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Nicht ohne seinen Schnauzer. Dieter Meier, 71, hat schon viel ausprobiert. Noch bis Ende Oktober sind seine Werke in einer Ausstellung in Berlin zu sehen.

© Mike Wolff

Yello-Gründer Dieter Meier in Berlin: Der letzte Provokateur

Er war jung und brauchte kein Geld: Also machte Dieter Meier Kunst – und den Zufall zum Komplizen. Mit seiner legendären Elektropop-Band Yello spielt er nun wieder in Berlin. Eine Feier des Jetzt.

Niemand würde sich wundern, wenn aus der langen, losen Ärmelmanschette des Mannes plötzlich ein Enterhaken stieße. Etwas Piratenhaftes, Freibeuterisches geht von ihm aus. Und Achtung: Teile dieses Lebens klingen wie frei erfunden. Sie könnten die Bevölkerung verunsichern.

Dieter Meier ist groß in Sachen Form. Das Halstuch ist seiden, kunstvoll verschlissen das Hemd. Er besitzt 10 000 Rinder, die im großen Nichts von Patagonien grasen. Er ist die Hälfte der Band „Yello“, der Pioniere des Elektropop, deren Hit „The Race“ Titelmelodie der Musikshow „Formel Eins“ war. Sie gelten als Wegbereiter des Techno, haben rund zwölf Millionen Platten und CDs verkauft. Meier sitzt jeden Tag eine halbe Stunde an der Rudermaschine, ist Vater von vier Kindern und betreibt als Unternehmer eine Kaffeeplantage und eine Restaurantkette.

„Ich habe meine Posen nummeriert. Welche wollen Sie haben?“, fragt er den Fotografen. Klick, klick, klick.

Wer bin ich und wenn ja wie viele? Auf diese Frage eines jeden jungen Menschen fand der Schweizer Dieter Meier, den man heute Konzeptkünstler nennt, ab 1973 eigene Antworten. Es entstanden Fotos im Keller des Hauses seiner Eltern, die immer wieder Dieter Meier zeigten, verkleidet. „Possible Beings“ nannte er das, mögliche Existenzen. Er dachte sich zu ihnen Biografien aus. In den vergangenen Jahren hat er Updates gemacht: Wieder ist er selbst zu sehen. Es sind die „Possible Beings“ heute. Meier hat die Schicksale der Personen weitergesponnen.

Fünf Tage lang sortierte er 100 000 Nägel in Säcke

Einen Tag vor Eröffnung der Ausstellung steht er in der Galerie Judin an der Potsdamer Straße und sagt: „Die haben ja nichts mit mir zu tun.“ Und das ist natürlich Quatsch. Denn sie alle tragen Schnauzer. Die Querbalken unter seiner Nase scheinen sich zu einem einzigen Strich zu verbinden. Da ist zu sehen ein talentierter Boxer, „der immer verschaukelt wurde. Das passiert ja oft im Boxen.“ Ein Autohändler, der durch die Wertsteigerung von Oldtimern reich wurde. Ein Marxist, der an der eigenen Ernsthaftigkeit unglücklich wird. Ein ambitionierter Radler, der einen Fahrradladen betrieb. „Heute fährt er erfolgreich Seniorenrennen.“

Den Menschen macht aus, wie er sich zu seinen Zwängen verhält. Zwänge die durch die Geburt, die Zeit, das Talent, die Familie gegeben sind. Dieter Meiers Jugend zeichnete sich durch eine erstaunliche Abwesenheit von Zwängen aus. Sein Vater besaß eine Bank. Nichts drängte sich auf, schon gar keine finanzielle Notwendigkeit. Nicht einmal unerfüllte Träume der Eltern, die er an ihrer statt hätte ausführen dürfen. Beladen mit der Bürde der Freiheit stand er nun da. Wenn nichts muss, aber alles kann, was ist dann? Ist dann überhaupt irgendetwas?

Sein Problem war selten: Er war jung und brauchte kein Geld. Er verfiel, 1969 war das, auf eine Aktion, die später berühmt wurde und von der ein Bild in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschien: Fünf Tage lang saß er acht Stunden am Tag auf dem Pflaster des Zürcher Heimplatzes und sortierte 100 000 Nägel in Säcke.

„Nein, sagen Sie nicht Nägel, das hat schon zu viel Sinn.“

Metallteile sortierte er, „Industrieschrott“. Er saß da und „arbeitete“. Die „NZZ“ brachte das Foto eines langhaarigen jungen Mannes, der dort saß und zählte. Es hatte keinen Sinn. Also musste es Kunst sein.

Wäre Meier dann nicht irgendwann tatsächlich Künstler geworden, stünde er jetzt nicht in der Galerie in der Potsdamer Straße. Noch heute ärgert ihn das simple Bild vom „Bankierssohn“. Es ist unvollständig, denn es transportiert etwas Sattes, dass so nie empfunden worden ist. Meiers Vater hatte diese Bank ja nicht geerbt, er kam selbst aus einer sehr armen Familie. „Er hat als Meldeläufer bei der Börse angefangen“, sagt Meier. Von dort arbeitete er sich hoch. Die Bank, die er später ausbaute, war, als er sie kaufte, fast pleite.

Der Sohn jedoch tat, bis er 15 war, nie etwas zu Hause für die Schule. Einen langen Text zu lesen fühlte sich an, „als würde mir jemand Blei durchs Hirn ziehen, und es bleibt nichts hängen“, sagt Meier. Vorwürfe machten ihm seine Eltern nie. Zwei Jahre vor dem Abitur flog er vom Gymnasium. Es war eine der wichtigsten Entdeckungen im Leben von Dieter Meier, als er für die Prüfungen dann den gesamten Stoff mit einem Freund nachholte, indem sie drüber redeten: Im Dialog ging ihm die Welt auf. „Das hat mein ganzes Leben bestimmt, bis auf den heutigen Tag.“ Meier schreibt bis heute keine E-Mails. Er will angerufen werden.

Damals studierte er Jura „zur Tarnung“, doch spielte in Wahrheit Poker, süchtig nach Sinn. Wenn alle paar Minuten ein neues Blatt ausgegeben wurde, war das eine Reduzierung der vermaledeiten Möglichkeiten. Es galt einzig und allein, sich nach dem Blatt zu verhalten: „Ein Psychoterrorspiel. Nicht lesbar sein.“ Bluffen. Oder bluffen, dass man blufft. Er war gut darin. Einmal gab ihm ein anderer Spieler 2000 Franken, damit er an einem Spiel nicht teilnahm. „Der Dieter spielt gar nicht mehr, der verkauft nur noch seine Schürfrechte“, hieß es.

"Das Dieterchen ist jetzt Künstler."

Während seine Freunde studierten, versuchte er, mit Büchern von der Sucht loszukommen. Er ging jeden Tag in Buchhandlungen und kaufte Lesestoff, den er sich vornahm, am Abend zu lesen. Als er es irgendwann auf ganz andere Weise geschafft hatte, die Sucht zu besiegen, lagen noch immer Berge von Büchern in seinem Zimmer. Lauter in Plastik eingeschweißte gute Absichten.

Ob er nicht an einer Ausstellung mitarbeiten wolle? Ausstellung! Gott sei Dank! Jemand, der sich an die Aktion mit den Metallteilen erinnerte, gab ihm einen Rahmen, den er füllen konnte.

Immer wieder hat ihn dann jemand um etwas gebeten. Zum Beispiel sollte er Essays für die „Zürcher Zeitung“ schreiben. Aber weil bekannt war, dass er wohlhabend war, protestierte nach einer Weile der Schriftstellerverband: Er habe es doch nicht nötig, an dieser Stelle zu schreiben. Abgesehen davon, dass sie hätten fragen müssen, ob er es verdient hat, hatten die protestierenden Herren ja keine Ahnung, in welch existenzieller Weise Meier auf diesen Auftrag eben doch angewiesen war. Der Schreiber Dieter Meier hätte sonst aufgehört, zu existieren. Er schrieb ja nicht einfach für sich selber, aus sich selbst heraus, für die Kunst an sich. Es war nötig, dass ein anderer etwas von ihm verlangte.

Er liefert Rap, "weil ich nicht singen kann"

1976 bekam er die erste Einzelausstellung im Zürcher Kunsthaus, „normalerweise eine Alterserscheinung“, aber Meier war erst 30. Sein erster Gedanke: „Was für ein Glück für meine Eltern. Das Dieterchen ist jetzt Künstler.“ Er tat etwas. Es war Kunst. Erleichterung machte sich breit. Na klar, sagt der 71-jährige Dieter jetzt in der Galerie. „Was immer man in den Kunstbereich hineinkickt: Die Rationalität des Tuns ist zurückgeholt.“

Als er 1972 zur Documenta gebeten wurde – „Oh, wie schön für meine Eltern!“ –, ließ er am Kasseler Hauptbahnhof eine Metalltafel einbetonieren: „Am 23. März 1994 von 15.00 – 16.00 Uhr wird Dieter Meier auf dieser Platte stehen“. 22 Jahre später stand er tatsächlich dort. Hunderte Zuschauer waren gekommen. Vielleicht waren es auch deshalb so viele, weil er mit Yello längst bekannt geworden war.

Von den 80ern ist ja nicht so viel geblieben, aber die treibenden Elektrosounds, in denen man sich verlieren konnte, bis das irgendwann Techno hieß, die sind noch da. Meier hatte Boris Blank in einem Plattenladen kennengelernt, der mit Geräuschen und Samples experimentierte. Blanker Zufall natürlich. Meier lieferte die Texte zu diesen Stücken. Sie nahmen zu der Musik Collagen auf – Musikvideos, noch bevor es das Genre gab. In New York wurden sie als Rap gefeiert, „dabei habe ich bloß nicht singen können“, sagt Meier und stapelt tief.

Später kaufte er Passanten in New York für einen Dollar auf der Straße ein „Yes“ or „No“ ab. Als er dafür Quittungen ausstellte, kam die Polizei: „That’s not for us, let’s get the special department“. Meier amüsiert sich noch heute darüber.

Finanziell unabhängig sind viele. Aber wer schafft es dabei schon, wirklich frei zu sein? Das ist die wahre Herausforderung hinter dem Erfolg des Dieter Meier.

Kunststück: Wenn Dieter Meier auf dem Billardtisch des Lebens an eine andere Kugel stößt, ändern beide ihre Bahn. Meier empfindet die Macht des Zufalls, sein „Geworfensein in die Welt“ viel stärker als andere Menschen. Was er tat, sieht im Nachhinein wie Notwehr aus: Er wollte nicht an der Zufälligkeit des Lebens verzweifeln. Deswegen hat Meier den Zufall vor seinen Karren gespannt. Seitdem bedroht er ihn nicht mehr. Er steht nicht mehr in Konkurrenz zu seiner Absicht. Der Zufall ist nicht mehr des Künstlers Feind. Die beiden sind Komplizen. So als wäre der Zufall eine große Naturgewalt und Meier ein Ingenieur, der sich nicht von den Wellen bedrohen lässt, sondern stattdessen ein Wasserkraftwerk baut.

Eine Rinderfarm, eine Kaffeeplantage, eine Restaurantkette

Er drückt zum Beispiel in „Kinderknet“, wie der Schweizer sagt, willkürlich Formen und schaut, ob er darin etwas erkennt. Er sieht sich nicht als Schöpfer, sondern als Entdecker. Manchmal sehen ihn plötzlich Gesichter an. Die Knetfiguren fotografiert er dann. Auf einer Auktion in New York bezahlte Lady Gaga für das Bild einer solchen 20 000 Dollar.

Und während Meier auf diese Art auch Teil des Kunstmarktes wurde, sah er zugleich, wie der funktioniert. Künstler werden ja in einer Nahrungskette bewertet, die gut von diesen Künstlern lebt, sagt Meier. Der Kunstmarkt, „kreiert die ganze Zeit self-fulfilling prophecies, das ist wie Geld drucken“. Und je irrationaler die Kriterien sind, nach denen Kunst bewertet wird, desto mehr Macht haben die Leute mit Deutungshoheit. Und so ist es eine Provokation, wenn sich jemand in dieser Welt bewegt, darin Erfolg hat, ohne von ihr abhängig zu sein.

Dieter Meiers Leben ist eine Feier des Jetzt: Eine ausschließliche, totale Konzentration auf die Gegenwart, die erlaubt, dass für diesen Moment alles andere verschwindet. Das Pokerspiel, Golfspiel, das Treibende gesampelter Musik und Zen sind Gelegenheiten zu Flow und Trance. Absorbierend wie Flamenco, dessen Sängern er eine Weile fasziniert hinterhergereist ist. Es sind auf eine Art totale Momente. Und in abgeschwächter Form ist auch ein Gespräch ganz Gegenwart.

Meier nimmt auf einem der Kuhfell-Stühle in der Galerie Platz und stürzt sich hinein: Er spricht über den Dandy und die Disziplin, die es braucht, um eine Form aufrechtzuerhalten. Sich überhaupt eine zu geben. Dass der Dandy als Geck missverstanden wird und er selbst als Dandy im ganz falschen Sinn. Er spricht von seiner Rinderfarm, der Kaffeeplantage in der Dominikanischen Republik und wie er auf der Suche nach einer Kakaoplantage war. Er spricht über die verschiedenen Grade von Einsamkeit in Patagonien, Detailwissen auf nur vermeintlich abgelegenen Gebieten schimmert durch: Es geht um Schafschur und die Kunst der Kaffeeernte, die er sich von einer Wildkatze abgeschaut hat.

Zurzeit baut er in der Schweiz eine Schokoladenfabrik auf, die mit einem neuartigen Kalt-Extraktionsverfahren aus der Kakaobohne arbeitet, ein deutscher Wissenschaftler hat das entwickelt. Die Schokolade muss eine wahre Aromabombe sein.

Der Galerist wird unruhig, am Abend ist die Vernissage und Meier soll noch ein paar Bilder und Archivkästen arrangieren. Aber Meier ist im Fluss. Er erzählt, wie er einen Wissenschaftler kennenlernte, der die natürlichen Abwehrkräfte von Kakaopflanzen erforschte. Ein riesiger Zufall, wie er plötzlich diese Koryphäe auf dem Gebiet der Pflanzenforschung traf, als er bloß auf der Suche nach einem Ferienhaus war. Meier sprüht Details. Meier ist drin. Die Plantage existiert. Meier lebt.

Werdet wie die Kinder, sagt er, das ist für ihn ein Aufruf zur Anarchie. Sein Verständnis von Kunst. Man müsse nur der werden, der man ohnehin schon ist. Und es ist dumm, Grenzen zu ziehen zwischen Kunst und Nicht-Kunst.

Die vier Konzerte, die 38 Jahre nach Gründung von Yello ab 26. September live im Kraftwerk Berlin geben werden, sind längst ausverkauft. Am 30. September erscheint das neue Album „Toy“, laut Boris Blank: „To the future through the past“– Durch die Vergangenheit in die Zukunft. Eine zweite Filiale von Meiers Restaurants „Ojo de Agua“ in Berlin, wo er das Bio-Fleisch von seinen argentinischen Rindern verbrät, steht kurz vor der Eröffnung. Die Ausstellung in der Galerie Judin läuft noch bis zum 29. Oktober.

Doch an diesem Sonntag wird Meier am Zürcher Hauptbahnhof sein. Natürlich handelt es sich wieder um ein völlig zufällig gewähltes Datum. Er wird eine vergoldete Holzkugel aus einem beleuchteten, eigens dafür gebauten Schacht in der Bahnhofshalle befreien und sie durch die Innenstadt rollen lassen. In 100 Jahren, so hat er bestimmt, soll sie nur acht Mal rollen.

Aber die Leute kommen nicht nur wegen einer Holzkugel. Sie wollen Dieter Meier sehen. Es handelt sich um etwas ganz Seltenes, eine echte Provokation in der westlichen Welt: einen wirklich freien Menschen.

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