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Roll out. Über die Zukunft des Tempelhofer Feldes stimmen die Berliner am Sonntag ab.

© dpa

Volksentscheid Tempelhofer Feld: Die durchregulierte Freiheit

Was das Tempelhofer Feld ausmacht? Die große Freiheit, sagen die Bebauungsgegner. Dabei wimmelt es hier von Regeln und Verboten. Ein Besuch.

Die Lichtkegel der Scheinwerfer tanzen über die dunkle Startbahn. Rechts, links, rechts, links, geradeaus. In Schlangenlinien geht es über den Asphalt, dann über einen buckligen Weg, bis der Wagen vor einem Häuschen stehen bleibt. Der Fahrer sieht, was seine Scheinwerfer beleuchten: Rasen und ein graues Gebäude hinter Maschendrahtzaun. Im vergangenen Sommer wollten Raver dort heimlich eine Party veranstalten, erzählt er. Mit Musikanlage und Generator. Einmal hat er jemanden in einer Mülltonne entdeckt, der unbedingt im Park übernachten wollte.

Der Fahrer ist Gert Köppe, Sicherheitsmann, Ende 40, groß, mit mächtigem Bauch und freundlichem Gesicht. Mit fünf Kollegen soll er dafür sorgen, dass sich zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang niemand auf dem Feld herumtreibt. Ausgerüstet mit großen Taschenlampen und Funktelefonen, in dunkelblauen Uniformen – Cargo-Hosen zu Polohemd – fahren sie in zwei weißen Firmenwagen über das Gelände. Früher hat Köppe jahrelang in einem Neuköllner Einkaufszentrum kontrolliert. Hier gefällt es ihm besser. „Wo hat man sonst schon so eine Sicht?“, fragt er und antwortet gleich selbst: „nur am Meer“.

Nur am Meer oder hier auf dem Tempelhofer Feld mitten in Berlin. Vielleicht ist Köppes Vergleich der beste Weg, sich dem Begriff zu nähern, der auch zu diesem Gelände gehört, obwohl er – gerade jetzt, da Köppe und Kollegen auf Streife sind – vollkommen unpassend wirkt: Freiheit. So heißen die 380 Hektar nämlich auch. Tempelhofer Freiheit. Dabei gibt es zwischen den Grillzonen, Toilettenhäuschen, Hundefreilaufzonen, den Ruhezonen und den Vögelnistzonen für alles irgendwelche Hinweisschilder und Regeln. Bewacht 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, eingezäunt und abgeriegelt und bei Sonnenuntergang zu verlassen.

Kann man die Freiheit einsperren? Muss man?

Geht das? Kann man die Freiheit einsperren? Oder ist das manchmal sogar notwendig? Auch das Meer ist schließlich keine unregulierte, rechtsfreie Zone und bleibt doch ein Sehnsuchtsort. Der Blick zum Horizont ist ein Versprechen auf viele Möglichkeiten, nicht nur die eine, die sichtbare. Deshalb stehen Menschen am Ufer und freuen sich an dem Nichts, das sich vor ihren Füßen ausbreitet – und wollen, dass es ein Nichts bleibt.

Was die Besucher des Parks denken

An diesem Sonntag wird abgestimmt über die Zukunft des Berliner Innenstadtareals. Das haben diejenigen bewirkt, die der Fläche Freiheit gewähren wollen. Freiheit von Nutzungskonzepten, von Randbebauungsplänen, von Entscheidern, Vorschreibern, Bevormundern. Sie wollen den Platz lassen, wie er ist: frei und weit. Eine Kostbarkeit, die in Städten sonst nicht mehr vorkommt.

Diese Freiheitskämpfer nennen sich „100 Prozent Tempelhofer Feld“. Ihr Gegenspieler ist paradoxerweise derjenige, der das Wort Freiheit im Zusammenhang mit dem außer Dienst gestellten Flugplatz erst erfand: der Berliner Senat. Aber die Frage ist: Um wessen Freiheit geht es hier eigentlich?

Ein Spaziergänger fürchtet um seine Sicherheit

Nachmittags, mitten auf der Startbahn. Ein 60-jähriger Spaziergänger aus Neukölln schaut verunsichert in die Luft, auf den Drachen eines Kiteskaters. „Wenn ich hier entlanglaufe, habe ich immer ein wenig Angst, dass mich eine Schnur erwischt“, sagt er. Am liebsten würde er die Kiter, Skater und Drachenfreunde nur zu ganz bestimmten Uhrzeiten – „nicht am Wochenende!“ – und auf einer bestimmten Fläche sehen. „Es kann schließlich viel passieren!“ Im vergangenen Jahr ist ein Radler mit einem Jogger zusammengestoßen, vor zwei Jahren hat ein Radfahrer ein dreijähriges Mädchen umgefahren, Unfälle mit Kiteskatern oder Windskatern sind bisher keine gemeldet worden. „Und wie soll das bloß werden, wenn hier wirklich gebaut wird? Dann ist gar kein Platz mehr für niemanden!“

Abends, Eingang Oderstraße. Eine Frau aus dem angrenzenden Schillerkiez betritt mit ihrem Hund das Feld – und muss erst mal hüsteln. Eine dicke Rauchschwade zieht von der Grillzone herüber. Vor lauter Grillern ist dort keine Wiese mehr zu sehen. „Wenn es nach mir ginge, dann müsste die Grillzone viel kleiner sein“, sagt die Frau, als sich die Wolke verzogen hat. „Dieser Rauch ist so eine Beeinträchtigung für die anderen Menschen auf dem Feld, man kann ja kaum atmen.“ Für sie, als Hundehalterin, gelten schließlich auch strenge Regeln, ihren Hund dürfe sie ja außerhalb der Hundeauslaufzone nicht frei herumlaufen lassen.

Freiheit von Regeln? Im Gegenteil

Freiheit für das Tempelhofer Feld, das soll ganz offenkundig nicht heißen: Freiheit von Regeln für das Tempelhofer Feld. Im Gegenteil. Die Regularien, der Sicherheitsdienst, all das wird geschätzt. Und manche wollen offenbar sogar noch mehr davon. Solange die Regeln der Freiheit dienen, statt sie zu bedrohen.

Dort, wo die Berliner den ehemaligen Flughafen gestalten dürfen, auf den sogenannten Pionierflächen, halten sich jedenfalls alle an die Spielregeln. Die Kleingärtner achten darauf, dass nichts über die erlaubte Fläche wuchert, dass die Wurzeln der Pflanzen nicht in den Boden wachsen, sondern in den Beeten bleiben. Und trotz der strengen Regeln empfinden auch die Gärtner das Feld als Ort der Freiheit. „Dass wir die Gärten komplett selbst organisieren können und dass wir ganz ohne Zäune auskommen, das ist eine große Freiheit“, sagt Iris Bührmann, 71 Jahre alt.

Wo der Name "Tempelhofer Freiheit" herkommt

Die Menschen, denen die Regeln zu viele sind und denen die Freiheit zu wenig ist, gibt es aber auch. Außerhalb des Parks, an der Oderstraße, steht in großen Lettern an einer Hauswand „Scheiß Sicherheits-Dienst“, so groß und so weiß, dass Gert Köppe den Spruch sieht, wenn er nachts mit dem Auto Schlangenlinien über das Feld fährt.

Ein Mann im Porsche raste mit Tempo 180 über das Feld

Einmal, so erzählt Köppe, sei ein Mann mit seinem Porsche auf das Feld gebrettert, als gerade eine Schranke offen war, und mit Tempo 180 über die Startbahn gerast. Und vor wenigen Wochen habe einer nachts den Zaun überwunden, die Fenster des Info-Containers eingeschlagen, der über die Pläne des Senats informiert und hat den Innenraum mit brauner Farbe besprüht. Überhaupt klettern immer wieder Menschen mitten in der Nacht über den Zaun.

„Tempelhofer Freiheit“ war im Jahr 2007 der inoffizielle Projektname des ersten Onlinedialogs zwischen Politik und Bürgern über die Nachnutzung des Flughafengeländes. Der offizielle Name lautete: „Bürgerbeteiligung zur Ideenfindung Tempelhofer Freiheit“. Als aber zu viele Berliner begannen, den inoffiziellen Begriff wörtlich zu nehmen und lautstark und tatkräftig forderten, den aus Flughafenzeiten stammenden Zaun um das Gelände abzureißen, beschloss der Senat, das Wort „Freiheit“ im Zusammenhang mit dem Tempelhofer Feld nicht mehr zu benutzen. Im Mai 2010 war das auch wieder vergessen. Da wurde der Park mit den vielen Regularien, der auf dem Feld gebaut worden war, eröffnet. Und der Senat stellte die nicht ganz störungsfreie Eröffnungsfeier unter das nicht ganz passende Motto „Bewegungsfreiheit“. Im September des Jahres beschloss die damalige Stadtentwicklungssenatorin dann sogar, den Namen „Tempelhofer Freiheit“ wieder zu verwenden und zwar für den Dreiklang Feld, Flughafengebäude, Folgenutzung.

Der Senat will bauen. In Berlin fehlen Wohnungen

Um Letzteres geht es an diesem Sonntag. Um Folgenutzung als Wohnraum. Der Senat will eine Randbebauung des Areals, schließlich fehlen in Berlin Wohnungen. Aber wie genau die Randbebauung aussehen wird, da hat er sich bisher nicht festgelegt. Skeptiker meinen nun, dem Senat gehe es vor allem um die Freiheit, bauen zu können, was ihm passt. Und die wollen sie ihm nicht gewähren. Schließlich würde das die Freiheit von vielen anderen einschränken.

An schönen Tagen, wenn sich der Himmel hoch und blau über dem Tempelhofer Feld spannt, grenzenlos und vielversprechend, scheint das Glücksgefühl, das die West-Berliner damals beim Anblick der Rosinenbomber begleitet haben mag, verblüffend gegenwärtig. „Wenn ich über das Feld fahre – mitten in der Stadt – ist das für mich absolute Freiheit“, sagt ein Windskater, der auf sein Longboard ein Windsurfsegel montiert hat und gleich losrasen wird. Eine junge Joggerin erklärt am Eingang Columbiadamm, „sobald ich hier bin und bis zum Horizont sehe, fühle ich mich frei – vom Stress, vom Alltag.“

Jede freie Minute ist er auf dem Feld

Diese glücklich machende Freiheit kennt auch Frank Angermüller. Er wohnt in der Nähe, im Bezirk Tempelhof. Fünf Tage die Woche, acht Stunden am Tag telefoniert der Mittvierziger in einem Callcenter für Geschäftskunden. Zwei Tage in der Woche, acht Stunden am Tag ist er für „100 Prozent Tempelhofer Feld“ im Einsatz, seit eineinhalb Jahren. Bis Januar sammelte er Unterschriften für das Volksbegehren, seit Februar informiert er an Infoständen über die Bebauungspläne des Senats. Davor verbrachte er jede freie Minute auf dem Feld, mit den Inlinern oder mit einer Decke und einem Buch. Er will, dass das Feld so bleibt wie es ist. Frei. Gleichzeitig findet er es gut, dass der ehemalige Flughafen ein besonders kontrollierter Park ist. „Wenn das Feld nicht bewacht würde, dann würde es vielleicht bald aussehen wie die Hasenheide“, sagt er und meint die Drogen und den Dreck, das Ungemütliche. „Das wäre nicht schön.“ Dabei hätte gerade Frank Angermüller allen Grund, über die ständigen Kontrollen und die Sicherheitsmänner zu klagen. Eine Zeit lang nämlich wurden er und die anderen von „100 Prozent Tempelhofer Feld“ von Köppes Wachmännern vom Gelände gejagt, wenn sie dort für die Freiheit des Feldes warben. Und noch immer müssen sie gehen, wenn sie einen Tisch auf dem Gelände aufstellen.

KZ und Luftbrücke: Die bewegte Vergangenheit des Flugfeldes

Auch die Stadt hat also eine Vorstellung davon, wie die Freiheit geregelt werden soll. Dabei war es keinesfalls der Berliner Senat, der den Begriff für die Stadtplanung erfunden hat. In Hamburg heißt eine Seitenstraße der Reeperbahn „Große Freiheit“, weil dort im 16. Jahrhundert jene privilegierten Handwerker lebten, die Religions- und Gewerbefreiheit genossen und sich nicht in Zünften zusammenschließen mussten. In München erinnert der Platz „Münchner Freiheit“ in Schwabing an die Widerstandsgruppe „Freiheitsaktion Bayern“, die kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Widerstand gegen die verbleibenden NS-Truppen aufrief. Auf dem Flughafen Tempelhof dagegen befand sich während der NS-Zeit die „Flugzeugfabrik des Reichsluftfahrtministeriums“, bis 1934 lag außerdem das SS-Gefängnis Columbiahaus auf dem Gelände, bis 1936 das Konzentrationslager Columbia. Und das nennen sie dann Freiheit? Es gab Berliner, die sich vor der Eröffnung darüber aufgeregt haben, über diese Ignoranz.

Über Tempelhof führte die Luftbrücke

An Freiheit wurde erst wieder während der Blockade im Jahr 1948 gedacht, als die Sowjetunion alle Zufahrtswege zu den westlichen Besatzungszonen in Berlin versperrte und den Westen der Stadt damit vom Rest der Welt abschnitt. Nun war nur noch der Himmel frei, und über den Tempelhofer Flughafen wurde die Luftbrücke organisiert, brachten amerikanische und britische Flugzeuge die Versorgungspakete. Später blieb der kleine Tempelhofer Flughafen für West-Berlin, das endgültig zur Insel in der DDR geworden war, noch jahrelang der wichtigste und schnellste Weg in die Ferne, in die Freiheit.

Köppes Wagen rollt auf seiner abendlichen Kontrollrunde wieder über die Startbahn, die im Dunkeln nur noch Schemen zeigt. Das erste Tor zum Park ist seit einer halben Stunde geschlossen. Da sieht Köppe einen jungen Mann, der zu Fuß unterwegs ist, in der einen Hand eine Bierflasche, in der anderen eine Zigarette. Köppe fährt seitlich an den Mann heran.

„N’ Abend. Alles klar?“

„Bin auf dem Weg nach draußen“, sagt der junge Mann und zeigt auf den Ausgang Tempelhofer Damm.

„Dann guten Heimweg.“

Danke, Tschüss. Kein Gezeter, kein Gemecker. Weiter geht es im Zick- Zack-Kurs. Köppe hat Verständnis für die Regelbrecher, die sich ärgern, wenn sie gehen sollen, obwohl es doch so schön ist, wenn der Tag sich zum Ende neigt.

Köppe fährt noch mal zum Schießstand, für alle Fälle, es könnte ja jemand im Wäldchen neben dem Häuschen die Kontrolle abgewartet haben. Fernlicht an, Fernlicht aus. Nichts Auffälliges.

Auch der Wachmann findet es schade, wenn er gehen muss

Dann fährt er zum Bürogebäude in der nordöstlichen Ecke des Geländes, das auch der Aufenthaltsraum des Wachpersonals ist. „Man kann es nicht allen recht machen", sagt er. „Mancher erklärt mir, er sei ein freier Bürger, wenn ich ihm abends sage, dass er jetzt das Feld verlassen muss.“

Köppe setzt sich an seinen Schreibtisch und schreibt das Protokoll. Später sagt er, er fände es schade, wenn er das Feld verlassen müsste.

Inzwischen ist es stockdunkel geworden, und die Nacht hat verschluckt, was das Tempelhofer Feld ausmacht: das Weite, die Größe. So wie die Unendlichkeit des Meeres in der Nacht verschwindet, und der Blick zum Horizont im Dunkeln nicht mehr ist als eine Erinnerung – und eine Hoffnung für den neuen Tag.

Der Text erschien auf der Dritten Seite.

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