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Kolumne "Menschenmuseum": Wann kommen die Wellen?

Auf und ab und auf: Dirk Gieselmann legt sich mit dem Bademeister an.

"Wann kommen die Wellen?“ Das ist eine schöne Frage. Jedenfalls, wenn man dabei ans Meer denkt: Dann erinnert sie an die Ungeduld des Kindes, das eine Sandburg gegen die Flut errichtet hat und jetzt sehen möchte, ob sie standhält. Es gibt sich den Gezeiten hin wie schließlich auch dem Schlaf am Ende eines langen Tages am Strand. Der Vater trägt es ins Bett, es seufzt noch einmal, gute Nacht, Papa, ich hab dich lieb, und aus der Summe solcher Tage entsteht irgendwann das Bild einer glücklichen Kindheit, in dem all jene Tage, an denen man frierend an der Bushaltestelle stand, keine Rolle mehr spielen.

„Wann kommen die Wellen?“ Das ist, im Grunde genommen, eine kitschige Frage, die man nur in einer heilen Welt stellen sollte. Nicht jedoch in Berlin.

„Wann kommen die Wellen?“ Das kann in dieser Stadt auch eine schlechte, unverschämte Frage sein. Jedenfalls, wenn man sie an einen Berliner Bademeister richtet.

Ich hatte die unverschämte Fahrlässigkeit besessen, an einem Mittwochabend mit drei Kindern das Spreewaldbad in Kreuzberg aufzusuchen. Dessen Attraktion ist, eingelassen in einen Hügel am Rande des Görlitzer Parks, das Wellenbad.

„Wann kommen die Wellen?“, fragten dann auch bald die Kinder, als ihnen die Rutsche zu fad geworden war. Ich wandte mich an den vorbeischlappenden Bademeister.

„Entschuldigen Sie, wann kommen die Wellen?“

„Kuckn Se aufs Schild.“

„Können Sie es mir nicht sagen?“

„Aufs Schild sollnse kuckn, Mann! Red ich Chinesisch oder wat?“

Kopfschüttelnd schlappte er davon, ans andere Ende des Beckens, nicht etwa, um sich dort das Polohemd vom Leib zu reißen, ins Wasser zu hechten und ein Leben zu retten, sondern um sich auf einem Gartenstuhl niederzulassen, eine durchaus gemütlich aussehende Fläzhaltung einzunehmen und auf seinem Mobiltelefon herumzutippen. Er schmunzelte dabei geradezu aufreizend versonnen.

Ich schaute unterdessen auf das Schild, eine ausgedruckte Tabelle in Klarsichtfolie, ich sah einen 45-Minuten-Rhythmus, ich wartete, mit den Kindern planschend, auf den nächsten Wellengang, ich warf sie, als er endlich einsetzte, in die Fluten, ich trocknete sie ab, gab ihnen zur Stärkung Kekse und Bananen, ich ließ mir nichts anmerken, dachte aber die ganze Zeit über an den Bademeister und daran, wie ich es ihm heimzahlen könnte.

"Ick erziehe Sie. Wat dagegen?"

Es erschien mir das Beste, ihn dumm zu nennen, ohne ihn dumm zu nennen, und dann wäre die Sache erledigt. Als ich auf dem Weg zur Umkleidekabine an dem Gartenstuhl vorbeikam, auf dem er immer noch herumhing, sagte ich also zu ihm: „Die Wellen kommen alle 45 Minuten. Das ist gar nicht so schwer zu merken. Sie schaffen das schon!“

„Wat is los?“

„Die Wellen kommen alle 45 Minuten.“

„Weeß ick.“

„Warum haben Sie es mir dann nicht gesagt?“

„Weil ick Sie zur Selbständigkeit erziehen will.“

„Bitte was?“

„Ick erziehe Sie. Wat dagegen?“

„Und ob ich was dagegen habe!“

Ich versuchte, die Faust in der Tasche zu ballen, hatte aber keine Tasche, ich trug ja nur eine Badehose. Ich war laut geworden, meine Worte hallten in der fast menschenleeren Halle, zwischen Plastikpalmen und Fußpilzdesinfektionsbrause. „Ist was passiert?“, fragte das erste Kind. „Was hat der Mann?“, das zweite. „Ich will jetzt Pommes!“, sagte das dritte. Lange durfte das hier nicht andauern, sonst würde ich mich als halbnacktes Rumpelstilzchen in ihr Gedächtnis einbrennen.

„Ich habe nicht siebzehn Euro fünfzig bezahlt, um mich von Ihnen erziehen zu lassen.“

„Willste Streit oder wat? Kannste haben, Freundchen.“

Er stand nun auf, und ich merkte sofort, dass Berliner Bademeister nicht sonderlich groß sein müssen, um deutlich zu machen, wer im Besitz des Hausrechts ist, eine dachsartige Kompaktheit reicht dazu vollkommen aus. Ich schnappte nach Luft wie ein sterbender Barsch. „Das gibt's doch nicht“ war alles, was ich noch herausbrachte und: „Kommt, Kinder, wir gehen!“

Unter der Dusche sah zum Glück niemand, dass ich vor Wut weinte. Und auch vor Sehnsucht nach dem Meer.

Dirk Gieselmann, 1978 in Diepholz bei Bremen geboren, schaut mit einer Mischung aus Faszination und Fluchtreflex auf die Welt. In dieser Kolumne im Magazin "Tagesspiegel BERLINER" erzählt er davon.

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