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Verena und Johannes vor der "Linie206". Die beiden Bewohner möchten anonym bleiben.

© Doris Spiekermann-Klaas

Wohnprojekt geräumt: "Linie206" war das letzte umkämpfte Haus in Mitte

Vor 26 Jahren wurde die "Linie206" besetzt - am Dienstag wurde sie von der Polizei geräumt. Das Berliner Haus und seine Bewohner wirkten schon im vergangenen Sommer wie aus der Zeit gefallen.

Diese Reportage ist im vergangenen August erschienen. Aus gegebenem Anlass - der Räumung am Dienstag - präsentieren wir den Text noch einmal.

Der wilde Wein, der sich hochrankt an der grauen, fleckigen Hauswand, hat inzwischen das Dach erreicht. Er hat sich festgekrallt an der rissigen Fassade, so wie sich die Bewohner am Haus festgekrallt haben. Vom Halten, vom Nicht-Loslassen können die Mieter der „Linie 206“, die hier im Hof auf Bänken und Stühlen sitzen, viel erzählen. Tun sie aber nur sehr ungern.

Das Haus liegt an der Linien- Ecke Kleine Rosenthaler Straße, nur einen Steinwurf vom quirligen Rosenthaler Platz entfernt, wo die Gäste des St. Oberholz die neue Berliner Hipness beobachten könnten. Vorausgesetzt, sie würden von ihren Displays aufschauen. Zwischen Hostels, Bars und der Tramstation drängelt sich Tag und Nacht das Leben.

Die „Linie206“ ist dagegen Kontrastprogramm. Das heruntergekommene Gemäuer wirkt wie aus einer anderen Welt; einer, die Berlin auch einmal war. Ein Fremdkörper in der „Spandauer Vorstadt“, die heute als Inbegriff der Gentrifizierung gilt, wo seit dem Mauerfall die Sanierungen und steigenden Mieten den größten Teil der ehemaligen Bewohner verdrängt haben.

„Wir gehen nicht, wir bleiben“, sagt Johannes, ein schlanker Mann in T-Shirt und Jeansjacke, bestimmt. Er und die übrigen Bewohner sehen sich als Mitglieder des letzten umkämpften Hausprojekts in Berlin. Besetzt wurde die „Linie206“ im Mai 1990, in jenen wilden Zeiten nach dem Mauerfall, als sich die bürokratische Ordnung gewissermaßen eine Auszeit nahm, weil die alten SED-Kader sich lieber unsichtbar machten und die neuen Kräfte noch nicht in ihre Rolle gefunden hatten. Die Häuser denen, die drin wohnen, hieß es da, was besonders für jene galt, in denen niemand lebte, weil die DDR sie hatte verkommen lassen. Also zogen dort Menschen ein, die eben diese Hinterlassenschaften des zusammengebrochenen DDR-Sozialismus als durchaus fruchtbar für ihre eigenen Utopien sahen.

Es ist schwer, mit den Bewohnern ins Gespräch zu kommen. Ein offenes Haus ist das nicht. Es braucht mehrere Besuche, um hineinzukommen: jedes Mal langes Ausharren vor dem Eingang, bis endlich wer öffnet – aber nur einen Spalt breit. Immer wieder eine Abfuhr; das Plenum müsse beraten, heißt es. Dann, im fünften Anlauf, gibt es doch Einlass und die Möglichkeit zu einem Gespräch. Allerdings unter Auflagen. Keine Fotos von den Wohnungen und vom Hof, keine von den Bewohnern, auch keine Nachnamen, so hat es das Plenum entschieden. Man wisse ja nie, was die andere Seite plant. Die andere Seite, das sind die Eigentümer dieses bunten Hauses.

Damals, im Sommer der Anarchie

Die Bewohner Verena und Johannes, die jetzt im kleinen Innenhof sitzen, dürfen sprechen, noch so eine Plenumsentscheidung. Als das Haus besetzt wurde, in jenem Sommer der Anarchie, waren beide noch Kinder. Die 31-jährige Verena, deren Familie aus Österreich stammt, wohnt seit mehreren Jahren im Haus; Johannes, 30, kommt aus Potsdam. Insgesamt wohnen hier rund 20 Menschen, sagen sie. Ältere und Jüngere, Künstler, Arbeitslose, Mütter mit Kindern. Manche seit 1990, viele kamen später dazu.

Verena und Johannes haben beide Jobs in sozialen Projekten. Mit ihnen zu sprechen ist mühsam, zögernd kommen die Antworten, vage bleiben die Aussagen, vorsichtig sind ihre Worte. Immer wieder gibt es überhaupt keine Antwort. „Das wollen wir nicht in der Zeitung lesen.“ Man lebt gemeinsam, ist zu erfahren, jeder trage seinen Teil zum Lebensunterhalt bei. „Was jeder eben kann“, sagt Johannes. Genaueres ist von ihm nicht zu erfahren.

„Wir haben einen undogmatischen, linksradikalen und anarchistischen Anspruch“, – so haben sie sich mal in einer Selbstdarstellung beschrieben – „und versuchen, ein möglichst selbstbestimmtes, hierarchiefreies Leben zu realisieren.“ Wie schwer so etwas im Alltag sein kann, trotz wöchentlichen Plenums, kann man ahnen. Wie behält die Gemeinschaft da den Überblick, wer einkauft oder andere Pflichtaufgaben erfüllt? „Kontrolle ist ein schweres Wort“, antwortet Johannes etwas gewunden. „Aber Süßigkeiten kauft sich jeder selbst.“

Parolen aus 25 Jahren

Nicht jeder bekommt Einlass.
Nicht jeder bekommt Einlass.

© Doris Spiekermann-Klaas

Auf der aus Brettern gezimmerten Bar im Hof stehen leere Flaschen. Hinterm Tresen, gleich neben dem roten Vogelkäfig, in dem zwei Erdbeeren hängen, steht das nackte Oberteil einer männlichen Schaufensterpuppe, bestückt mit drei Krawatten, darauf ein Schweinekopf aus Pappmaché. Kunst. In der Ecke des Hofs liegt ein Holzhaufen – Wintervorrat für die Öfen. Es herrscht ein Kommen und Gehen. Mit Getöse wird gerade ein Kühlschrank über das Pflaster geruckt, während ein Bewohner auf einem selbst gebauten Vordach Kabel befestigt.

Die Wohnungen darf der Gast nicht besichtigen. Vom Hausflur aus ist nur ein Blick in zwei Treppenhäuser erlaubt, die sich nach oben winden. Abgeschlossene Wohnungen gibt es auf den Etagen nicht; dafür große Durchgangszimmer zwischen den Treppen. Sie dienen als Küche.

Außen an der Fassade lassen sich die vergangenen 25 Jahre noch an den verblichenen Parolen ablesen – gegen Nazis, gegen Soldaten, für Ausländer und gegen die Zerstörung von Wohnraum. Die linke Agenda von zwei Jahrzehnten im Zeitraffer. Die Graffiti auf der schartigen Fassade wurden so oft übermalt, dass sie nun ineinander übergehen. Die zerschlissenen Transparente hängen schon so lange aus den Fenstern, dass die Aufschrift unleserlich geworden ist. Egal. Es zählt nur eines. „Linie 206 for ever“ – wie auf grüner Banderole über einem roten Herz steht.

Ständige Unsicherheit

„Das Gefühl, da kommt was auf uns zu, verlässt uns nie“, sagt Verena, lockige Haare und große Augen im schmalen Gesicht. Es sei ein Gefühl ständiger Unsicherheit.

Zuletzt haben es die Eigentümer vor zwei Jahren versucht. Das Haus war nach der Deutschen Einheit an eine Erbengemeinschaft restituiert worden, dann wechselten mehrfach die Besitzer. Die derzeitigen Eigentümer haben das Haus 2010 erworben und möglicherweise gedacht, sie hätten leichtes Spiel mit den Bewohnern. Versucht haben sie, das Haus mieterfrei zu bekommen. Doch mit ihren Abmahnungen und der Kündigung scheiterten sie vor Gericht. Für die Richter gelten weiterhin die Mietverträge, die die Besetzer 1991 unterschrieben, als die Wohnungsbaugesellschaft Mitte als formale Eigentümerin des Hauses fungierte - auch wenn Bewohner wechselten. Seit damals zahlt der Hausverein „Linientreu“ seine Miete auf ein Konto – nur die Empfänger wechselten. Ein Kampf, der nicht zu Ende geht.

„Kalter Krieg“ nennt Johannes den Zustand, der seit der juristischen Niederlage der Eigentümer herrscht. Die hätten mal die Besichtigung des Hauses erstritten und seitdem auch einen Schlüssel – „steht ihnen ja zu“, merkt Johannes mit hörbarer Ironie an. Ansonsten halten sich die Eigentümer fern, bleiben stumm. Ob ihnen beim Kauf klar gewesen sei, dass das 1826 gebaute Eckhaus unter Denkmalschutz steht und deswegen hohe Sanierungsauflagen bestünden, können die Bewohner nur mutmaßen. Seit 25 Jahren ist jedenfalls nicht mehr in das Gebäude investiert worden. Das merkt man. Man könnte es als total heruntergekommen bezeichnen; Verena sagt mit einem Lächeln, das Haus befinde sich „nicht in einem Top-Zustand“.

Alles nur Flickwerk

Man tue viel zur Erhaltung, versichert die junge Frau. Es gibt immer etwas zu reparieren, zugige Fenster, kaputte Elektrik. Aber alles eben nur Flickwerk. Immerhin haben sie selbst Bäder eingebaut. Die Hauptwasserleitung müsste dringend erneuert werden – doch die Eigentümer hätten kein Interesse daran, sagt Verena. Sie ärgert sich, dass ihre Wohnstatt ein Spekulationsobjekt auf dem heißgelaufenen Immobilienmarkt ist. Mit jedem Weiterverkauf stieg der Preis. 2009 habe man selbst versucht, das Haus für 550 000 Euro zu kaufen, sagt Johannes. Doch die jetzigen Eigentümer bekamen den Zuschlag bei 600 000 Euro. Mittlerweile ist es wohl schon wieder deutlich mehr wert.

Auch gegenüber den aktuellen Eigentümern habe der Verein „Linientreu“ mehrfach Interesse an einem Kauf bekundet. Ohne Reaktion, sagt Verena. Die Eigentümer hätten sich ebenfalls nie dazu geäußert, was sie mit dem Haus planen, Abriss oder Sanierung. Auch für den Tagesspiegel ist der Eigentümer, ein Steuerberater, nicht zu sprechen.

Gesicherte Existenz dank Mietvertrag

Die Fassade.
Die Fassade.

© Doris Spiekermann-Klaas

Das Thema Stadtzerstörung sei doch aktuell wie nie, sagt Johannes. Trotzdem stoße man damit in der Stadt auf „taube Ohren“. Da komme er sich vor wie ein „altmodischer Revoluzzer“, sagt er, was aus seinem Mund irgendwie merkwürdig klingt. Wie sich die Stadt verändert habe, dafür „geben wir nicht denen die Schuld, die im St. Oberholz sitzen“, beteuert er.

„Wir wollen kein Stück vom Kuchen, wir wollen die ganze Bäckerei“, unter diesem Motto feiern dieser Tage einige ehemals besetzte Häuser den wilden Ost-Berliner Sommer vor 25 Jahren. Um die ganze Bäckerei aber geht es längst nicht mehr, sie müssen mit den Krümeln zufrieden sein. Mitte 1990 gab es in Ost-Berlin nahezu 120 besetzte Häuser, geduldet vom Ost-Berliner Magistrat. Erst ab August galt auch in den Ost-Bezirken die sogenannte „Berliner Linie“, nach der neu besetzte Häuser innerhalb von 24 Stunden geräumt werden. Bewohnern bis dahin besetzter Häuser wurden dagegen Verträge angeboten. Die Besetzer der Linie 206 waren schon 1990 für Mietverträge – und konnten damals nicht ahnen, dass diese bis heute die Existenz des Projekts sichern würden. Viele andere Besetzer lehnten solche Verträge strikt ab, hielten diese für eine Kapitulation vor dem Staat.

Ein politischer Akt

„Was die Linie 206 ausmacht, geht über die Bewohner hinaus“, behauptet Johannes: Allein dass es das Haus in dieser Gegend noch gebe, sei politisch. Ein Beispiel für einen anderen Umgang mit der Stadt, für ein anderes Zusammenleben von Menschen. Es klingt wie bloße Theorie. Denn von einem offenen Haus für den Kiez kann nicht die Rede sein. Johannes wehrt ab, man reagiere eben auf das „Zoogefühl“, das die Bewohner zuweilen haben, wenn Touristen an der verschlossenen Tür klingeln, reinkommen wollen und Fotos machen. Doch es ist schwer erträglich, dieses Misstrauen, die abweisenden Gesichter an der Tür. „Ich will so leben und frage nicht, wie komme ich rüber“, verteidigt sich Johannes. Aber können so Menschen gewonnen und überzeugt werden? Wer zu Besuch im Hof sitzt, spürt die Selbstbezogenheit. Als hätten die Bewohner den Kontakt nach draußen längst aufgegeben, weil sie sich selbst genügen. Die Fremdheit als Ideal, weil es den Verlust als Gewinn herausstellt.

Fürwahr eine Goldgrube

Ihre Befürchtungen, der kalte Krieg mit den Eigentümern könnte irgendwann wieder zum heißen Konflikt werden, der das Zusammenleben hier beendet, sind nicht unbegründet. Ein Haus in bester Mitte-Lage, mit hohen Zimmern und Blick auf den historischen Garnisonsfriedhof – fürwahr eine Goldgrube. Und es gibt etliche Beispiele, dass auch Mietverträge keinen ewigen Schutz bieten: Die „Liebig14“ in Friedrichshain wurde 2011 geräumt, weil ein Gericht die seit 1992 existierenden Mietverträge nicht anerkannte. Auch das ehemals besetzte Friedrichshainer „Scharni 38“ war lange bedroht, bis eine sozialpolitische Stiftung es 2005 kaufte. Und das Haus „Schokoladen“ mit stadtbekanntem Kulturtreff in der Ackerstraße in Mitte konnte nur gerettet werden, weil das Land Berlin dem Eigentümer ein Ersatzgrundstück überließ.

Wie es enden könnte, irgendwann, haben die Bewohner der „Linie206“ nicht weit entfernt täglich vor Augen, auf der anderen Seite des Rosenthaler Platzes. Dort wurde 2010 das ehemals besetzte Haus „Brunnen183“ geräumt. Auch hier wurden vom Gericht die Mietverträge für nichtig erklärt. Heute existiert die Fassade mit dem Spruch „Wir bleiben alle“ nur noch als Postkartenmotiv. Seit Ende 2014 steht auf der nun schwarz gestalteten Fassade des inzwischen sanierten Hauses in meterhohen goldenen Lettern „183“. Es wirkt fast wie ein arroganter Hinweis, dass dies goldene Zeiten für Spekulanten sind.

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