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Gustav-Mahler-Platz: Wo Enten flattern und Elektroautos flitzen

Ein beschaulicher Ort für stille Gedanken: der Gustav-Mahler-Platz an der Grenze von Steglitz zu Dahlem.

Ist das überhaupt ein Park? Es gibt alte Bäume, rot gestrichene Bänke, von allerlei Buschwerk eingefasste Rasenflächen und einen Tümpel mit schönen Trauerweiden, unter denen Brombeeren hervorwuchern. Und doch steht da eindeutig: Gustav-Mahler-Platz. Sogar zweimal. An der belebten Seite bei der Englerallee, eingemeißelt auf einem mannshohen Naturstein, und genau gegenüber, an der Haderslebener Straße, auf einem Emailleschild, das eine Metallsäule im Stil alter Berliner Gaslaternen krönt.

Doch, doch, sagt die nette Dame beim Bezirksamt, der Gustav-Mahler-Platz werde bei ihnen als Grünfläche geführt. 80 mal 90 Meter Naturterrain an der Grenze von Steglitz zu Dahlem, schon damals, um die Wende zum 20. Jahrhundert, von der Bebauung ausgenommen, als man weite Teile der ländlichen Domäne parzellierte und an Berliner verkaufte, die jottweedee wohnen wollten.

Reichlich Platz haben die Planer in dieser Gegend für Parks reserviert – und das, obwohl man hier eigentlich gar keine Auslaufflächen für die Bewohner braucht. Weil es eine feine Gegend ist, wo fast jeder seinen eigenen Garten hat. Mindestens tausend Quadratmeter sind das im Fall der trutzburgartigen Villa an der Nordwestseite des Gustav-Mahler-Platzes, die sich das bitterarme Benin als Botschaft leistet. Kaum kleiner dürfte das Grundstück der ungarischen Botschafterresidenz nebenan sein. Südlich geht das Parkgrün direkt in die Vegetation der angrenzenden Grundstücke über. Dunkle Limousinen stehen am Straßenrand, ein Lieferwagen mit der Aufschrift „Schwimmbad- und Saunabau“ rollt vorbei. An einer der Einfahrten glotzt dem neugierigen Flaneur ein Kameraauge vom Klingelbrett entgegen.

Es ist ein schöner, ein stiller Ort, dieser Gustav-Mahler-Platz. Nicht perfekt gepflegt, aber einladend, eine sichtbar von fachmännischer Hand rund um den kleinen Teich entworfene Anlage, mit vier Zugängen, einem leicht abschüssigen und einem ebenen, die an der Weggabelung jeweils auf eine Steinrosette münden, einer Treppe mit flachen Stufen und schließlich einer Rampe für Kinderwagen und Rollstühle. Das ist zielgruppengenau geplant, denn es sind einerseits die rüstigen Omas aus den umliegenden Straßen, die mit ihren Enkelkindern hierher zum Entenfüttern kommen, andererseits die weniger beweglichen Rentner aus der Seniorenresidenz in der Paulsenstraße, die den Park als nahes Ausflugsziel ansteuern. Die mit Grünspan überzogene Pumpe im Siebziger-Jahre-Design zeigt deutlich an, dass hier schon lange kein privates Kraftfahrzeug mehr mit der Hand gewaschen wurde. So wenig Verkehr gibt es hier, dass die Nachbarjungs ihre Elektroautos sogar über den Asphalt der Haderslebener Straße flitzen lassen.

Vielleicht, geht dem Flaneur durch den Kopf, während er in Richtung des nahen Botanischen Gartens blickt, vielleicht verdankt der kleine Mahler-Park seine Entstehung ja auch geologischen Gründen. Der Unebenheit des Terrains, die aus eiszeitlichen Fernen herrührt und eben nicht alle Flächen zur Bebauung mit Landhäusern geeignet macht. Dafür spricht, dass sich in fast allen Dahlemer Grünanlagen Teiche oder Tümpel finden. Im Triestpark ebenso wie im Thielpark zwischen dem „Schwarzen Grund“ und „Auf dem Grat“, der Dreipfuhlpark ist gar nach seinen mit Wasser gefüllten Erdvertiefungen benannt. Dahlem liegt am nördlichen Rand einer Grundmoränenplatte, unter dem periglaziären Decksand findet man hier vorwiegend Geschiebemergel, von den Gletschern hierher verfrachteten Gesteinsschutt. Einer der charakteristischen Drumlings, der Hügel in Walfischrückenform, den das abfließende Eis vor Jahrmillionen geformt hat, überwindet die Fortsetzung der Engleralle, die Altensteinstraße, an der Nordwestseite des Botanischen Gartens. Bei den Ausschachtungsarbeiten zum U-Bahnhof Thielplatz kam 1911 ein gigantischer, fast 1000 Zentner schwerer Findling zutage, den 15 Ochsen nicht von der Stelle zu bringen vermochten. Der kurze, aber recht steil abfallende Hügel im Park beim U-Bahnhof Podbielskiallee wiederum wird im Winter zur veritablen Rodelbahn.

Auch beim Gustav-Mahler-Platz senkt sich der Boden zum Tümpel ab, allerdings zu sanft für Schlittenfahrer. Seit dem 1. Dezember 1968 trägt dieses Fleckchen Südwestberlin den Namen des bedeutendsten Jahrhundertwende-Komponisten. Von wem kam wohl die Initiative, hier an den im Nationalsozialismus verfemten Künstler zu erinnern? Mehrere Sachbearbeiter beim Grünflächenamt Steglitz-Zehlendorf mühen sich redlich, die passenden Akten im Archiv herauszusuchen. Doch die Unterlagen bleiben unauffindbar – zu viele Umzüge hat die Behörde wohl schon hinter sich.

Seit 1903, soviel ist immerhin herauszubekommen, erhielt die Straße nördlich des Parks den Namen des Dichters Friedrich Rückert. Bis in die Sechziger verlief sie Richtung Rathaus Steglitz bis zur Paulsenstraße, dann wurde das Stück zwischen Haderslebener- und Brentanostraße als Bauland deklariert, für eine große Mietwohnanlage sowie elegante Einfamilien-Atriumhäuser. Damals kam es wohl auch zur Umbenennung der Grünfläche. Auf dem Stadtplan ist der Tümpel heute als „Rückertteich“ vermerkt, in der Anlage selber allerdings gibt es keinen Hinweis auf den Dichter. Mit Berlin hatten weder Gustav Mahler noch Friedrich Rückert viel am Hut. Der Komponist kam einige Male in die Reichshauptstadt, Teile seiner zweiten Sinfonie wurden hier unter seiner Leitung uraufgeführt. Rückert verbrachte mehrere Wintersemester in Berlin, nachdem er 1841 als Professor für orientalische Sprachen an die Humboldt Universität berufen worden war. Die Sommermonate, das hatte er sich ausdrücklich ausbedungen, durfte er in seinem Gut Neues bei Coburg verbringen. Mit der Berliner Art ist er nie richtig warm geworden, rechtzeitig vor den Barrikadenkämpfen der Märzrevolution kehrte er 1848 Preußen endgültig den Rücken.

Zehn Gedichte Rückerts hat Gustav Mahler vertont, darunter fünf aus der Sammlung der „Kindertotenlieder“, die der Dichter veröffentlichte, nachdem zwei seiner zehn Kinder verstorben waren. Der Komponist selber hatte sechs seiner elf Geschwister in jungen Jahren verloren. „Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen!“, heißt es in einem Lied. „Bald werden sie wieder nach Haus gelangen!/ Der Tag ist schön! O sei nicht bang!/ Sie machen nur einen weiten Gang!“

Als der Flaneur im Park an der Englerallee eine kleine, pitschnasse Socke im Gras liegen sieht, gleich neben der Bushaltestelle, läuft ihm ein kalter Schauer über den Rücken.

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