfe gehetzt wird.

Irgendwann flog Heinz auf

Damals wie heute war Fluchthilfe ein Riesengeschäft. Volker G. Heinz aber brachte Menschen selbstlos über die Grenze.
Damals wie heute war Fluchthilfe ein Riesengeschäft. Volker G. Heinz aber brachte Menschen selbstlos über die Grenze.

© Kitty Kleist-Heinrich

Überhaupt schon der Begriff Fluchthelfer. Damals wurde er zumindest in der westdeutschen und der West-Berliner Öffentlichkeit für Menschen wie Heinz gebraucht. Heute sagt man gemeinhin Schlepper. Der eine hilft, der andere muss verschlagen sein. Der eine, Heinz, wurde bestraft vom Staat, aus dem er die Menschen herausbrachte. Der andere, Dehm, bekommt heute die Folgen dort zu spüren, wo er die Menschen hingebracht hat. Heinz war angehalten zu größter Konspiration, Dehms Tat wurde öffentlich durch den Eintrag einer Flüchtlingshelferin auf seiner Facebook-Seite: „Er lud ihn kurzerhand in sein Auto und brachte ihn über drei Grenzen nach Deutschland. Hatte ich eigentlich nicht erwartet! Danke, Diether Dehm.“

„Meine Furchtarmut ist das Produkt meiner Eltern“

Seinerzeit unternahm die Bundesrepublik wie im Fall Heinz große Anstrengungen, um gefasste Fluchthelfer-Schlepper aus den DDR-Gefängnissen heraus- und wieder nach Hause zu bringen. Nun verhandelt sie mit den Herkunftsländern der Einwanderer, damit diese dorthin zurückgeflogen werden können.

Volker G. Heinz, geboren in Kassel als Sohn eines Fabrikdirektors. Erzogen, ohne materielle und seelische Probleme, wie er sagt, „zu einem stabilen jungen Mann, dem die Welt offenstand“. Nichts habe ihm passieren können, „man konnte alles studieren, das Zeugnis war egal.“ Er bekam Griechisch-, Latein- und Französisch-Unterricht, war Mitglied in einer Studentenverbindung. „Meine Furchtarmut ist das Produkt meiner Eltern.“

Diese Furchtarmut, ein paar Zufälle und zwei Gastsemester an der Freien Universität von West-Berlin haben aus Heinz um die Jahreswende 1965/66 herum einen Mann gemacht, der 66 DDR-Bürgern dabei half, die Grenze zu überqueren.

Die günstigste Fahrt übers Mittelmeer: heute 700 Euro

Als Zugereister empfand er die Ungerechtigkeit dieser Stadt mehr noch vielleicht als die Berliner, die damals schon vier Jahre lang mit der Mauer lebten. Dann ergab sich eine Begegnung mit einem Fluchthelfer. „Das war der Durchbruch“, sagt Heinz. „Der Moment, ah, da ist was, was man dagegen tun kann.“ Er erkundete fortan das Terrain in der Osthälfte der Stadt, traf die zur Flucht Entschlossenen, sprach mit ihnen auf offener Straße in zuvor vereinbarten Worten und führte sie schließlich in die Außenbezirke, dorthin, wo jener weiße Mercedes wartete. Ein Diplomatenauto, von Heinz’ Fluchthilfeorganisation angeschafft für einen wohl auch darüber hinaus üppig entlohnten syrischen Konsul in Ost-Berlin, der die Grenze zwischen Ost und West ungehindert passieren durfte. Dass Fluchthilfe auch damals schon oft ein Geschäft gewesen ist, erfuhr Heinz erst später. 15 000 D-Mark hatte jeder Fluchtwillige an Heinz’ Organisation zu zahlen, er selber bekam seine Spesen erstattet. Mehr hat ihn nie interessiert. Heutzutage soll die günstigste Fahrt über das Mittelmeer 700 Euro kosten.

"Sie sind verhaftet"

Irgendwann fiel Heinz auf. Er hat nichts geahnt. Eine Fluchtvorbereitung war vermeintlich geglückt, Heinz fuhr zurück zum Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße. Seiner Erinnerung nach hörte er dort eine Stimme sagen: „Sie sind verhaftet.“

Im Protokoll, das seine Überstellung in das Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Hohenschönhausen dokumentiert, steht: „hellblond, Augenfarbe hellbraun. Frisur Scheitel links“. Aus hellblond ist weiß geworden, der Rest stimmt noch.

„Die Leute damals waren im Gegensatz zu vielen heute nicht in unmittelbarer Lebensgefahr“, sagt er. Der zweite Unterschied zu früher sei die Zahl der Flüchtenden. Dritter Unterschied: die Kultur. Heinz berichtet über seine Beobachtungen zu Zeiten der beginnenden Gastarbeiter-Anwerbung und davon, dass einige der Neuankömmlinge nicht wussten, wie mit europäischen Kloschüsseln umzugehen sei. Vierter Punkt: „Ein DDR-Bürger, der damals bundesdeutsches Gebiet betrat, war fortan Staatsbürger hier.“

"Die Leute wollen weg - nach wie vor"

Diether Dehm droht Strafverfolgung.
Diether Dehm droht Strafverfolgung.

© Kay Nietfeld/dpa

Flucht ist nicht mehr gleich Flucht, soll das heißen. Mögen die Gründe dafür heute oft gravierender sein als früher, irgendein gesellschaftlich akzeptiertes Maß scheint mittlerweile überschritten.

Dehm muss das ähnlich sehen. Er sagt, er sei ein großer Freund von Staatsgrenzen, „no nation, no border – ich bin ein ausgesprochener Gegner dieser neoliberalen Mode-Linken-Pose“, sagt er.

Er sitzt zigarrerauchend in einem Salon der Parlamentarischen Gesellschaft, dem einstigen Reichspräsidentenpalais gegenüber dem Reichstag. Unten, vor den Fenstern, stand einmal die Mauer.

"Will er nach dem Krieg zurück? Ja, das will er"

„Der Nationalstaat ist kein Ideal“, sagt Dehm, „aber er kann Tarifverträge, Sozialstaat, Parlamentarierkontrolle etwa gegen Militäreinsätze, er kann Transparenz und Rechtsstaat eher schützen als die EU. Die EU ist so, mit ihren miserablen Verträgen, primär bloß eine Freihandelszone.“ Und „wenn der Nationalstaat besteht, definiert er sich natürlich auch durch seine Grenzen.“

Dehm wird moralisch. Er sagt den Satz mit der Pflicht. „Es gibt aber immer Ausnahmen, welche eine Regel bestätigen: Wo Schutzbedürftigkeit vom Dubliner oder Genfer Regelwerk nicht erfasst ist, wird daraus Christen- oder Sozialisten-, jedenfalls Gewissenspflicht. Zum Beispiel, wenn minderjährige Kriegsopfer über den Erdball geschubst werden.“

Das Misstrauen ist größer geworden

Außerdem, sagt er, habe er seinen Flüchtling geprüft. „Will er nach dem Krieg zurück? Ja, das will er! Dann besser ausgebildet.“

Hat er „irgendwelche rassistische, beispielsweise antisemitische Vorurteile? „Nee, im Vergleich zu mancherlei Dresdner Eingeborenen: null!“

Hat er sich schon mal mit dem Land beschäftigt, in das er zu reisen gedenkt? Ja.

Drei Tage habe die Prozedur gedauert, in Dehms Haus in Italien, „nachdem der Junge sich erst mal satt gegessen und 25 Stunden lang ausgeschlafen hatte“.

Heinz kannte im Regelfall – die Konspiration gebot es so – weder Namen noch die Gründe der Menschen, die er über den Checkpoint Charlie brachte. Das Misstrauen ist größer geworden in der Zwischenzeit. Zusammen mit der Zahl der Menschen, die kommen, und der Löchrigkeit der Grenze.

Im DDR-Gefängnis kamen Heinz die Zweifel

Er hat, das deutet Heinz an, das Buch nicht besonders gern geschrieben. Am Ende haben ihn seine Kinder dazu gedrängt, sagt er. Sein Unwille könnte damit zu tun haben, dass sein Preis für seine Selbstlosigkeit vor 50 Jahren ein hoher gewesen ist. Er war im DDR-Gefängnis deswegen, er bekam Zweifel an sich und an seiner Zukunft, vielleicht zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben. Er war am Ende.

Irgendwann hat er sich schließlich hingesetzt, in seinen Erinnerungen geforscht und in Archiven. In wissenschaftlichen Abhandlungen über die Häftlings-Freikaufgeschäfte der Bundesrepublik fand er seinen Namen. Er hat Beziehungen spielen lassen, um an Akten zu gelangen. Dass er vor vier Jahren das Bundesverdienstkreuz verliehen bekam, half ein wenig dabei. Heinz fing an zu schreiben.

Die Erinnerung schwindet

Der junge Heinz – so beschreibt es der alte in seinem Buch – steht Anfang des Jahres 1966 auf einer Maueraussichtsplattform in Kreuzberg und räsoniert über die vielen, damals schon legendären Tunnelfluchten, die sich oft zwischen Wedding, Mitte und Prenzlauer Berg abspielten. Irrational aufwendig seien die gewesen, findet er. Haufenweise Leute hat man gebraucht, um die Tunnel zu graben – und dann sind sie regelmäßig und rasch entdeckt worden.

Wie wäre es also, für Fluchten künftig einfachere Wege zu benutzen?, fragt er sich. Diplomaten vielleicht, die unbehelligt die Sektorengrenze überschreiten durften, mit Autos? Dann, so steht es in seinem Buch, schweift sein Blick zum Fernsehturm. Von dem aber stand zu jener Zeit nur das Fundament.

Auch Heinz’ Erinnerung an die alten Mauerzeiten schwindet. Es ist wirklich lange her. Sonst hat sich nichts geändert. Die Leute wollen weg.

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