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Die Ruine des World Trade Centers. Die Anschläge im September 2001 in den USA wurden vor allem in der arabischen Welt auch als Initialzündung für eine weltweite antisemitische Mobilisierung verstanden.

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Antisemitismus: Doppelte Bedrohung

Seit den Anschlägen von 9/11 sind nicht nur Islamisten und Rechtsextremisten eine Gefahr, sondern auch schweigende Demokraten.

Antisemitismus ist eine Verbindung von Weltanschauung und Leidenschaft. Er wird zugleich vom Verstand als auch von Emotionen gesteuert, das erkannte Jean-Paul Sartre schon 1945. Antisemitische Einstellungen seien geprägt von Ressentiments und Affekten, die gegen Jüdinnen und Juden gerichtet sind, die sich gegenseitig durchdringen und die vor allem gespeist werden aus Projektionen und Hass.

Der Antisemit glaubt sein Weltbild nicht obwohl, sondern weil es falsch ist: Es geht um den emotionalen Mehrwert, den der antisemitische Hass für ihn bedeutet. Deshalb muss man den Blick auch auf die antisemitischen Unterstellungen richten, die immer ein Zerrbild vom Judentum entwerfen, das letztlich eben ein „Gerücht“ ist, wie es schon bei Theodor W. Adorno hieß. In der Geschichte haben sich diese Gerüchte stets verändert, Antisemiten haben sich angepasst – so etwa nach 1945, als der offen rassistische NS-Vernichtungsantisemitismus politisch diskreditiert war und Antisemiten nun einen neuen „Schuldabwehrantisemitismus“ entwickelten. Dieser machte nun die Opfer verantwortlich für die Störung der deutschen Nationalerinnerung: nach dem Massenmord folgte dessen Verleugnung in Form einer Täter-Opfer-Umkehr.

Ein wichtiger Wendepunkt in der Geschichte antisemitischer Ressentiments waren die islamistischen Terroranschläge vom 11. September 2001 (9/11), die nicht nur den USA, sondern der gesamten freien Welt und der aufgeklärten Moderne galten. Sie waren aber auch, wie Osama bin Laden stets betont hat, in zentraler Weise antisemitische Anschläge – denn Jüdinnen und Juden stehen in der islamistischen Lesart für alles, was gehasst wird. So wurde 9/11 vor allem in der arabischen Welt auch als Initialzündung für eine weltweite antisemitische Mobilisierung verstanden, die aber nicht nur auf radikalislamische Gruppierungen beschränkt blieb.

Der Kampf gegen Antisemitismus ist stets auch ein Kampf um die Demokratie

Versucht man vor diesem Hintergrund den Antisemitismus seit den Anschlägen von 9/11 zu systematisieren, fallen mindestens drei Momente auf: seine Entgrenzung, seine Trivialisierung und seine Bagatellisierung. Was heißt das? Die Entgrenzung sah man exemplarisch im Sommer 2014, als unter Federführung von palästinensischen Organisationen in zahlreichen deutschen Städten Antisemiten aller Couleur gemeinsam demonstriert haben – neben islamistischen Antisemiten auch deutsche Neonazis und linke Antiimperialisten. Sind diese Antiimperialisten auch nur ein marginaler Flügel in der deutschen Linken – die Mehrheit steht nach wie vor in Opposition zum Antisemitismus – so zeigt das Beispiel eine Entgrenzung, bei der das antisemitische Weltbild so zentral geworden ist, dass alle anderen weltanschaulichen Differenzen zurücktreten.

Hieran schließt sich die Trivialisierung an: die heute dominante Form richtet sich gegen Israel, nur allzu gern versuchen Antisemiten sich hinter der Formel, dass Israelkritik doch nicht Antisemitismus sei, zu verstecken und auf diese Weise Antisemitismus zu trivialisieren. Dabei ist der Unterschied leicht zu erkennen: wenn der israelische Staat delegitimiert werden soll, seine Politik dämonisiert wird, oder wenn doppelte Standards bei der Bewertung israelischer Politik angelegt werden, handelt es sich nicht um Kritik, sondern um Antisemitismus. Wer heute als Antisemit behauptet, er werde nur von der Kritik zu einem solchen „gemacht“, trivialisiert ihn.

Schließlich die Bagatellisierung: Antisemiten wenden sich nicht nur gegen Jüdinnen und Juden, sondern gegen alles, was die moderne, aufgeklärte Welt kennzeichnet: gegen Freiheit und Gleichheit, Urbanität und Rationalität, Emanzipation und Demokratie. Deshalb ist der Kampf gegen Antisemitismus stets auch ein Kampf um die Demokratie. Jüdische Kritik wird oft einfach vom Tisch gewischt, als sei nicht der Antisemitismus das Problem, sondern die, die von ihm betroffen sind. Insofern ist die antisemitische Bedrohung seit 9/11 gerade in Europa auch eine doppelte: einerseits durch den virulenten islamistischen und rechtsextremen Terrorismus, andererseits aber auch durch das oft viel zu laute Schweigen der Demokraten.

Der Autor ist Politikwissenschaftler und Gastprofessor am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin.

Samuel Salzborn

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