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Dr. Om: Kleine Meditationen über die großen Fragen des Lebens - Folge 4

"Wenn ich meine Eltern mal wieder treffe, merke ich, wie schwer es mir fällt, ein richtiges Gespräch zu führen. Wir streiten nicht, aber wir haben auch keine richtige Verbindung zueinander. Muss ich das aushalten?"

Es gibt einen buddhistischen Witz: Wann immer sich ein Mönch sicher fühlt, sein eigenes Ego besiegt zu haben, sagt sein Lama ihm, dass er seine Familie besuchen soll. Es ist nun mal so: Bei vielen weckt der Kontakt besonders mit unseren Eltern hohe Erwartungen und kann daher oft zu Frust führen. Denn es ist ja tatsächlich traurig, dass Sie sich in der Gesellschaft Ihrer Familie entfremdet fühlen, während Sie sich eigentlich wünschen, ein Gefühl von Zugehörigkeit zu verspüren. Was aber können Sie dagegen tun?

Der bengalische Lehrer Atischa (982-1054) empfahl eine tiefgründige Meditation, um ein Bewusstsein für die Güte unserer Eltern zu erreichen. Dieses Bewusstsein erfüllt unser Herz mit warmherziger Dankbarkeit und dem Wunsch, unseren Eltern all das zurückgeben zu können, was sie für uns getan haben. Wenn Sie also in einer gesunden Familie aufgewachsen sind, denken Sie über Folgendes nach: Als Sie ein Baby waren, das allein nicht hätte überleben können, haben Ihre Eltern alles getan, um Ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Über viele Jahre sorgten sie dafür, dass Sie ein sicheres Zuhause, genug Essen, Kleidung, Bildung und ein glückliches Leben hatten. Dafür mussten sie viel Geld ausgeben und lange arbeiten. Vielleicht haben Ihre Eltern in mancher Hinsicht auch versagt, das kann sein. Aber selbst dann sollten Sie zu schätzen wissen, dass es nur Ihren Eltern zu verdanken ist, dass es Sie gibt.

Letztlich geht es bei dieser Meditation darum, eine herzliche Dankbarkeit gegenüber jedem Wesen auf der Welt zu entwickeln. Da Buddhisten an die Wiedergeburt und die Ewigkeit des Universums glauben, folgert Atischa, dass jeder Mensch, dem wir heute begegnen, einst unser Vater oder unsere Mutter und daher gütig zu uns war. Wir sollten deshalb jedem Menschen alles Glück der Welt wünschen.

Doch zurück zu Ihren Eltern: Die besondere Verbindung zwischen Ihnen und Ihren Eltern steht und fällt nicht mit dem, worüber Sie miteinander sprechen können. Es ist eine Verbindung lebenslanger Verantwortung, Fürsorge und Zuwendung. Wenn Sie Ihre Eltern besuchen, versuchen Sie, Ihre Erwartungen loszulassen und stattdessen Dankbarkeit in Ihrem Auftreten und Ihren Worten zu leben. Für Ihre Eltern, aber irgendwann auch für Sie, wird diese einen Weg ebnen, sich wieder glücklich und verbunden zu fühlen.

Oren Hanner,1979 in Jerusalem geboren, studierte Philosophie in Tel Aviv und promovierte in Buddhismuskunde an der Uni Hamburg. Schicken Sie Ihre Frage an om@tagesspiegel.de

Oren Hanner

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