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Flucht und Migration sind seine Themen. Der chinesische Künstler Ai Weiwei ist seit Oktober 2015 als Einstein-Gastprofessor an der UdK Berlin tätig.

© Matthias Heyde

Ai Weiwei an der UdK: "Ich glaube nicht an den Urknall"

Der chinesische Künstler Ai Weiwei, Tagesspiegel-Kulturautor Peter von Becker und der Präsident der UdK Berlin Martin Rennert im Gespräch über Kunst, ihre politische Dimension und über die Frage, ob man sie lehren kann

PETER VON BECKER: Ai Weiwei, wir wären uns schon einmal fast begegnet, das war bei Ihrer Festnahme 2011. Ich war unter den Journalisten, die am Pekinger Flughafen gerade von der Ausstellung „Die Kunst der Aufklärung“ abreisen wollten. Wir wussten nicht, was nur wenige Meter entfernt von uns geschah, und waren schockiert, als wir später davon erfuhren. Im Juli vergangenen Jahres konnten Sie China verlassen und leben seitdem in Berlin. Sind Sie hier inzwischen mit anderen Künstlern, Lehrenden oder Intellektuellen vernetzt?

AI WEIWEI: Das würde ich nicht sagen. Wir beide (zeigt auf Rennert) haben uns ein paar Mal getroffen. Aber meine Tage in Berlin sind sehr voll, und ich bin viel unterwegs.

PETER VON BECKER: Wie sieht ein typischer Berliner Tagesablauf bei Ihnen aus?
AI WEIWEI: Ich stehe um 6.30 Uhr auf. Als erstes schaue ich, ob es Anfragen meiner Teams gibt. Derzeit laufen circa zehn Projekte parallel in China und in Deutschland. Dann mache ich Frühstück und versuche meinen Sohn zu wecken, das ist immer ein Kampf (lächelt). Gegen 7 Uhr steht er auf, wir frühstücken, und dann bringe ich ihn zur Schule. Von dort aus laufe ich ins Studio, und um 9 Uhr beginnt dort die Arbeit.

PETER VON BECKER: Woran arbeiten Sie derzeit?
AI WEIWEI: Ich beschäftige mich intensiv mit dem Thema Migration und Flucht, sowohl mit meinem Team als auch mit den Studenten. Unser Team war an möglichst vielen Orten, um hunderte Gespräche zu führen, mit Politikern, Priestern, Schmugglern, Geflüchteten, Totengräbern, mit allen, die wir treffen konnten.

PETER VON BECKER: Wo war das?
AI WEIWEI: Wir waren in Berlin, auf Lesbos, in Idomeni, in der Türkei, an der syrischen Grenze, zuletzt in Israel, an der Westbank und in Gaza. Derzeit planen wir in verschiedene afrikanische Länder, in den Irak und nach Syrien zu reisen. Die Zustände sind unfassbar, es ist nicht zu beschreiben. Das Leben im Lager kommt dem im Gefängnis sehr nah. Der Unterschied ist, dass die Menschen halb freiwillig nach Europa kommen – wenn man das unter den jeweiligen Umständen freiwillig nennen kann. Natürlich kann Europa nicht alle Menschen aufnehmen und ihre Hoffnungen erfüllen. Die Erwartungen sind sehr gering: Schule, Arbeit, Sicherheit. Das ist nicht viel, und doch weit von der Realität entfernt.

PETER VON BECKER: Haben Sie die Studenten bei diesen Besuchen mitgenommen?
AI WEIWEI: Mit den Studenten habe ich bislang nur in Berlin gearbeitet. Ich denke, dass die Studenten erst forschen sollten, bevor sie ein Lager besuchen. Das Lager ist eine verwirrende Situation. Ich selbst werde zu emotional, wenn ich dort bin.
MARTIN RENNERT: Aus meiner Sicht ist das Verdichten von Wissen ein wesentlicher, wenn nicht sogar der zentrale Aspekt der Lehre. In der von Ihnen beschriebenen Situation, im Lager, direkt vor Ort sieht man ohne Distanz. Reflexion ist dann kaum möglich. Die aktuelle politische Entwicklung stellt im Übrigen auch Universitäten wie die unsere vor grundsätzliche Fragen. In der zunehmenden Komplexität der Welt muss auch ich mich immer wieder vergewissern, dass das, was wir tun, wichtig ist. Ein Beispiel: Wäre ich ein Busfahrer, dann wäre die Sache einfach: Ich fahre den Bus, damit die Menschen zur Arbeit kommen und zurück. Klares Ziel, klarer Zweck. Doch es bedarf vieler komplexer Gedankengänge, um zu verstehen, warum es gerade heutzutage unabdingbar ist, Institutionen wie die meine zu führen und zu erhalten.

PETER VON BECKER: Sind diese Gründe in Kürze zu benennen?
MARTIN RENNERT: Institutionen wie die Universität der Künste Berlin geben den Menschen – und damit meine ich nicht nur unsere Studenten – die Möglichkeit der Selbstvergewisserung. Junge Künstlerinnen und Künstler zu unterrichten bedeutet, ihnen zu ermöglichen, eine eigene Sprache zu finden. Eine Sprache, die wiederum ihnen und anderen hilft, neue Erkenntnisse über sich und die Welt zu erlangen. Das mag, verglichen mit dem, was Ai Weiwei schildert, abgehoben klingen. Aber es ist eminent wichtig, Fragen zu stellen und unter Umständen Antworten zu finden. Für die Musik, und ich bin ja Musiker, ist dies im Übrigen noch schwieriger als für die Bildende Kunst. Denn wenn Sie täglich Bach spielen, dann mag es, oberflächlich gesehen, in Anbetracht der Weltlage wirken, als wären Sie verrückt.

PETER VON BECKER: Herr Rennert sprach von Verdichtung des Wissens. Im deutschen Wort „Dichtung“ steckt das Wort dicht. Literatur und darüber hinaus alle Kunst kann also als Steigerung und Verdichtung des Wesentlichen verstanden werden. Gilt das auch für Sie, Ai Weiwei? Oder sehen Sie Kunst als eine Vereinfachung?
AI WEIWEI: Kunst betätigt sich in beiden Richtungen. In der Vereinfachung, aber auch in den dunkelsten und schwierigsten Ebenen, die selbst Philosophie oder Wissenschaft in der Tiefe nicht erschließen können. Sie behandelt unsere Emotionen, aber dringt gleichzeitig in Bereiche vor, die unsere Rationalität nicht erreichen kann. Vielleicht könnten Sie das auch Vereinfachung nennen. Wie zum Beispiel den Beginn des Universums. Hier können wir keine weitere Erklärung geben, also haben wir uns auf die Theorie des Urknalls geeinigt. Ich bezweifle das.

Peter von Becker (links) war bis 2005 Leiter der Tagesspiegel-Kulturredaktion und ist dort heute Kulturautor. Er ist Honorarprofessor der UdK Berlin und unterrichtet im Studiengang Kulturjournalismus. Martin Rennert (Mitte) ist klassischer Gitarrist, seit 1985 Professor an der UdK Berlin und seit 2006 deren Präsident.
Peter von Becker (links) war bis 2005 Leiter der Tagesspiegel-Kulturredaktion und ist dort heute Kulturautor. Er ist Honorarprofessor der UdK Berlin und unterrichtet im Studiengang Kulturjournalismus. Martin Rennert (Mitte) ist klassischer Gitarrist, seit 1985 Professor an der UdK Berlin und seit 2006 deren Präsident.

© Matthias Heyde

PETER VON BECKER: Sie bezweifeln den Urknall?
AI WEIWEI: Selbstverständlich. Ich bin Künstler, und als Künstler zweifle ich an jeder Form von abschließender Erklärung. Aber wir müssen das Gegebene akzeptieren. Denn wenn man selbst keine bessere Vereinfachung bieten kann, sollte man diese annehmen. Diese kann auch Kunst sein.

MARTIN RENNERT: Ai Weiwei, mich interessiert sehr, wie Sie Lehre wahrnehmen. Wie unterscheidet sich aus Ihrer Sicht die heutige Form des Studiums von der, die Sie erfahren haben?
AI WEIWEI: Die Lehre, und damit auch die Funktion des Lehrers, hat sich in den letzten zehn bis 15 Jahren grundsätzlich verändert. Mit dem Internet ist der Zugang zu Informationen ein völlig anderer geworden. Jeder kann sich leicht und jederzeit über mehr oder minder alles im Internet informieren. Das führt dazu, dass die Neugier und der Hunger nach Informationen nachlassen, auch bei den Studenten. Aber es bedarf einer tiefen Kenntnis, um die Informationen zu sortieren und um abzuwägen, was Gültigkeit hat und was nicht. Aber wie kann man dies von jungen Menschen erwarten, die nicht genug Kenntnis über das Leben haben, denn das Leben hier ist ziemlich bequem. Früher gab es ein Ereignis, dem man sich in Ruhe widmen konnte. Heute sieht man in einer Minute die Welt auf dem Handy, im Fernseher, in der Zeitung. Da ist es ist sehr schwer, die Aufmerksamkeit zu halten und für ein Thema ein wirklich tiefes Verständnis zu entwickeln.
MARTIN RENNERT: Was neu ist, ist die Kürze der Informationen und ihre Qualität. Nicht jede Quelle ist verlässlich. Wir sind konfrontiert mit kurzen, bruchstückhaften, sehr stark vereinfachenden und dadurch verzerrenden Informationen. Eine Handlungsaufgabe der Universitäten heute besteht darin, den Studenten ein Bewusstsein dafür zu vermitteln, dass Zusammenhänge komplexer Natur sind und eine entsprechend profunde Auseinandersetzung mit großen Themenkomplexen notwendig ist. Unsere Aufgabe ist es, Studenten durch die Fülle zu leiten.
AI WEIWEI: Für mich heißt Studieren, sehr gründlich zu untersuchen, was Wissen heutzutage wirklich bedeutet. Es bedeutet eben nicht, Antworten einfach anzunehmen. Doch es scheint an Geduld zu fehlen. Und Geduld braucht man für jede Form des Studiums. Geduld und eine bestimmte Haltung, die einen in den richtigen Geisteszustand versetzt.

PETER VON BECKER: Der wohl größte Schock für unsere Gesellschaft wäre vielleicht ein Abbruch des unablässigen Informationsflusses, eine plötzliche Stille in all diesem Rauschen. Wie versuchen Sie diese Konzentration auf die wesentlichen Fragen herzustellen?
AI WEIWEI: Wie gesagt, wir beschäftigen uns mit dem Thema Migration und Flucht. Wir betrachten intensiv die verschiedenen Aspekte – historisch, soziologisch, medial, politisch. Ich bitte die Studenten, klare Sätze zu formulieren und sich sicher zu sein, Begriffe zu nennen, die sie wirklich verstehen, für die sie eine klare Definition haben, die sie in all ihrer Komplexität durchdringen. Diese Vorgehensweise ist für viele von ihnen neu.

PETER VON BECKER: Aber dann geht es im nächsten Schritt auch um die künstlerische Umsetzung?
AI WEIWEI: Dem geht die Frage voraus, was genau Kunst ist. Handelt es sich um eine soziologische Studie oder politische Analyse, eine Aussage, Geste oder Haltung? Aber ab wann wird es Kunst? Das ist nicht nur für die Studenten, sondern auch für mich eine Herausforderung. Man muss sich mit dem Thema konfrontieren, mit seinem Herzen, seinen Augen, seinen Gefühlen, seinem Urteil und seinem Wissen und alles Bestehende betrachten, um sich sehr sicher zu sein. Seit ich sechs Jahre alt war, beschäftigt mich dieses Thema. Ich habe meine Kenntnis aus China mit der kommunistischen Gesellschaft, meiner Vergangenheit und der Situation meines Vaters. Wir waren Flüchtlinge, als ich aufwuchs. Mein Vater war in Paris im Exil. All das kommt zusammen. Und wenn ich Glück habe, kommt es zu einer Sprache zusammen, die ich als Kunst sehe, aber vielleicht niemand sonst. Aber vor allem muss es ehrlich sein. Es ist schwierig, mich in die Situation eines heutigen Flüchtlings zu versetzen. Man kann nicht so tun als wäre man einer. Es ist ein sehr besonderer Zustand. Aber man kann da sein, um es sich vorzustellen.
MARTIN RENNERT: Ab wann ist etwas Kunst – das zu definieren, und zwar über die Jahrhunderte hinweg, ist fast unmöglich. Genauso unmöglich ist es, jemandem beizubringen, ein Künstler zu sein. Am Ende geht es darum, den Studenten genug Zeit zu geben um zu verstehen, was ihre eigene Position sein kann – im Verhältnis und in Abgrenzung zu denjenigen, die sie kennen, lieben, hassen.
AI WEIWEI: Ich sehe das wie einen gemeinsamen Gang durch einen Wald. Man macht gemeinsam Erfahrungen, stößt an Grenzen, und ich als Lehrer habe die Erfahrung und das Wissen, das die Sache vielleicht ein wenig leichter macht. Laufen müssen alle selbst, aber als Lehrer ist man da und kann Vertrauen geben. Oder Widerspruch hervorrufen und den einen oder anderen veranlassen, in eine andere Richtung zu gehen.

PETER VON BECKER: Das erinnert mich an eine Begegnung mit dem Schriftsteller Tankred Dorst, der an der UdK als Professor gelehrt hat. Ich habe ihn einmal gefragt, was seine begabteste Studentin besonders gemacht habe, und er antwortete: „Sie machte immer genau das Gegenteil von dem, was ich ihr geraten habe.“
AI WEIWEI: (lacht) Ich sagte mal, dass Kunst nicht gelehrt werden kann, sondern nur „entlehrt“. Es ist wichtig, Kenntnis und Vertrauen zu vermitteln, denn die Studenten müssen sich alle noch als Künstler finden. Es ist ein wenig wie auf dem Markt. Man kann an den Ständen entlanglaufen und einfach hier und da etwas greifen. Oder aber man weiß, wo die Früchte herkommen, welchen Nährwert sie haben, wie sie schmecken, wie man sie zusammenstellt und was für ein Essen dabei herauskommt – italienisch, asiatisch, deutsch. Das, denke ich, kann Bildung erreichen.

MARTIN RENNERT: Ich möchte auf den Begriff „Zweifel“ zurückkommen. Ist nicht Zweifel, und auch Selbst-Zweifel, eine wichtige Voraussetzung für künstlerisches Schaffen? Zumindest habe ich das in meiner Zeit als Lehrender immer so gesehen.
AI WEIWEI: Wir leben in einer sich sehr schnell verändernden Welt, und das ruft große Verunsicherungen hervor. Der Kommerz hat sich dem sehr schnell angepasst, da gibt es so gut wie keine Selbstzweifel. Aber die Kunst, und auch die Politik, kommen nicht hinterher. Ich sehe hier wenig oder zumindest keine starke intellektuelle Kritik oder Selbstreflexion. Das ist gefährlich, vor allem für die so genannte westliche Welt. Wir leben sehr bequem, sehr modern und sehr liberal. Aber sehr zerbrechlich und starr. Wir spalten uns von der Gesamtheit der Menschheit ab – wir verstehen uns nicht als ein Ganzes. Diese Haltung wird immer zu Konflikten führen, wie etwa in der aktuellen Migrationslage.
MARTIN RENNERT: Ich denke viel über die Realität der jüngeren Generation nach und darüber, inwieweit sie sich von der meinen unterscheidet. Ich bin 61 Jahre alt und ich weiß, dass mein Blick auf die Welt ein völlig anderer ist als der eines heute 20-Jährigen. Und der wiederum unterscheidet sich stark von dem Blick, den ich als 20-Jähriger hatte. Mir stellt sich die Frage, ob vor dem Hintergrund all dessen, was wir hier besprechen, die Kürze und Schnelligkeit von Nachrichten, all das, ob die Verwirrung mehr die meine ist als die der jüngeren Generation. Ich persönlich bevorzuge meine Realität. Ich lese Bücher und liebe es, Zeitungen zu lesen. Ich brauche kein Twitter. Trotzdem weiß ich, dass die Menschen meiner Generation mit Sicherheit nicht schlauer oder selbstreflektierter sind als die Generation nach uns. Meine Töchter etwa haben eine völlig andere Sicht auf die Welt und schätzen meine Haltung oftmals als viel zu pessimistisch ein. Wir mögen die junge Generation durch den Wald führen, aber was wir nicht können, ist, ihre Perspektive einnehmen.
AI WEIWEI: Zum Glück hat jede Generation ihr eigenes Wissen, ihren eigenen Weg und ihre eigene Intelligenz. Und Künstler haben zu jeder Zeit ihren eigenen Weg gesucht, das Bestehende kritisiert, rebelliert, ihre Väter getötet und die eigene Position definiert. Aber das geht nur mit eigenem Wissen. Das Wissen der anderen ist fake. Es ist echt, aber eben nicht das eigene.

Aufgezeichnet von Claudia Assmann.

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