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Wer glaubt, dass bei dieser Wahl nichts auf dem Spiel steht, war nicht draußen im Land unterwegs.

© dpa

Vor der Bundestagswahl: Was die Menschen in Deutschland bewegt

Was bewegt die Republik? Unsere Reporter waren überall im Land unterwegs, um all den Problemen und Menschen zu begegnen, die die Wahl entscheiden.

Der Weg war immer derselbe. Die Maximilianstraße entlang, dann durchs Hauptportal, weiter über die quadratischen Sandsteinplatten durch das 30 Meter hohe Mittelschiff zum Hauptaltar. Aus der Orgel tönte Bachs Toccata und Fuge in d-Moll, und Helmut Kohl, neben seinem Staatsgast, ließ seinen Bass durch den Dom zu Speyer dröhnen: „Das ist Deutschland!“

Peter Schappert erzählt die Anekdote an seinem Schreibtisch im Verwaltungsgebäude neben dem Dom. Der Domkapitular des Bistums Speyer kann jetzt nicht genau sagen, wem alles Kohl so simpel Deutschland erklärt hat. Es könnten Gorbatschow, der alte Bush, Frau Thatcher oder der Papst gewesen sein.

Für Kohl war dieser Dom das Sinnbild seines Landes. Der Kirchenbau steht für Deutschlands Vergangenheit, genauso wie für Kohls Versuch, aus dieser Vergangenheit eine Gegenwart und eine Zukunft abzuleiten. Die Weltenlenker, die der Bundeskanzler herführte, sollten sich beim Blick auf die Kirche ein Bild machen von der von ihm regierten Republik, auf dass sie künftig besser verstünden, was dieses Land im Grunde sei und was es sein wolle. Hier, im Dom, war Kohl aufgebahrt, hier fand die Totenmesse statt, auf dem Friedhof des Domkapitels ist er begraben.

Aber ist damit tatsächlich Deutschland beschrieben? Mit einem Dom, dessen Geschichte und Bach? Deutschland ist mittlerweile auch Asylbewerberkrise und Stuttgarter Dieseldreckluft. Deutschland ist vernachlässigte Infrastruktur. Die für Normalverdiener unbewohnbar werdenden Städte sind Deutschland, Terroristen auch und ihre Opfer und die vom Staat ignorierte Alltagskriminalität. Muslime und die Menschen in den neuen Bundesländern ebenso wie die nicht beantwortete Frage, aus welchen Quellen das Land künftig seinen Strom und seinen Wohlstand beziehen soll. Auch Wut gehört zu Deutschland.

Wer all dem begegnen will, was Menschen in Deutschland vor der Bundestagswahl bewegt, der muss Speyer verlassen und sich auf eine Reise durch die Republik begeben ...

Dresden, wo Pegida auch schon mal aktiver war

Heiko Müller - Wutbürger aus Dresden. Pegida-Sympathisant, AfD-Mitglied, besorgt.
Heiko Müller - Wutbürger aus Dresden. Pegida-Sympathisant, AfD-Mitglied, besorgt.

© Tobias Wolf

Heiko Müller schaut kopfschüttelnd auf die drei diskutierenden Männer auf seiner Veranda, mit Rotweingläsern in den Händen stehen sie da, ein AfD-Plakate-Stapel liegt vor ihnen. Müller hat sie bei Pegida kennengelernt, sie bringen ihm die Wahlwerbung vorbei und sollen sie jetzt sortieren, damit er die Plakate endlich in der Nachbarschaft aufhängen kann. „Die sollen arbeiten“, sagt Müller, „so viel Unfähigkeit nervt mich.“

Müller ist 53 Jahre alt und lebt in einem der besseren Viertel im an besseren Vierteln nicht armen Dresden. Alte Villen stehen hier, viele Lichtmasten auch, mit vielen AfD-Plakaten dran, manchmal hängen acht übereinander. „Wenige machen etwas, die meisten labern nur“, sagt Müller. Er, der in der DDR ein wenig politisiert wurde und im Wendeherbst einige Tage im Stasi-Gefängnis war. Der danach 25 Jahre lang kaum Probleme mit der etablierten Politik hatte. Bis Pegida kam, im Herbst 2014. Der erste wirklich nicht mehr zu übersehende Kristallisationskern der Unzufriedenheit mit Vielem und Vielen im Land, der sich bald zur Anti-Islam- und Anti-Einwandererbewegung verdichtete – und bald immer größer wurde.

"Aufmüpfig sein ist geil"

Müller ging hin. Mit der Regenbogenfahne. „Aufmüpfig sein ist geil“, sagt er. „Bei Pegida fühlte ich mich 25 Jahre zurückversetzt.“ Aufbruchstimmung, Gänsehaut, Provokationen.

Müller sieht sich als Versteher von Wendeverlierern, armen Rentnern, Arbeits- und Obdachlosen. Das einfache Volk. Er selbst ist das nicht. Der Florist ist schwul und arbeitet in der Firma seines Mannes, bewohnt mit ihm und zwei Katzen das Erdgeschoss einer Villa, 160 Quadratmeter, 850 Euro Kaltmiete. Müller hat sich ein Wohlstandsleben eingerichtet, mit Cabrio und zwei Urlauben auf Gran Canaria pro Jahr.

Ein Rassist oder Neonazi will er nicht sein, hat aber kein Problem, wenn solche neben ihm auf einer Demo stehen. Müller ist inzwischen AfD-Mitglied, geht zu Podiumsdiskussionen und ist oft dabei, wenn Anhänger seiner Partei, der NPD oder von Pegida öffentlich pöbeln. Dafür nimmt er sich sogar Urlaub, zuletzt für einen Auftritt der Kanzlerin in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge. Dann holt er seine Trillerpfeife raus.

Hauptsache, es geht gegen Autoritäten: Müller misstraut grundsätzlich dem von oben herab gesprochenen, mit Macht oder Ämtern unterfütterten Wort.

"Pegida? Ein totgerittenes Pferd!"

Andererseits habe er mal ein gutes Gespräch mit Vizekanzler Sigmar Gabriel bei einem Wahlkampftermin in Dresden geführt, sagt Müller. Er hat an alle Bundestagsabgeordneten geschrieben, sie sollten ihm antworten, was sie von Volksentscheiden auf Bundesebene hielten. Müller fordert solche Entscheide, auch, damit sich so etwas wie 2015 nicht wiederholen könne, die widerrechtliche Einwanderung von Hunderttausenden Menschen, deren Versorgung aus Steuern finanziert werde. Er selbst habe einem Einwanderer aber auch einmal geholfen, einem Albaner, bei der Suche nach einer Anstellung als Pfleger. Der habe ihm gesagt, er wolle in Deutschland Geld verdienen. Klassischer Wirtschaftsflüchtling, aber „der war wenigstens ehrlich zu mir“.

Heiko Müller, der Wutbürger, der als Drag Queen beim Christopher Street Day aufläuft und ein Pegida-Urgestein ist; den Menschen, die mit ihm zu tun haben, eine streitsüchtige Nervensäge nennen; der etwas gegen Dauerquatscher und Trägheit hat – geht er eigentlich noch zu Pegida? „Ein totgerittenes Pferd“, sagt Müller. „Immer die gleichen Sprüche“, alles sei zum Event verkommen. Das mache ihn wütend.

Stuttgart, wo der Diesel ewig währt

Stuttgart ist mit Daimler verbunden wie kaum eine andere Stadt. Die Bewohner halten zum Konzern. Trotz Dieselskandal.
Stuttgart ist mit Daimler verbunden wie kaum eine andere Stadt. Die Bewohner halten zum Konzern. Trotz Dieselskandal.

© dpa

Am schlimmsten ist es donnerstags. Immer so ab halb vier, „wenn die Leute vom Daimler sich zu Geschäftsterminen verabschieden und zum Flughafen wollen“, sagt Dishad Babar. Er fährt sie dann mit seinem Taxi vom Daimler-Stammwerk im Stadtteil Untertürkheim aus dem Talkessel, selbstverständlich in einer Limousine aus ortsansässiger Produktion. Blech an Blech reiht sich dann an den Ausfallstraßen, alle blasen ihre Abgase hinunter in die Stadt. Wer oben steht, hat einen grandiosen Ausblick auf die graubraunen Schwaden, die sich über Stuttgart legen, die Stadt von Mercedes und Porsche. Auf die Hauptstadt des deutschen Autos, des Staus und des Smog.

"Die Leute wissen, woher der Reichtum kommt"

„Es gibt nichts Besseres als einen Diesel von Mercedes“, sagt Dishad Babar. „Sparsam im Verbrauch, dazu mit einer langen Lebensleistung.“ Seit zehn Jahren fährt er Taxi in Stuttgart, hat nie die Stunden im Stau gezählt, „da würde ich ja wahnsinnig werden“. Wird alles immer schlimmer, „vor allem durch die Grünen. Was soll das mit den Geschwindigkeitsbegrenzungen und den längeren Rotphasen an den Ampeln? Glauben die wirklich, dass es dadurch weniger Abgase gibt?“ Er habe jedenfalls keine Angst vor Fahrverboten, wie sie ab Januar 2018 angedroht sind. Und nie würde er sich einen anderen Wagen anschaffen als einen Mercedes Diesel. Nicht mal jetzt? „Hören Sie sich mal um in der Stadt. Stuttgart ist reich, und die Leute wissen, woher der Reichtum kommt.“ Aus Untertürkheim zum Beispiel.

Dishad Babar fährt oft Kunden vom Daimler Stammwerk in Stuttgart. Und würde nie auf seinen Diesel verzichten.
Dishad Babar fährt oft Kunden vom Daimler Stammwerk in Stuttgart. Und würde nie auf seinen Diesel verzichten.

© privat

Eine der berüchtigsten Staustrecken führt über die Weinsteige, den Verbindungsweg aus dem Talkessel zu den Vororten im Südwesten, nach Degerloch oder Möhringen, breit gewalzte Asphaltbänder und täglich 45 000 Autos. Der „Spiegel“ hat die Weinsteige mal „die asthmatische Lunge der Autobauerstadt“ genannt. Babar bestreitet das nicht, „ich fahre hier jeden Tag kranke Leute“, sagt er, „und natürlich weiß ich, dass sie durch die Autos krank werden“, Krebs und so. „Das sind keine angenehmen Gespräche.“

Babar dreht den Kopf – sein Wagen steht schon wieder seit Minuten: Neulich habe er einen Ingenieur zum Flughafen gefahren, „der hat gesagt: Lassen Sie sich bloß nichts gegen den Diesel erzählen. Der meiste Dreck kommt von den Bremsen und den Reifen.“

Leipzig, wo die Bürger sich selbst schützen

Leipzig boomt. Auch was die Verbrechenszahlen betrifft.
Leipzig boomt. Auch was die Verbrechenszahlen betrifft.

© picture alliance / Jan Woitas/dp

Das Fahrrad wäre eine Möglichkeit. Ist es auch längst, überall im Land und deshalb auch hier in Leipzig, einer Stadt, deren Einwohnerzahl wächst wie die in München und in der es deshalb enger und schmutziger wird. Eine Stadt, in der gleichzeitig die Zahl der Verbrechen steigt – auch was den Diebstahl von Fahrrädern angeht. Nach Münster ist Leipzig die Stadt in Deutschland, in der pro Kopf die meisten Fahrräder gestohlen werden. Die Aufklärungsquote beträgt sechs Prozent. Das Bedürfnis der Bürger nach Selbstschutz wächst.

Suse Brand und Alexandra Baum arbeiten im Stadtteil Plagwitz, in Halle 14 einer einstigen Baumwollspinnerei. In ein paar Wochen werden die Firmengründerinnen ihr Produkt in den Handel bringen. Das „tex-lock“, ein textilbasiertes Fahrradschloss. Das nötige Geld war über Crowdfunding schnell beisammen, es gibt mehr als 5000 Vorbestellungen – und eine Philosophie zum Schloss gibt es auch.

"Entscheidend ist Balance zwischen Schutz und Freiheit"

Es geht den beiden Frauen nicht darum, 100-prozentigen Schutz vor Straftaten zu bieten. Das sei theoretisch – nicht nur beim Fahrraddiebstahl – schon möglich, aber um welchen Preis? Ein Polizeistaat mag eine nahezu vollkommene Sicherheit bieten, aber eine Richtung Null gehende Lebensqualität. „Entscheidend ist die Balance zwischen Schutz und Freiheit“, sagt Alexandra Baum.

Suse Brand und Alexandra Baum haben ein Fahrradschloss aus Textil entwickelt.
Suse Brand und Alexandra Baum haben ein Fahrradschloss aus Textil entwickelt.

© privat

Und hier, in Leipzigs Baumwollspinnerei, materialisiert sich dieser Kompromiss in einem Fahrradschloss. Es ist so stabil wie eine Stahlkette, es schmiegt sich eng um jeden Laternenpfahl. Seit Monaten versuchen sich die Frauen im Selbstversuch als Fahrradknacker. Mit dem ermutigenden Ergebnis, dass weder Feuer noch Bolzenschneider den zugleich schnellen und unauffälligen Erfolg ermöglichen, auf den die meisten Diebe fixiert sind.

Berlin, wo der Terror die Trauer brachte

Martin Germer ist Pfarrer in der Gedächtniskirche. Seit dem Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz hat sich vieles verändert.
Martin Germer ist Pfarrer in der Gedächtniskirche. Seit dem Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz hat sich vieles verändert.

© Mike Wolff

Oft sagen die Leute, es sei doch auch ein Angriff auf die Kirche gewesen, auf seine, die christliche Kirche. Aber das stimmt nicht, sagt Pfarrer Martin Germer. Die Gedächtniskirche stand nur zufällig daneben, als am 19. Dezember 2016 der Attentäter einen Lkw in den Weihnachtsmarkt lenkte – und Germer mit einem Schlag für Größeres zuständig wurde: Wie würde Deutschland mit seinem ersten großen Terroranschlag umgehen?

Zehn Monate später legt Germer in der Sakristei den Talar ab. Vielleicht war es ein Glück, dass der Ort des Schreckens und seine Kirche so nah beieinander lagen. Die Experten für Trauer und den Umgang mit Unerklärlichem waren gleich zugegen.

Germer stornierte den Weihnachtsurlaub mit seiner Frau. Er plante mit der Senatskanzlei. Er vertrieb Reporter aus seiner Kirche. Bändigte Schaulustige. Er empfing das Personal der Bundespolitik für den Trauergottesdienst. Leitete Ehrenamtliche zur Seelsorge an. Redete mit den Markthändlern. Und er wusste zu schätzen, dass die Kondolenzbücher, die die Senatskanzlei zur Verfügung stellte, einzeln herausnehmbare Seiten hatten. So würde man unflätige, hasserfüllte Einträge später einfach entfernen können.

"Ich habe keine Angst"

Seitdem ist alles durch ihn hindurchgegangen: der Schock, das Entsetzen der Schausteller, die Bedürfnisse der Öffentlichkeit nach Information, die Planung mit der Politik, die Suche nach dem angemessenen Wort. Er fragte sich, was sein Beitrag sein könnte, und wurde der Pfarrer, der das Land betreute im Umgang mit dem Terror. Nach ein paar Wochen hatte er es für sich auf den Begriff gebracht, „dass ich öffentlicher Seelsorger bin“.

Der Anschlag hat auch sein Leben verändert. Wie das ganze Land musste Martin Germer über seine Haltung zum Islam nachdenken. Es ist das große neue Thema in seinem Leben. Bis dahin hatte es keine Berührungspunkte gegeben, in seinen zwölf Jahren an der Gedächtniskirche nicht und in den Jahren zuvor in Wilmersdorf. Im Januar rief ihn der stellvertretende Vorsitzende der Dar-as-Salam-Moschee an und schlug eine gemeinsame Friedenskundgebung vor, die im März stattfand. Germer hat freundschaftliche Bande geknüpft und auch einen Gottesdienst mit zwei Imamen und einem Rabbiner organisiert. Er wurde zu einem, der allergisch reagiert, wenn er Muslime Vorverurteilungen ausgesetzt sieht.

Und was hat dieser Anschlag mit Deutschland gemacht? Ach, sagt Germer. Was kann er sagen? Vielleicht ist etwas dran, dass die Leute jetzt große Menschenmengen eher meiden. Er hat in den Zählungen seiner Kirche den Eindruck, dass etwas weniger Besucher kamen als zuvor. Aber die Gründe kennt keiner genau. Nach einer neuen Studie ist heute die Furcht vor Terror die größte Angst der Deutschen. Germer glaubt das nicht so einfach. „Man muss auch sehen, wie die Fragen gestellt wurden.“ Mit welchen Ängsten dort verglichen wurde. Er selbst könnte in Furcht gar nicht arbeiten am wuseligen Breitscheidplatz. „Ich habe keine Angst“, sagt er. „Weil ich auch keine Angst habe, die Straße zu überqueren.“

Dortmund, wo plötzlich das Misstrauen wächst

Mehmet Soyhun setzt sich dafür ein, dass die Menschen dem Islam mit weniger Misstrauen begegnen.
Mehmet Soyhun setzt sich dafür ein, dass die Menschen dem Islam mit weniger Misstrauen begegnen.

© privat

Mehmet Soyhun, geboren in der Türkei, aufgewachsen in Dortmund, sitzt schon wieder zwischen den Stühlen. Dabei hat Soyhun, Mitte 40, als islamischer Theologe sein bisheriges Berufsleben dem Dialog gewidmet, dem Überwinden des Misstrauens gegen seine Religion, den Islam, durch gegenseitiges Kennenlernen. Und jetzt auf einmal ist das Misstrauen wieder da.

Soyhun empfängt in der Zentralmoschee, einer der ältesten Moscheen Deutschlands, die 1973 in einem ehemaligen evangelischen Gemeindehaus in der Dortmunder Nordstadt eingerichtet wurde. 2016 hat man dann auch die Fassade mit vier Kuppeln so umgebaut, dass sichtbar wurde: Hier steht ein islamisches Gotteshaus.

Soyhun macht immer noch Führungen durch die Moschee, obwohl er jetzt hauptsächlich als Übersetzer arbeitet. Soyhun verwendet das Wort vom „Otto-Normal-Muslim“, der hier in die Zentralmoschee kommt, und vor dem die nicht-muslimischen Deutschen sich nicht fürchten müssen. Jetzt aber muss Soyhun sich auf einmal erklären und rechtfertigen. Weil der türkische Präsident Erdogan seine Machtfülle ins Erdrückende ausbaut, die politische Auseinandersetzung immer härter wird, in der Türkei und auch in Deutschland. Und weil Soyhun Funktionär der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V., kurz der Ditib ist, zu der die Zentralmoschee und rund 900 andere Moscheen in Deutschland gehören.

"Hier kommen Otto-Normal-Muslime hin"

Soyhun kann die Ironie nicht übersehen: In den 80er Jahren habe man sich darüber gefreut, dass die türkische Religionsbehörde Diyanet Imame in die Ditib-Moscheen entsandte, „damit nicht jeder hier predigt, was ihm in den Sinn kommt“. Dass die Diyanet ein staatliches Organ war, galt damals als Gütesiegel für einen als liberal eingeschätzten türkischen Islam, den man gegen den Wildwuchs von unabhängigen Moscheevereinen stärken wollte. Heute speist sich daraus das Misstrauen.

Dagegen setzt Soyhun auf eine diplomatische Freundlichkeit und die Hoffnung, dass sich die Lage bald wieder beruhigt. Die Moschee und der Trägerverein seien politisch neutral, behauptet er. Man halte sich raus.

Soyhun ist auch Vertreter der Ditib im Beirat für islamischen Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen. Nachdem Vorwürfe erhoben wurden, die Religionsbehörde habe Ditib angewiesen, Gülen-Leute zu denunzieren, ruht seine Mitgliedschaft dort. „Wir werden sehen, wie sich das entwickelt“, sagt Soyhun. Er hofft, dass er seine Mitarbeit bald wieder aufnehmen kann.

Speyer, wo Kohl der Welt Deutschland erklärte

In Speyer empfing Altkanzler Helmut Kohl oft Staatsgäste. Manchmal musste sie sogar Saumagen essen.
In Speyer empfing Altkanzler Helmut Kohl oft Staatsgäste. Manchmal musste sie sogar Saumagen essen.

© picture alliance / Uwe Anspach/d

Wer den Satz des Dortmunder Ditib-Vertreters wörtlich nimmt, der muss auch Helmut Kohls Angewohnheit, Staatsgästen den Speyerer Dom zu zeigen, für eine grundfalsche Angelegenheit halten. Er hat in den 16 Jahren seiner Kanzlerschaft gewissermaßen die halbe Welt in die pfälzische Stadt am Oberrhein geholt. Gorbatschow und Bush im Jahr 1990, innerhalb von acht Tagen. Hier hat Kohl der Weltpolitik eine regionale Erdung verschafft, bis hin zum Verzehr von Pfälzer Saumagen.

Fachwerkhäuser, verwinkelte Gassen – die Welt kam und kommt wegen des Kaiser- und Mariendoms nach Speyer, mit dessen Bau Konrad II. im Jahr 1025 begann. Damals, als er als Kaiser dem ostfränkischen Reich vorstand, „beachten Sie bitte die Konnotation“, sagt der Domkapitular Peter Schappert, denn der Terminus „ostfränkisch“ zeige die Zusammengehörigkeit über nationale Grenzen hinweg und sei sozusagen eine Vorwegnahme der deutsch-französischen Freundschaft. In Speyer versprach Kohl den Bau des „gemeinsamen europäischen Hauses“.

Peter Schappert, ist der Domkapitular des Bistums Speyer, wo Kohl Gorbatschow, Bush und Thatcher Deutschland erklärte.
Peter Schappert, ist der Domkapitular des Bistums Speyer, wo Kohl Gorbatschow, Bush und Thatcher Deutschland erklärte.

© privat

In Kohls Kanzlerjahren kommt Speyer auf 19 Staatsbesuche, das Historische Museum neben dem Dom widmet ihnen eine Ausstellung mit dem Namen „Weltbühne Speyer“. Den Anfang machte 1985 Chinas Ministerpräsident Zhao Ziyang, der Gastgeber überraschte ihn mit der Geschichte des Jesuiten Athanasius Kircher, der vor 350 Jahren von Speyer aus China bereiste und die europäische Sinologie begründete. „Kohl hat es immer geschafft, einen Bezugspunkt für seine Gäste zu finden“, sagt Schappert. Für Gorbatschow zauberte der Kanzler eine Kiewer Prinzessin hervor, die sich 1089 mit Kaiser Heinrich IV. vermählte.

Die Botschaft war dieselbe: Wir, die Deutschen, haben etwas mit der Welt um uns herum zu tun. Und ihr, diese Welt drumherum, eure Einflüsse, eure Menschen sind längst ein Teil von Deutschland. Nach Kohls Tod stand Speyer im Juni ein vorerst letztes Mal auf der Weltbühne. Die Touristen aber sind geblieben. Wofür steht der Dom heute, da die Welt ihre Skepsis gegenüber Deutschland längst abgelegt hat? Schappert sagt: Heute sei er „in erster Linie eine sehr beeindruckende Kirche“.

Gorleben, wo eine Wahl allein keinen Unterschied macht

Der Protest in Gorleben überdauert Wahlen seit Jahrzehnten.
Der Protest in Gorleben überdauert Wahlen seit Jahrzehnten.

© dpa

Gabi Haas weiß, wie es sich anfühlt, wenn eine Utopie Wirklichkeit wird. Ihre Bewegung hat die Geschichte aufgehalten. Denn diese sagenhafte Staatsform der Demokratie hat ihre Korrekturmöglichkeit immer schon eingebaut – wenn nur genügend Leute eine bessere Idee haben.

Wer ins Gorleben-Archiv nach Lüchow im Wendland fährt, könnte auf die Idee kommen, das Thema Atommüll-Endlager sei Geschichte, nur weil es schon ein Archiv gibt, das den Protest bewahrt. Dabei hat dieser legendäre Protest gegen die Atomenergie am Ende auch die Merkelsche Energiewende möglich gemacht. „Ich wähle immer so, dass der Umweltaspekt gestärkt wird“, sagt Gabi Haas mit einem Stoizismus, den 40 Jahre Dicke-Bretter-Bohren einer Person verleihen. Manche Themen sind langlebiger als jede Regierung. Und möglicherweise ist der Klimawandel und die Frage, woher wir in Zukunft unsere Energie beziehen, das wichtigste Thema der Menschheit.

"Da war auch viel Schlitzohrigkeit"

Es ist ihr Lebensthema geworden, seitdem sie 1980, gerade fertig mit ihrem Referendariat, auf der Bohrstelle 1004 im Protestcamp „Republik Freies Wendland“ saß. Wobei das Wendland in den späten 70ern „ein erzkonservatives, von DDR umgebenes Zipfelchen dieser Republik“ war, sagt Haas. Dünn bevölkert von Bauern, gern besucht von naturliebenden Hamburgern, die hier „die Zweitwohnsitzler“ hießen. Dass diese Bauern und ihre Landfrauen erkennen konnten, dass sie mit den atomkritischen Alternativen ein gemeinsames Ziel verband, grenzt im Nachhinein an ein Wunder. „Da war auch viel Schlitzohrigkeit, die Begeisterung, echte Alternativen aufzuzeigen.“

Gabi Haas wählt immer so, dass der Umweltaspekt gestärkt wird.
Gabi Haas wählt immer so, dass der Umweltaspekt gestärkt wird.

© Deike Diening

Das bisweilen übermütige, bis zu seiner Räumung nach 33 Tagen gewaltlose Camp der „Freien Republik Wendland“ war ein erfolgreicher Fall von angewandter Demokratie, der diejenigen, die dabei waren, mit einer lebenslangen Dosis von Zuversicht in politische Prozesse ausstattete. Und Tatsache, in diesem Jahr im Mai, nach 40 Jahren Anti-Atom-Bewegung, mündeten die Proteste schließlich in ein Gesetz: Das Gesetz zur Suche und Auswahl eines atomaren Endlagers. „Im Bundestag ist man sehr stolz darauf, weil sich CDU, SPD und Grüne einigen konnten.“ Transparent, ergebnissoffen und streng wissenschaftlich soll die Auswahl ablaufen. Bis 2031 soll das Endlager gefunden und bis Mitte des Jahrhunderts in Betrieb sein. Der Protest wird dann 70 Jahre zurückliegen. Welchen Unterschied macht da eine einzelne Wahl?

Breklum, wo Breitband Privatsache ist

Martin Grundmann kümmert sich in der Provinz um Stromerzeugung und, wichtiger noch, den Ausbau des Breitbandnetzes.
Martin Grundmann kümmert sich in der Provinz um Stromerzeugung und, wichtiger noch, den Ausbau des Breitbandnetzes.

© Dagmar Dehmer

Die Brise weht hier eher steif. Rund um das nordfriesische Dorf Breklum drehen sich Dutzende Windräder.

Martin Grundmann, Geschäftsführer der Arge Netz, blickt sich zufrieden um. Rund 4000 Megawatt Stromerzeugungsleistung aus erneuerbaren Energien sind es, die hier in Breklum – in einem so genannten virtuellen Kraftwerk – zusammengeschaltet werden.

Grundmann ist stolz darauf, dass die Pioniere der Windenergie in Schleswig-Holstein dazu beigetragen haben, Dörfer wie Breklum lebenswert zu halten. Daran hat auch seine Firma ihren Anteil, auch wenn das nicht ihr wichtigstes Anliegen war. Denn die Schaltzentrale all der Windräder stünde bestimmt nicht in Breklum, wenn dafür nicht inzwischen eine leistungsstarke Breitband-Datenleitung zur Verfügung stünde. Und die wiederum hat die Arge Netz – ursprünglich ein Zusammenschluss hiesiger Windmüller – selbst gebaut. Grundmann und seine Kollegen häuften dabei Expertise an, bis heute verlegen sie Datenleitungen: Wenn zwei Drittel der Bewohner eines Dorfes zum Beispiel Interesse an schnellem Internet bekunden, fängt die Firma an zu bauen.

"Wir halten die Glasfaser für eine unerlässliche Lebensader"

Felix Middendorf, beim Amt Mittleres Nordfriesland für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, sagt: „Wir messen dem ,schnellen Internet‘ gerade in unserer ländlich geprägten Region sehr große Bedeutung zu und halten die Glasfaser für eine unerlässliche Lebensader.“ Junge Familien zum Beispiel seien ohne Breitband nicht dauerhaft in der Region zu halten. Und ob jemand ein Haus baue oder kaufe, hänge oft von der Antwort auf die Frage ab, ob die Breitbandleitung schon liegt.

Martin Grundmann, der sich die Geschäftsführung der Arge Netz mit zwei Kollegen teilt, ist seit der Gründung vor knapp acht Jahren dabei. Der ursprüngliche Gedanke damals war, durch den Zusammenschluss von Windradbetreibern erfolgreicher mit den Stromnetzbetreibern verhandeln zu können. „Das ist heute nicht mehr nötig.“

Nötig aber sei die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, findet Grundmann. Schon der reine Betrieb eines Windparks ist ohne intelligente digitale Steuerung kaum noch möglich. Gerade in einer Region, in der Windrad an Windrad steht, müssen die Anlagen ständig aufeinander ausgerichtet werden, um den Stromertrag zu erhöhen – oder in Zeiten von Netzengpässen zu senken. Die dabei anfallenden Daten wiederum könnten die Basis für neue Geschäftsmodelle werden, hofft Grundmann.

Mit Windkraftgegnern haben er und seine Kollegen übrigens kein großes Problem. Die Gewerbesteuereinnahmen der Orte rund um Breklum – das benachbarte Städtchen Bredstedt ist mit 5000 Einwohnern der größte hier – haben einen bescheidenen Wohlstand gebracht. Jedenfalls gibt es keine Debatten mehr darüber, ob sich ein Dorf einen Kindergarten leisten kann oder nicht. Die Bewohner der Region wissen, was sie der Windenergie verdanken.

Bitterfeld, wo Wut viele Gesichter hat

Heidrun Herrmann unterrichtet Flüchtlinge in Deutsch.
Heidrun Herrmann unterrichtet Flüchtlinge in Deutsch.

© Sebastian Leber

Montagnachmittag sitzt Heidrun Herrmann in einem Büro in der Burgstraße, Bitterfelds Fußgängerzone, hinter einer breiten Fensterfront und versucht, das deutsche Wort „Abenteuer“ zu erklären. „Na, wie umschreibt man das“, sagt sie. Also... es sei eine gefährliche Situation. Etwas, wofür man Mut brauche. Die drei Syrer rätseln untereinander auf Arabisch, was gemeint sein könnte. Zur Sicherheit schaut einer auf dem Smartphone nach. „Ah, mughamara.“

Seit zweieinhalb Jahren engagiert sich Heidrun Herrmann in der Flüchtlingshilfe. Wie tausende andere Deutsche auch. Nur tut die 73-Jährige es in einem Umfeld, in dem Menschen mit dunklem Teint auf der Straße Kanake gerufen werden und abends, so raten Helfer, besser nicht allein ins Lokal gehen. Bei der Landtagswahl im vorigen Jahr erhielt die AfD in Bitterfeld 31,9 Prozent, es gibt rechte Gewalttaten, in der Stadt leben Kader radikaler Kleinstparteien mit Namen wie „Die Rechte“ oder „Der Dritte Weg“. Als neulich die Kanzlerin kam, warteten hunderte Wutbürger mit Trillerpfeifer. Ja, sagt Heidrun Herrmann, dies sei traurige Realität, aber eben nicht die einzig erlebbare in Bitterfeld. 31,9 bedeute halt auch, dass fast 70 Prozent nicht AfD gewählt haben.

"Was ich anfange, bringe ich zuende"

Auf den Gedanken, Flüchtlingen Deutsch beizubringen, kam Herrmann vor dem Fernseher, als sie die Ankommenden der Balkanroute sah. In den 70ern hatte sie schon „die Kubaner“ Deutsch gelehrt. Gastarbeiter, die als Schlosser in Bitterfelds Fabriken gebraucht wurden. „Wenn ich es damals konnte, warum nicht jetzt?“

Einmal standen abends Nazis in der Fußgängerzone vorm Büro, haben durch die Scheiben reingeschaut, abgewartet, gefeixt. Sie haben nichts gemacht. Der Gullydeckel flog ins Büro der Grünen.

Die Wut auf die Flüchtlinge mischt sich in Bitterfeld mit diversen anderen Sorten Wut. Darauf, dass so viele Junge abgewandert sind. Dass im Norden der Stadt die Plattenbauten zerfallen. Dass der Braunkohletagebau zwar geflutet und in einen künstlichen See verwandelt wurde, die schönsten Ufergrundstücke aber mit Luxusanwesen bebaut wurden. Dass man so viel Hoffnung in den neuen Fabrikpark „Solar Valley“ gesetzt hatte, die ganzen Firmen dann aber pleite gingen oder nach China abwanderten. Es ist Wut auf die Globalisierung. Wut auf das Zukurzgekommensein. Wut darauf, dass sogar die Flüchtlinge, sobald sie es können, aus Bitterfeld wegziehen. Manche wollen nach Halle oder Merseburg, denn dort gibt es Moscheen. In Bitterfeld haben sich Syrer einen Raum zum Beten angemietet. Es gab sofort Beschwerden von Nachbarn, Gerüchte wurden verbreitet. Es hieß, die Moslems hängten ihre staubigen Gebetsteppiche über den Balkon. Der Raum, den sie gemietet hatten, besitzt gar keinen Balkon.

Es gab Versuche, skeptische Bürger mit den Fremden in Kontakt zu bringen. Jeden Donnerstag veranstalten sie Kennenlernnachmittage mit Kaffee, Brot, Schmalz. Das Problem ist, dass außer den Flüchtlingen nur solche Bitterfelder kommen, die ihnen sowieso freundlich gesinnt sind. Ein einziges Mal kam eine ängstliche alte Frau. Die wollte sich erst nicht mit den Flüchtlingen an einen Tisch setzen. Am Ende interessierte sie sich sogar für den Somalia-Themenabend.

Heidrun Herrmann weiß nie, wie viele Flüchtlinge zu ihrem Sprachkurs erscheinen. Und ob diejenigen, die nicht kommen, einfach verschlafen haben oder abgeschoben wurden oder jetzt in den alten Bundesländern sind. In der Anfangszeit saßen oft 15 vor ihr, heute manchmal nur zwei. Aber kein Grund aufzugeben. „Was ich anfange, bringe ich zuende.“

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