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Hohe Ziele. Harry Wilson ist der jüngste Spieler, der bis dato für Wales spielte.

© Imago

Wettkultur in Großbritannien: Der Einsatz seines Lebens

Mein Enkel wird Nationalspieler, wettet Pete Edwards im Jahr 2000. Aus 50 Pfund werden so 125.000 Pfund. Geld auf Kinder setzen – ist das moralisch in Ordnung? Oder ist nicht sowieso jeder Tag ein Glücksspiel?

Hoch im Norden von Wales, in dem kleinen Ort Corwen, schräg am Hang in einer Straße mit unaussprechlichem Namen, tat in einem Haus mit kleinem Garten um die Jahrtausendwende ein nicht einmal dreijähriges Kind einen Schuss, der auf sein ganzes Leben zielte.

Harry Wilson schoss im Wohnzimmer seines Großvaters mit einem Fußball gezielt die Deckenleuchte aus. Worauf die Großeltern dem Kind einen Ballon gaben. Doch der Enkel schoss auch mit dem Ballon so kräftig, dass die Leuchte erlosch.

Pete Edwards beschloss, aus diesem sich aufdrängenden Talent seines Enkels etwas zu machen. Erst reparierte er die Lampe, dann ging er in sein Stamm-Wettbüro in Wrexham und fragte, was sie dort für ihn tun könnten. „Sei nicht albern“, sagte seine Frau.

Am 17. Januar 2000 wettete Pete Edwards darauf, dass der Enkel eines Tages für das walisische Nationalteam spielen würde. 50 Pfund Einsatz, die Quote 1:2500.

Als Edwards mit 62 Jahren die Wette schließlich gewann, war er gefasst. Er hatte sein ganzes Leben lang gearbeitet und gespart. 125.000 Pfund hauten ihn jetzt auch nicht mehr aus den Schuhen.

In England sind solche Wetten nichts ungewöhnliches, sondern ein Teil eines lukrativen Geschäftszweigs. Im vergangenen Sommer machte der Vater der amtierenden Nummer eins im Golf, Rory McIlroy, mit einem ähnlichen Gewinn Schlagzeilen: Er hatte zehn Jahre zuvor mit Freunden 200 Pfund darauf gesetzt, dass sein damals 15-jähriger Sohn einmal den Claret Jug gewinnen würde. Im Juli kassierten sie 50.000 Pfund, als Rory die British Open und den berühmten Pokal gewann.

Die englischen Medien vermeldeten in einem Atemzug, dass auch auf Lewis Hamilton, die amtierende Nummer eins der Formel 1, der Vater einmal erfolgreich gewettet habe: 125.000 Pfund gewann er im Jahr 2008.

Auf die eigenen Kinder wetten? Ist das nicht anstößig?

Auf der Insel der Wettenden zuckte niemand mit der Wimper, aber auf dem Kontinent erschauerten die Eltern: Auf die eigenen Kinder wetten? Es wirkte geradezu anstößig. Wissen die Kinder etwa von der Wette? Erzählt ihnen jemand davon, dass auf sie gesetzt wurde wie auf ein Pferd? Und falls ja: Erzeugt dieses Wissen Druck oder Ansporn?

Andererseits: Ist nicht alles, was einer tut, ein Einsatz im Spiel des Lebens? Ist nicht jede Art von Kindererziehung eine Wette? Auf die Zukunft des Kindes? Auf die eigene? Eltern tätigen am laufenden Band Einsätze. „Pushy Parents“ verlangen Return on Investment, ganz ohne einen Wettschein auszufüllen. Das Wetten auf den Erfolg der eigenen Kinder ist so vielleicht nur eine logische Verlängerung der Idee, dass das ganze Leben ein Wettlauf sei.

Corwen, Wales, Ende 2014. Zwei schwere Ledersessel, aus einem erhebt sich Pete Edwards, aus dem anderen seine Frau Dorothy. Nie, sagen beide, habe diese Wette im Leben ihres Enkels Harry eine Rolle gespielt. Die Tatsache, dass sich niemand erinnern kann, wann man es ihm eigentlich erzählt hat, spreche für diese These. Schließlich entstand diese Wette eher aus Übermut.

Aber Tatsache. Fußball war etwas für Harry. Mit vier sagten sie, er sei fünf, damit er auf dem Kunstrasenplatz des Ortes anfangen konnte. Mit fünf spielte er mit den Achtjährigen. Mit acht kickte er für die Jugendabteilung des Premier-League-Clubs FC Liverpool. Man gab ihm Jahresziele und Trainingsverträge. Agenten meldeten sich.

Während der Großvater die ersten Zeitungsartikel über den Achtjährigen laminierte, lebte Harry ein paar Häuser weiter seiner Zukunft entgegen. Spielte, trainierte, lernte.

Tatsächlich wurden sie bald eine Familie, die alles daran setzte, dass der Enkel ein Fußballer wird. „Sonst wäre es gar nicht gegangen, hier oben von Wales aus. Drei Paare – die Eltern und die Großeltern – haben es sich geteilt, den Jungen nach der Schule zum Training zu fahren. Seitdem er zwölf war sogar täglich bis nach Liverpool und zurück. Der erstaunliche Junge, der beim Passieren des heimatlichen Ortsschildes meist fest eingeschlafen war, wurde über die Jahre auf der Rückbank des Autos größer. Vervollkommnete seinen Schuss mit dem linken Fuß. Sei nie auf den Gedanken gekommen, etwas anderes tun zu wollen, als Fußball zu spielen. Zu Hause mussten sie ihn wecken, damit er ins Bett gehen konnte.

Aliens, die Queen, Fußball: in England wettet man auf alles

Hohe Ziele. Harry Wilson ist der jüngste Spieler, der bis dato für Wales spielte.
Hohe Ziele. Harry Wilson ist der jüngste Spieler, der bis dato für Wales spielte.

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Harrys Kindheit hängt in Fotos und Zeitungsausschnitten an den Wänden des Arbeitszimmers im ersten Stock. Er macht auf keinem der Fotos eine kämpferische Miene. Keine Siegerposen, nie verzerrt Ehrgeiz sein Gesicht. Auf Harrys Gesicht liegt – von Anfang an – eher eine Art Glück: Harry strahlt, als er den Trainingsvertrag für die Jugendmannschaft von Liverpool unterzeichnet. Er leuchtet versonnen hinter einem goldenen Schuh hervor, den sie ihm für seine Torschüsse verliehen haben.

Diese Familie passt nicht recht in das Bild derer, die ihre Kinder auf Erfolg trimmen. Sie empfindet eher Dankbarkeit als Ehrgeiz. Stolz ist dabei. Und ein bisschen Ungläubigkeit, trotz allem noch. „Es hätte kein netteres Paar treffen können“, sagten die Nachbarn in der Straße mit dem unaussprechlichen Namen.

Pete Edwards langt nach der Fernbedienung und sucht nach einem aufgezeichneten BBC-Interview, in dem Graham Sharpe, der Repräsentant des Buchmachers William Hill, zu Edwards Wette interviewt wird. Der Mann, bei dem Edwards im Jahr 2000 die Wette abgeschlossen hatte, spricht da in gespielter Enttäuschung über den Verlust des Geldes. In Wahrheit handelt es sich natürlich um eine Sternstunde für die Firma, denn gleich nach der Ausstrahlung würden im Sendegebiet jede Menge Menschen auf die Idee kommen, ebenfalls Wetten auf ihre Kinder abzuschließen.

Aus der Win-Win- wird eine Win-Win-Win-Situation

Aus der Win-Win-Situation wurde soeben eine Win-Win-Win-Situation: Harry hatte einen Erfolg zu vermelden, Edwards war um 120.000 Pfund reicher und die Wettfirma würde nun ein kapitales Anschlussgeschäft machen. Die Buchmacher verdienen ja nur scheinbar an den hohen Ambitionen der Menschen. Letztendlich verdienen sie – weil Wetten dieser Art in den seltensten Fällen ausgezahlt werden – eben an ihrer Durchschnittlichkeit.

Graham Sharpe sitzt vier Autostunden weiter südlich, im Norden von London, im dritten Stock eines Backstein-Bürogebäudes. Sharpe entscheidet, ob eine Wette akzeptiert wird, schätzt die Wahrscheinlichkeit und nennt die Quote. Schon wegen der langen Laufzeiten, weil nicht garantiert werden kann, dass ein einzelnes Wettbüro bei Fälligkeit einer Wette überhaupt noch existiert, werden Wetten auf Kinder bei ihm zentral in London verwaltet.

Sharpe ist der Experte für Sportwetten – und auf einen sportlichen Erfolg ihrer Kinder setzen britische Eltern am häufigsten. Nebenan behandelt ein Kollege Wetten, die das Showbusiness betreffen. In sein Metier fiel zum Beispiel, als eine Tante wettete, dass ihre Nichte eines Tages auf das Cover der Vogue kommen würde. Aber es gibt auch Vorhersagen, dass die Kinder Prüfungen bestehen oder an Universitäten angenommen werden.

Sharpe, Sohn eines Maurers, wuchs mit der Gewohnheit britischer Männer auf, die Samstage in einem der knapp 9000 britischen Wettbüros zu verbringen. Er hat ein gutes Dutzend Bücher über die englische Wettleidenschaft geschrieben. Man kann von diesem Mann Erfahrung und Detailwissen erwarten, aber natürlich keine Objektivität.

Die Vorwürfe, dass da Kinder unter Druck gesetzt würden, sind ihm geläufig. Aber hey, sagt Sharpe, seinen Kindern zu zeigen, dass man an sie glaubt – sei das nicht auch eine Motivation? Ihnen etwas zuzutrauen gebe den Kindern Selbstbewusstsein. Britische Eltern, Paten, Großeltern machten das regelmäßig.

Im Prinzip, sagt Sharpe, sei das ganze Leben eine Wette. Immer habe man einen Einsatz und gehe ein Risiko ein. Die Straße zu überqueren und lebend anzukommen sei eine Wette gegen die Wahrscheinlichkeit, überfahren zu werden. Vermutlich würde Sharpe die tägliche Arbeit von Pete Edwards, der als Elektroinstallateur auf der ganzen Welt Hochspannungsmasten mit 400.000 Volt wartete und dabei zwei Kollegen verlor, für eine Wette mit viel größerem Risiko halten als die Fußballwette für den Enkel.

50 Milliarden Pfund Jahresumsatz hat die Branche

Die Hutfarbe der Queen in Ascot, die Namen der Königskinder, die Existenz Außerirdischer und das Schottland-Referendum sind ein Fall für den Buchmacher. Alle britischen Buchmacher zusammen setzen im Jahr rund 50 Milliarden Pfund um.

Die Standardquote, sagt Sharpe, ist 1:1000, wenn eine Wette auf ein Kind im Säuglingsalter abgeschlossen wird. Denn im Leben startet jeder als Außenseiter. Warum erhielt dann aber Pete Edwards für seine 50 Pfund Einsatz die Quote 1:2500?

„Ich muss einen großzügigen Tag gehabt haben ...“ Sharpe spricht von einem „kalkulierten Risiko“ und davon, dass sie von Pete Edwards vorher hätten wissen wollen, ob es einen professionellen Fußballspieler in der Familie gab. Aber eigentlich spielt die genaue Zahl gar keine so große Rolle.

Sharpe spricht offen von der „Publicity-Dividende“: So selten, wie jemand eine dieser Spezial-Wetten gewinnt, entstehe durch die Berichterstattung darüber ein derartiger Nachahmereffekt, dass das Geld schnell wieder drin ist. „Es ist mit diesen Wetten wie mit einer alten Platte.“ Es gebe sie schon ewig, aber erst, wenn sie mal wieder im Radio gespielt wird, kommen die Leute auf die Idee, sie wieder aufzulegen.

Um der Firma diese Publicity-Dividende zu garantieren, müssen die Leute schon beim Abschluss ihrer Wette unterschreiben, dass sie im Falle eines Gewinns das Gespräch mit Journalisten nicht verweigern. Und weil die mediale Aufmerksamkeit für einen Gewinn von 125.000 Pfund genau so hoch sei, wie für den Gewinn von einer Million, nehmen sie niemals höhere Wetten an. Es lohne sich einfach nicht, das Risiko einzugehen.

Schwierig, sagt Sharpe, sind Wetten auf einen bestimmten Job, Erfolg im Beruf oder in einer Branche. Da sei es fast unmöglich, die Risiken abzuschätzen, die Eltern könnten Beziehungen haben oder gar selbst Manager einer Firma sein, die das Kind dann einstellt. Zu viel Raum für Manipulationen.

87 Minuten Zittern bis zur Einwechslung

Hohe Ziele. Harry Wilson ist der jüngste Spieler, der bis dato für Wales spielte.
Hohe Ziele. Harry Wilson ist der jüngste Spieler, der bis dato für Wales spielte.

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Ab 18 Jahren kann dann jeder auf den eigenen Erfolg wetten. Sharpe betreut zwei konservative Parlamentsmitglieder, die jeweils gewettet haben, Premierminister zu werden. 2010 wurden sie in das Unterhaus gewählt – „zurzeit Hinterbänkler“ – und erhalten jeweils 2,5 Millionen Pfund, sollten sie Premierminister werden.

Pete Edwards verbrachte den Moment seines Triumphes allein. Am Abend des WM-Qualifikationsspieles Wales gegen Belgien, am 15. Oktober 2013, saß er nach der Arbeit in Buckinghamshire mit dem iPad im Wohnwagen und wartete auf den verzögerten Livestream. Zu den 13 Jahren Wartezeit kamen jetzt noch einmal fast anderthalb Stunden hinzu. „Get him in there“, rief er mehrmals in die Stille um sich herum, während das Spiel seinen Lauf nahm und Harry von der Ersatzbank in der 87. Minute endlich aufs Feld geschickt wurde. Er gewann nicht nur die Wette, er brach zugleich einen Rekord: Harry wurde der jüngste Spieler, der jemals für das walisische Nationalteam eingesetzt wurde. Als er auf der Tribüne nach dem Spiel gegen Belgien seine Eltern umarmte, war ihm nicht klar, dass er gerade Großvaters Wette gewonnen hatte. „Ich habe gedacht, ich hätte ein ganzes Spiel durchspielen müssen“, sagt Harry.

Sein Leben hat ihn geformt, sagen sie. Nicht die Wette

Die Großeltern glauben, dass Harrys Leben nicht durch die Wette geformt wurde und schon gar nicht durch den Gewinn. Sondern durch die 13 Jahre dazwischen. Und diese Geschichte wäre nicht halb so glaubwürdig, wenn jetzt nicht eben Harry bei seinem Großvater durch die Tür treten würde, mit seiner ganzen leichtfüßigen Aura. Die personifizierte Hoffnung der Familie und ihre Erfüllung, ein selbstbewusstes Grinsen im Gesicht.

Harry füllt das Wohnzimmer mit den schweren Ledersesseln, dem Gaskamin und dem XL-Fernseher mit Mühelosigkeit. Gut aussehend steht er da. Der natürliche Magnet in jeder Umgebung. Er hat schon etwas gewonnen, aber er hat zugleich alles noch vor sich.

Aus der kuriosen Wette seines Opas ist nun irgendwie Harrys ganzes Leben geworden. Am Abend zuvor hat er mit Liverpools Jugend in Bulgarien gespielt und eine gelbe Karte kassiert. Nachts um drei war er zurück in der Stadt. Unter der Woche wohnt er bei einer Familie dort, weil er noch nicht einmal alleine wohnen darf.

Harry gleitet an den Esstisch und bekommt von seiner Oma ein Pint Milch und einen ungetoasteten Schinkentoast mit Ketchup.

Von dem gewonnen Geld hat sich Edwards übrigens kein Auto, keine Reise, sondern ein Jahr Lebenszeit gekauft. Am Morgen nach dem Gewinn ging er zu seinem Chef, überreichte ihm die Kündigung und ging ein Jahr früher in Rente als geplant.

Sein Frau Dorothy hat sich daran erstmal gewöhnen müssen. Über Jahrzehnte kam ihr Mann ja nur alle zwei Wochen mit seinem Wohnwagen um die Ecke gebogen. Es stellt sich heraus, dass er andere Fernsehprogramme mag als sie und überall Häufchen von Stiften, Fernbedienungen und anderen Dingen ansammelt. „Er ist ein Eichhörnchen“, sagt sie. Darauf hätte sie, als sie vor Jahrzehnten geheiratet haben, nie gewettet.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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